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Ein Spielzeugladen in der Innenstadt von Bautzen.
© Felix Hackenbruch

Inzidenzen von mehr als 500: Wie Sachsen zum bundesweiten Corona-Hotspot wurde

Volle Kliniken, unbesorgte Bürger: Nirgends ist die Corona-Lage dramatischer als in Sachsen, nun kommt der harte Lockdown. Spurensuche im zerrissenen Freistaat.

Mitte November hat Ulrike Suhl gemerkt, dass sich im Krankenhaus etwas verändert. Die Schwestern hatten keine Zeit mehr für die Kaffeepausen. Im ersten Lockdown habe sich das Personal noch „den Hintern platt gesessen“, sagt Suhl, dieses Mal erreicht die Pandemie selbst das Vogtland. „Zwei Wochen nach den sächsischen Herbstferien“, sagt Suhl. „Wie es zu befürchten war.“

200 Kilometer nordöstlich von hier, in Bautzen, ebenfalls in Sachsen, bleibt auch Pfarrer Christian Tiede nicht viel Zeit. Die ersten tosenden Orgelstücke sind vorbei, ebenso Psalm und Glaubensbekenntnis. Nun tickt die Uhr für seinen Gottesdienst im Bautzner Dom. Maximal 45 Minuten darf der dauern. 

Tiede nimmt die Maske ab, steigt die Stufen zur Kanzel hinauf und beginnt seine Predigt. „Geduld spielt in der Adventszeit eine große Rolle“, sagt er zu den 30 Gläubigen, die verstreut vor ihm mit Maske im hellen, schlichten Kirchenschiff sitzen.

Fünf Kilometer und eine Welt entfernt stehen ungefähr zur gleichen Zeit an diesem Sonntag ein paar dutzend Menschen an der Bundesstraße 96 und schwenken Fahnen des Deutschen Kaiserreichs. Auch die Flagge des Freistaats und von Russland ist zu sehen. Seit Mai stehen sie jeden Sonntag am B-96-Straßenrand bis zur tschechischen Grenze. Es ist eine Melange aus Reichsbürgern, Rechten und Verschwörungstheoretikern, die gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und für die Freiheit, welche auch immer, demonstriert. Auch Kinder sind dabei.

Eine Frau hält ein Herz aus Plastik, eine andere hat sich ein Schild um den Hals gehängt. „Für eine freie und selbstbestimmte Zukunft“, steht darauf. Auf einem anderen Plakat steht: „Gegen die Diktatur“. Maske trägt niemand, reden wollen die Demonstrierenden nicht.

Am Tag darauf kündigt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer eine weitere Verschärfung der Corona-Maßnahmen an. „Die Situation hat sich verschlechtert“, sagt Kretschmer in Dresden. „Wir haben sehr, sehr hohe Inzidenzen, und wir haben eine Überforderung des Gesundheitssystems an vielen Stellen, so dass ein Handeln notwendig ist.“

Michael Kretschmer setzte lange auf Eigenverantwortung, nun beschloss er den harten Lockdown.
Michael Kretschmer setzte lange auf Eigenverantwortung, nun beschloss er den harten Lockdown.
© imago

Sachsen ringt mit sich und seit einigen Wochen auch mit dem Virus. Anders als in den ersten Monaten der Pandemie ist der Freistaat in der zweiten Welle zum bundesweiten Corona-Brennpunkt geworden.

In Bautzen liegt die Inzidenz bei 501

Die Sieben-Tage-Inzidenz je 100 000 Einwohner liegt dem Robert-Koch-Institut zufolge bei 319. Der entsprechende RKI-Wert für Berlin beträgt etwa die Hälfte davon, im Bundesdurchschnitt liegt er bei 147. Im Landkreis Bautzen beträgt der Wert 501. Unter den bundesweit 15 Landkreisen mit den höchsten Werten liegen sieben in Sachsen.

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Nachdem die Landesregierung lange auf das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit setzte, bis weit in den Herbst hinein Regeln lockerte, durften neben den bundesweit geltenden Regeln die Sachsen zuletzt in ihrer Freizeit das Haus nur noch im Umkreis von 15 Kilometer verlassen, zudem gibt es ein Alkoholverbot in der Öffentlichkeit. Doch die Zahlen werden nicht besser, die Krankenhäuser füllen sich.

