Uni-Klinik braucht Ressourcen für Coronafälle: Berliner Charité prüft Verlegung von Nicht-Covid-19-Patienten in andere Städte
Wenn Krankenhäuser überfordert sind, fragen sie oft die Charité – normalerweise. Warum Deutschlands wichtigste Klinik nun selbst Hilfe brauchen könnte.
Wenn sich die Juristen der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten an diesem Dienstag um die Feinheiten des verschärften Infektionsschutzes kümmern, wird Ulrich Frei in seiner Morgenrunde sagen: endlich. Ihm kann der Lockdown kaum hart genug sein.
Noch ist Frei der Vizechef der Berliner Charité, zuständig für die Krankenversorgung an Europas größter Universitätsklinik. In 14 Tagen geht der 73-jährige Internist in den Ruhestand. Doch die letzten Tage in der Charité-Zentrale am Regierungsviertel kann Frei nicht ruhiger angehen lassen. „Wir arbeiten ständig an Ersatzplänen“, sagt Frei. „Umbau hier, mögliche Verlegung da.“
In dieser Welle der Sars-CoV-2-Pandemie scheint es, als gerate selbst die Charité an ihre Grenzen. Einige in der Klinik sagen, die Lage in den auf Covid-19 spezialisierten Intensivstationen angespannt zu nennen, sei untertrieben.
Für das Gesundheitswesen ganz Ostdeutschlands ist das Riesenkrankenhaus, auf vier Berliner Stadtteile verteilt, die Rückfalloption. Wenn in anderen Kliniken Spezialisten oder High-Tech-Geräte für schwere Fälle fehlen, dann werden deren Patienten hierher transportiert. Die Charité, so ist es mit Berlins Senat abgesprochen, versorgt die schwersten Covid-19-Fälle – darunter Patienten, die oft nicht mehr nur künstlich beatmet werden müssen, sondern deren Organe so angegriffen sind, dass ihr Blut über Schläuche aus dem Körper geführt, mit Sauerstoff angereichert und zurückgeleitet werden muss.
Wie lange hält Deutschlands wichtigstes Krankenhaus durch?
Aber seit einigen Tagen fragen Bundestagsabgeordnete, Ärzte und Spitzenbeamte in Dresden, Hannover und Kiel: Wie lange hält Deutschlands wichtigstes Krankenhaus durch? Im Senat irritierte einige, als kürzlich Beamte aus Schleswig-Holstein anriefen. Charité-Stratege Frei musste Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci, SPD, beruhigen.
„Wir haben immer einen Plan B, wenn’s sein muss auch einen Plan C“, sagt Frei ein bisschen trotzig am Telefon. „Aber ja, wir haben Kollegen in anderen Städten vorsorglich gefragt, ob sie noch Kapazitäten haben.“ Dass die Charité um Hilfe bittet, ist ungewöhnlich. Berlins landeseigenes Hochschulkrankenhaus ist mit 3000 Betten und 19.000 Beschäftigten eine Stadt in der Stadt.
An der Charité werden nicht nur Patienten gerettet, die woanders wohl verstorben wären. Die Ärzte sind so gut vernetzt, dass sie begehrte Geräte und unveröffentlichte Studien eher bekommen als andere Krankenhäuser.
Doch der Druck auf Berlins Kliniken steigt, die Intensivstationen sind zu 90 Prozent ausgelastet: Von offiziell 1217 Intensivbetten sind 1130 belegt. Der Anteil der Coronavirus-Patienten liegt mit 337 Patienten bei fast 30 Prozent. Zwar ist aus dem Inneren der Charité nur Lob für die Arbeit der Koordinationsstelle zu hören, die für jeden Patienten ein passendes Bett zu finden versucht. Auch weise man noch niemanden ab. Aber intern fallen Vokabeln, die man bislang weder diskutieren wollte noch musste: Triage, von französisch „trier“ für „sortieren“.
