Überlastete Kliniken: Wer entscheidet im Extremfall, welche Patienten sterben müssen?
Noch reichen die Kapazitäten zur Behandlung von Corona-Patienten mit schwerem Verlauf. Ärzte warnen aber vor Überlastung und Triage.
Entscheiden Ärzte im sächsischen Zittau inzwischen, welcher Corona-Patient behandelt wird und welcher nicht, weil nicht genügend Kapazitäten zur Verfügung stehen? Das legen Aussagen des Ärztlichen Direktors des Klinikums Oberlausitzer Bergland (KOB) nahe. Aber ganz so einfach ist es nicht. In Anbetracht steigender Covid-Todesfälle überall im Land, bekommt das Thema aber neue Dringlichkeit.
Was bedeutet Triage?
Üblicherweise wird unter „Triage“ verstanden: Wenn Geräte, Medikamente, Personal nicht für alle reichen, müssen Patienten in Dringlichkeitsstufen eingeteilt werden. Das Wort stammt von „trier“ – französisch für „sortieren“: Patienten, deren Chancen auf Genesung besser sind, werden eher behandelt als jene, die schlechtere Chancen haben.
Allein der Begriff ist schon problematisch. „Priorisierung bei Mittelknappheit“ heißt die Triage im Amtsdeutsch. Landläufig wird damit „Sterbenlassen“ assoziiert. Ein Argument für eine Triage im Ernstfall ist, dass ohne sie oft letztlich noch mehr Personen sterben würden: Denn: Wenn ohne objektiv eingeschätzte Überlebenschancen einzubeziehen die Patienten zufällig ausgewählt werden, kann es sein, dass auch unter den gut Versorgten viele sterben und unter den weniger gut Versorgten auch jene, die ansonsten eine hohe Überlebenschance gehabt hätten.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hat Empfehlungen mit konkreten Kriterien entwickelt und diese – auf 14 Din-A-4-Seiten – im Frühjahr veröffentlicht. Dort heißt es „die Priorisierung von Patienten“ solle sich „am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren“. Sie dürfe sich aber nicht an Kriterien wie dem Lebensalter, das an sich und jenseits von Vorerkrankungen und aktuellem Gesundheitszustand noch nichts über die Erfolgsaussichten aussagt, festmachen. Auch Covid-Patienten dürften nicht gegenüber anderen priorisiert werden oder umgekehrt.
Noch relativ klar wirkt hier der Schritt, bei dem die Intensivtherapie Patienten, die nach Prüfung aller möglicher Kriterien „keine Überlebensaussicht“ haben, verwehrt wird. Deutlich komplizierter wird der Prozess, wenn die Ressourcen so knapp sind, dass nach unterschiedlich hoher Erfolgsaussicht differenziert werden muss.
Wird die Triage in Sachsen angewandt?
Der Ärztliche Direktor des KOB, Mathias Mengel, hatte offenbar in einem Online-Bürgerforum vor knapp hundert Menschen erklärt: In seinem Krankenhaus habe man mehrfach entscheiden müssen, welcher Covid-19-Patient noch mit Beatmungsgeräten versorgt wird. „Wir waren in den vergangenen Tagen schon mehrere Male in der Situation, dass wir entscheiden mussten, wer Sauerstoff bekommt und wer nicht“, sagte er dem Nachrichtenportal t-online. Seine Klinik in Zittau befindet sich im Landkreis Görlitz, dem aktuellen Coronavirus-Hotspot Deutschlands.
Nach Angaben des Zittauer Oberbürgermeisters Thomas Zenker, der in der Runde dabei war, sei die Brisanz der Aussagen Mengels zu spüren gewesen, berichtete die „Sächsische Zeitung“. Mit knapp zehn Intensivplätzen in Zittau seien bei den derzeitigen Erkrankungszahlen die Grenzen ohnehin rasch erreicht. Auf Nachfrage in der Videorunde habe Mengel dann betont, dass es vielfach vor allem um die Entscheidung gehe, wer von den Patienten für eine Verlegung infrage komme – also eine Chance habe, einen Transport von 300 Kilometern und mehr zu überstehen, betont Zenker.
Mathias Mengel selbst wollte sich am Mittwoch nicht zu den Aussagen in der Videokonferenz äußern. Das Klinikum bezog jedoch Stellung: „Alle Patienten, die in unsere Krankenhäuser kommen, erhalten die bestmögliche Therapie“, erklärte eine Sprecherin. Wenn man bei der Aufnahme von Patienten in den Corona-Stationen an Grenzen stoße, würden Patienten an umliegende Krankenhäuser ausgeflogen. Explizit darauf angesprochen, ob Patienten in der Folge verstorben seien, weil ihnen vor Ort als Folge einer Triage kein Intensivplatz zur Verfügung gestanden habe oder keine Sauerstoffgabe möglich war, betonte die Sprecherin: „Das ist in unserem Hause nicht vorgekommen.“
Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) bezeichnete die Triage-Äußerung als „Warnruf“, denn: „Wir wissen bald nicht mehr, wie wir die Patienten versorgen sollen.“
Wie ist die Situation in Berlin?
An den Krankenhäusern in der Hauptstadt muss nach Angaben von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) weiterhin nicht entschieden werden, welcher Corona-Patient auf Intensivstationen beatmet werden kann und welcher nicht. In Berlin machen mit dem Coronavirus-Infizierte derzeit 28 Prozent der Patienten auf Intensivstationen aus. Es sind noch mehr als 200 Intensivbetten frei, auch Beatmungsgeräte stehen zur Verfügung. „In Berlin reichen die Kapazitäten für die Versorgung der Covid-19-Patienten aus“, sagte Kalayci.