"Wir müssen den Freistaat jetzt zur Ruhe bringen"

Während viele Menschen alles getan hätten, um sich an die Corona-Regeln zu halten, „gibt es einen anderen Teil, der das alles noch nicht ernst nimmt“, sagt Kretschmer. „Denen müssen wir jetzt mit aller Deutlichkeit zeigen, dass es ernst ist.“ Am Dienstag beschließt die Landesregierung, vom kommenden Montag an Schulen, Kitas und Horte zu schließen, auch den „nicht lebensnotwendigen Handel“. „Wir müssen den Freistaat jetzt zur Ruhe bringen“, sagt Kretschmer. Die Lage in den Krankenhäusern sei nicht mehr angespannt, sondern gefährlich.

Christian Tiede, der Bautzener Pfarrer, erzählt im Sonntagsgottesdienst von der Geduld, die ihm als Kind mit seinem Adventskalender aus dem Westen oft gefehlt habe. Von der Geduld, die Bauern mit der Natur bräuchten, wenn es doch mal wieder einen verregneten Sommer gegeben habe. Tiede benutzt nicht die Worte „Corona“, „Pandemie“ oder „Inzidenz“. In einfachen, kurzen Sätzen erzählt er von der Geduld, die seine Gemeinde jetzt aufbringen müsse. Eine Frau in der letzten Reihe weint. „Habt keine Angst.“

Pfarrer Christian Tiede predigt Geduld in der Weihnachtszeit - und in der Pandemie.
Pfarrer Christian Tiede predigt Geduld in der Weihnachtszeit - und in der Pandemie.
© Felix Hackenbruch

Fragt man Pfarrer Tiede, wie es in Bautzen so weit kommen konnte, weiß er keine Antwort. Die Rechnung: viele Rechtsradikale, Verschwörungstheoretiker und AfD-Wähler gleich viele Infektionen, findet er aber zu einfach. „Dafür will ich erst einmal eine empirische Forschung“, sagt Tiede. Die gibt es aber nicht. Wer genau erkrankt, geben Gesundheitsämter nicht preis. Wo sich die Menschen anstecken, ist meist nicht nachvollziehbar.

Dort, wo die AfD stark ist, wütet das Virus besonders

Auffällig ist es jedoch, dass die ländlichen Landkreise Bautzen, Görlitz, der Erzgebirgskreis und der Landkreis Meißen, in denen die AfD bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr überdurchschnittlich stark abschnitt, jetzt überdurchschnittlich stark betroffen sind. In Sachsen sind es nicht die Städte, die Sorge bereiten. Dresden, Leipzig und Chemnitz liegen deutlich unter dem Landesdurchschnitt.

„Wir haben es in der Region mit sonderbaren Wegen und Deutungen zu tun“, sagt Tiede vorsichtig. Er will nicht verallgemeinern. Bei mehr als 30 Prozent AfD-Wählern in der Stadt sitzen die auch bei ihm in der Kirche. Müsse man aushalten, findet der 56-Jährige, schließlich sei Kirche ein Abbild der Gesellschaft. Er versuche die eigentlichen Beweggründe der Menschen zu ergründen.

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Die Pandemie, das beobachtet der Pfarrer, würde viele Menschen verunsichern, sie aus ihren Gewohnheiten reißen. Er will ins Gespräch kommen, Mut und Geduld predigen.

Tiede lebt mit seiner Familie seit sieben Jahren in Bautzen, davor war er in Manchester und Berlin. Wenn er von der Stadt spricht, kommt er schnell ins Schwärmen über die kurzen Wege, die Geschichte, die Landschaft. Er liebe Bautzen und sagt: „Eine Zeit lang habe ich jeden Tag ein Spiel daraus gemacht, zu schauen, wie lange es dauert, bis ich meinen ersten Nazi sehe.“ Man müsse kein Experte sein, um sie als solche zu identifizieren. „Es sind nicht viele, es sind immer die gleichen. Aber ein paar von denen sitzen auf entscheidenden Plätzen.“

Das wirke sich in der Stadtgesellschaft aus, auch die AfD profitiere davon. Die Blauen würden sich gar nicht erst bemühen, die Situation in der Pandemie zu befrieden. „Die AfD tut hier nichts Gutes.“