„Wir haben hier aktuell keinen einzigen freien Platz“, sagt ein Arzt, der seit Monaten täglich mit Corona-Patienten arbeitet. „Man kann nicht mit demselben Personal viele weitere Intensivbetten genauso gut versorgen, wie man es in normalen Zeiten kann.“ Er müsse immer wieder entscheiden, ob ein Patient eine realistische positive Prognose habe. „Niemand geht mehr an die künstliche Lunge, nur weil er schwer krank ist“, sagt der Mediziner. „Aussichtslose Fälle“, die man noch im Sommer übernommen habe, könne man schlicht nicht mehr behandeln. „Damit belege ich ein Bett für zwei Monate – das geht aktuell einfach nicht.“
Von 35 Spezialmaschinen sind nur noch drei frei
Das erwähnte Verfahren, bei dem ausgefallene Organe lebensbedrohlich Erkrankter temporär ersetzt werden, heißt „extrakorporale Membranoxygenierung“, kurz Ecmo. Von den entsprechenden Maschinen, die bis zu 100.000 Euro kosten, stehen 35 in der Charité: Drei sind derzeit noch frei. In Brandenburg gibt es sieben Ecmos, wobei die Berliner per Vertrag verpflichtet sind, Patienten der ganzen Region zu versorgen. Jeder zweite Todkranke erholt sich an der Ecmo und überlebt.
Anruf bei Jörg Weimann, einem über Berlin hinaus bekannten Intensivmediziner. Noch werde die Charité ihrer Rolle als Ostdeutschlands größtes Ecmo-Zentrum gerecht, doch wenn sie ausgelastet sei, sagt Weimann, werde es „äußerst schwierig“. Weimann hat für Berlin das Pandemiekonzept mitentworfen, wonach die Intensivstationen drei „Levels“ zugeteilt werden. Als Level I behandelt die Charité die schwersten Fälle. Level II sind 16 Kliniken, darunter die großen, ebenfalls landeseigenen Vivantes-Häuser, die weitere, auch schwere Covid-19-Patienten versorgen. Level-III-Kliniken kümmern sich um Intensivfälle, die nicht mit dem Coronavirus infiziert sind.
Charité-Vizechef Frei sagt: "Unsere Leute sind ausgebrannt"
Von den 337 Covid-19-Patienten, die auf einer Berliner Intensivstation liegen, werden mehr als 200 beatmet. Steigen die Zahlen, werden auch die allerschwersten Fälle häufiger, dann könnten an der Charité die Ecmo-Maschinen knapp werden – und die für den Einsatz der Geräte nötigen Fachleute. An der Klinik, in deren 442 Intensivbetten derzeit 130 Covid-19-Patienten versorgt werden, sind seit einem Jahr 100 von 4500 Pflegestellen unbesetzt. Nun sollen Leasing-Kräfte zugebucht werden.
„Das darf keine fünf Wochen so weitergehen“, sagt Ulrich Frei. „Unsere Leute sind ausgebrannt.“
Üblich ist, dass sich Mediziner austauschen, wenn es brenzlig wird. Die Hochschulkliniken haben dazu ein eigenes Netzwerk, auch wegen der geografischen Nähe sprechen Charité-Ärzte meist mit den Kollegen der Universitätskliniken Dresden, Leipzig, Magdeburg. Doch dort brauchen sie derzeit selbst Hilfe.
Da die ostdeutschen Universitätskliniken ausfallen, hat Ulrich Frei nun in einem 400-Kilometer-Umkreis anrufen lassen. Nach 50 Jahren Spitzenmedizin kennt er Intensivmediziner in Lübeck, Kiel, Hannover, Göttingen. Könnt ihr helfen, habt ihr Kapazitäten?
Muss die Darm-OP wegen Covid-19-Fällen nach Kiel verlegt werden?
Wenn die Charité anruft, spricht sich das herum. In den Gesundheitsministerien in Schleswig-Holstein und Niedersachsen wunderten sich einige: Die Charité braucht Hilfe?! Frei hört das nicht gern, man wolle auch keine Covid-19-Patienten verlegen. Doch der erfahrene Klinikmanager sagt: Wer in der Charité beispielsweise bald am Darm operiert werden sollte, weil dort ein Tumor wächst, müsse sich womöglich entscheiden – entweder die OP wird verschoben oder in einer anderen Stadt durchgeführt.
Ulrich Frei wird auch im Januar, wenn er formal in Rente ist, noch im Friedrich-Althoff-Haus helfen, der traditionsreichen, in roter Backsteingotik gehaltenen Charité-Zentrale in Berlin-Mitte. In den ersten Wochen der Pandemie hatte Frei gesagt, man stehe vor der „größten medizinischen Herausforderung der bundesdeutschen Geschichte“.