„Wir priorisieren im Alltag ständig, welcher Patient die oft knappen Intensivplätze als erster benötigt“, erklärte Jörg Weimann, einer der führenden Intensivmediziner Berlins. „Das gelingt in normalen Zeiten ohne Nachteil für die Patienten – also nach einwandfreien, von allen Fachkollegen nachvollziehbaren Kriterien. In Krisenzeiten ist das womöglich anders, dann könnte selbst eine sinnvolle Reihenfolge dazu führen, dass einige Patienten nicht sofort versorgt werden können.“ Aber: Nur im absoluten Notfall drohe Triage.
Klinikmitarbeiter in Berlin und Sachsen betonen, die Versorgung von wegen knapper Ressourcen verlegter Patienten könne beeinträchtigt sein – von „Triage“ zu sprechen sei aber falsch. Patienten in andere Kliniken zu verlegen, weil es so viele Covid-19-Fälle gibt, prüft auch die Charité. Dabei geht es den Ärzten der Universitätsklinik darum, reguläre, also verschiebbare Operationen anderenorts durchführen zu lassen. Ein Charité-Sprecher sagte: Eine Triage-Situation gebe es nicht.
Wie ist die Triage rechtlich geregelt?
Mediziner haben eine sogenannte Garantenstellung. Das bedeutet, sie sind rechtlich verpflichtet, gesundheitliche Schäden für Patientinnen und Patienten abzuwenden. Daraus folgt eine Strafbarkeit, wenn sie dies unterlassen. Ein Arzt, der einen Patienten mit seiner Heilkunde und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Leben retten könnte, läuft deshalb Gefahr, wegen Totschlags angeklagt zu werden, wenn er darauf verzichtet.
Andererseits gilt der Grundsatz, dass niemand rechtlich zu mehr verpflichtet werden kann, als er zu leisten imstande ist. Das kann Angehörige von Heilberufen in Auswahlentscheidungen zwingen. Eine falsche Entscheidung kann aber möglicherweise als Straftat bewertet werden. Das macht die Triage nicht nur für Patienten zu einem Risiko.
Klar ist die Lage nur, wenn die Ärzte beispielsweise über die Beatmung von Patienten entscheiden, deren Lebens- und Gesundheitszustand absolut vergleichbar ist. Hier greift die gesetzlich nicht näher geregelte Rechtsfigur der rechtfertigenden Pflichtenkollision. Ein Arzt, der hier auswählt, um so viele Patienten wie möglich überleben zu lassen, handelt demnach prinzipiell nicht rechtswidrig. In der Realität dürften solche Konstellationen aber eher selten sein. Gesundheitliche Zustände lassen sich schlecht so kategorisieren, dass sie einen sicheren Vergleich ermöglichen.
Unterschieden wird bei der Betrachtung zwischen „Ex-ante-Triage“, „Ex-post-Triage“ und sogenannter präventiver Triage. Im ersten Fall wird vor der Behandlung ausgewählt, wer mit den freien Kapazitäten versorgt wird. Im zweiten Fall kann es bereits beatmete Patienten treffen, wenn deren Platz für einen Patienten in größerer Notlage beansprucht wird. Dann muss deren Behandlung aktiv abgebrochen werden. Im dritten Fall kann es darum gehen, Patienten den Zugang zur Intensivmedizin trotz vorhandener Betten zu verweigern, weil noch behandlungsbedürftigere Patienten erwartet werden.
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Einen absolut sicheren Weg für Ärzte gibt es nicht. Auswählen müssen sie. Stellen sie auf die Überlebenswahrscheinlichkeit ab, wählen sie aus strafrechtlicher Sicht ein riskantes Kriterium. Denn damit kann leicht die Frage übergangen werden, ob eine tatsächlich identische Behandlungsbedürftigkeit vorliegt. Die „Ex-post-Triage“, also ein aktiver Behandlungsabbruch zugunsten eines neuen Patientens, ist als rechtfertigender Notstand im Prinzip nur dann erlaubt, wenn ein Rechtsgut das andere deutlich überwiegt. Eine Abwägung von Leben gegen Leben ist nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz allerdings ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Die präventive Triage kann ebenfalls auf einen Totschlag oder Totschlagsversuch oder eine strafbare Körperverletzung hinauslaufen. Denn in einer solchen Situation liegt noch gar keine konkrete Pflichtenkollision vor.
Ärztevereinigungen favorisieren eine Entscheidung an Kriterien der klinischen Erfolgsaussichten. Der Ethikrat fordert, dass „unfaire Einflüsse“ ausgeschlossen werden, etwa solche im Hinblick auf sozialen Status, Herkunft, Alter oder Behinderung. Aus ethischer Sicht sollte die Entscheidung „nach wohlüberlegten, begründeten, transparenten und möglichst einheitlich angewandten Kriterien geschehen“. Auch Losverfahren werden erwogen.
Braucht es ein neues Gesetz?
Im Prinzip ja, denn es geht um Entscheidungen, die intensiv in Grundrechte eingreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Sommer einen Eilantrag von Menschen mit Vorerkrankungen zurückgewiesen, der darauf abzielte die Triage zu regeln – mit Verweis auf damals niedrige Infektionszahlen. Die Verfassungsbeschwerde wird jedoch weiter beraten. Nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber noch per Urteil verpflichtet wird, die Triage zu regeln.
Ethiker sind sich uneins, ob gesetzliche Vorgaben geschaffen werden sollten. So spricht sich die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, Christiane Woopen, für eine solche klare Regelung aus, der Vorsitzende des deutschen Gremiums gleichen Namens, Peter Dabrock allerdings ist dagegen. Er argumentiert, „allerletzte Entscheidungen“ könnten „nicht durch noch so kleinteilige Gesetze ersetzt werden“.