In Sachsen passierte, was Frei, sein Nachfolger Martin Kreis und Charité-Vorstandsvorsitzender Heyo Kroemer vermeiden wollen. Der Chef der Leipziger Universitätsklinik sprach es aus: „Sollte es so weitergehen, werden wir uns die Frage der Triagierung stellen müssen.“
Wenn Geräte, Medikamente, Personal nicht für alle reichen, werden Patienten in Dringlichkeitsstufen eingeteilt. Im Krieg, nach Erdbeben und Großunfällen hieß das früher: Diejenigen, deren Überlebenschancen besser waren, wurden eher behandelt. Gesundheitssenatorin Kalayci hatte im Oktober angewiesen, planbare Operationen zu verschieben, damit sich die Kliniken auf Covid-19-Patienten und Notfälle konzentrieren können. Doch Medizin ist nicht Mathematik. Die Grenzen zwischen den Diagnosen sind fließend, was ein Notfall ist, bewerten Ärzte unterschiedlich. Derzeit noch werden Tumorpatienten operiert, auch wenn der Eingriff zwei, drei, vielleicht vier Wochen später erfolgen könnte.
Büroetagen werden evakuiert, um Platz für Patienten zu schaffen
An der Charité wird nicht nur darüber debattiert. Ulrich Frei, so sagt er am Wochenende, lässt eine weitere Etage eines Bürogebäudes evakuieren, das als Containerbau im Schatten des weißen Charité-Bettenturms steht. „Wir bauen weitere Intensivplätze auf“, sagt Frei. „Geht nicht anders.“ Für die IT-Leute, die auf der umzurüstenden Etage saßen, lässt Frei woanders Büros anmieten.
Das alles ist die eine Seite, die der lebensgefährlich Erkrankten, die nur mit großem Personalaufwand und komplexer Technik gerettet werden können. Die andere: jene 1000 Covid-19-Kranken, die zwar ein Klinikbett brauchen, aber selten Beatmungsgeräte, schon gar nicht die Ecmo-Maschinen.
Die meisten Corona-Patienten, die zwar stationär, nicht aber auf Intensivstationen versorgt werden, liegen in den Vivantes-Krankenhäusern. Dort ist die Wut inzwischen groß, Vivantes-Geschäftsführer Johannes Danckert forderte den Senat auf, seinen Stationen die leichteren unter den Covid-19-Fällen abzunehmen. Die könnten nämlich auch in kleineren Kliniken versorgt werden.
Solche Häuser, gerade wenn sie einem privaten Betreiber gehören, wollen oft den selbst mit leichteren Covid-19-Fällen verbundenen Aufwand vermeiden: Flure müssen wegen des Infektionsschutzes gesperrt, in Drei-Bett-Zimmern können wegen des Abstands oft nur zwei Patienten untergebracht werden. Zudem decken die Zahlungen der Krankenkassen die Kosten nicht. Und auch die Bundeshilfen – Hunderte Euro für jedes für Covid-19-Fälle frei gehaltene Bett – bringen den Kliniken weniger Geld als die üblichen Hüftoperationen.
Wenn die Krankenhäuser voll sind, können Corona-Patienten in die Notklinik am Messegelände gebracht werden. Das Ad-hoc-Zentrum in Halle 26 hatte Senatorin Kalayci im Frühjahr errichten lassen, 90 Betten sind sofort belegbar, 400 weitere bald einsatzbereit. Vivantes-Ärzte probten in der Halle den Ernstfall, 300 Pflegeazubis übten mit Komparsen. Auch Beatmungsgeräte gibt es.
Insgesamt aber ist das Notzentrum, die Senatorin hat das oft betont, für leichtere Fälle da. Das würde reguläre Krankenhäuser entlasten. Die Schwerkranken aber, die es nun öfter gibt, könnten in der Messe kaum behandelt werden, sagt Intensivmediziner Weimann. Und Charité-Vizechef Ulrich Frei weiß: Seiner Klinik steht die härteste Phase noch bevor. Mitarbeit: Dennis Pohl