Wegen der Maskenpflicht kommen Gläubige nicht mehr in den Gottesdienst

Bei den Menschen an der B 96 war Tiede noch nie, Fakten, wie die Existenz des Virus, sind für ihn nicht verhandelbar. Doch auch in seiner Kirche erlebt er Hardcore-Skeptiker. Einmal sei er nach einem Gottesdienst kritisiert worden, weil er das Wort „Pandemie“ genutzt habe. Es gebe Gemeindemitglieder, die wegen der Maskenpflicht nicht mehr in seine Kirche kämen. Tiede zuckt die Schultern. „Das sind immer Einzelfälle, aber die versauen die Stimmung in Bautzen.“

Wo die Ablehnung der Politik so laut sei, werde auch der Platz für die leisen Skeptiker größer, sagt Tiede. Ein Phänomen, das er schon 2015 in der Flüchtlingskrise beobachtet habe. Heute sind es die gleichen Gräben. Seine Kirche soll einen ruhigen, unaufgeregten Gegenpol bilden. „Ich denke, ich hoffe, das strahlt auch in eine Stadtgesellschaft zurück.“

Ein Spaziergang durch die leergefegte Fußgängerzone. Überall wird auf die Maskenpflicht hingewiesen, die Polizei patrouilliert, die meisten der wenigen Menschen, die zu sehen sind, tragen Maske. An einem Christbaum hat jemand Wünsche gehängt. Mut, Anstand und Toleranz steht auf den Zetteln. An einem Spielzeuggeschäft steht auf einem Aushang aber auch: „Hier sind auch Menschen ohne Maske willkommen“.

Im Ausnahmezustand: In Bautzen liegt die Inzidenz bei 501.
Im Ausnahmezustand: In Bautzen liegt die Inzidenz bei 501.
© dpa

Draußen, an der B 96, „Presse ist Lüge“, hatte dort einer gesagt, an einem Gartenzaun versuchte er eine Reichsflagge zu befestigen. Ein anderer, der eine gestrickte Mütze in den Farben des Deutschen Reichs trägt: „Geh jetzt besser. Mein Puls geht schon wieder hoch.“ Durch das Flaggen-Spalier rauschten die Autos, viele Fahrer hupten.

[Mehr zum Thema: Die gereizte Republik - lesen Sie hier, warum viele jetzt so genervt sind (T+).]

Zweieinhalb Stunden Autofahrt weiter, im südwestlichsten Zipfel Sachsens, ist die Oberärztin Ulrike Suhl ähnlich, aber anders undiplomatisch. Dass manche Menschen immer noch sagen, das Coronavirus gebe es gar nicht, empört sie so sehr, „als ob man den Holocaust verleugnet“. Die 59-Jährige ist Anästhesistin in einem kleinen Krankenhaus im Vogtland nahe der Kurstadt Bad Elster. Im sächsischen durchschnitt ist der Inzidenzwert hier relativ niedrig. Relativ niedrig bedeutet 194 – und volle Krankenhäuser.

Sechs Plätze hat Suhl auf ihrer Intensivstation, seit Donnerstag sind alle mit Covid-Patienten belegt. Auch auf der Normalstation liegen viele. „Wir sind vollgelaufen“, sagt sie. Das Krankenhaus hat alle aufschiebbaren Operationen abgesagt. Keine neuen Hüften, keine Kniegelenke, keine Leistenbrüche.

Das Platzproblem bleibt und in den anderen Krankenhäusern in der Region sieht es nicht besser aus. „Covid-Erkrankte haben eine ewige Liegedauer“, sagt Suhl. Ein Patient sei seit fünf Wochen auf der Intensivstation. Zudem fehle das Personal, um weitere Patienten zu versorgen.

Ärztin Ulrike Suhl muss vielleicht bald über Leben und Tod entscheiden.
Ärztin Ulrike Suhl muss vielleicht bald über Leben und Tod entscheiden.
© privat

Suhl arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Ärztin, hat vieles erlebt, doch zum ersten Mal in ihrem Berufsleben muss sie sich nun mit Fragen der Triage beschäftigen. Bis auf eine 90-Jährige seien alle ihre Patienten zwischen 50 und 60 Jahren alt. „Da ist eine Triage gar nicht möglich.“ Wonach solle sie als Ärztin entscheiden, wer sterben muss und wer eine Chance auf das Leben bekomme? Nach Sympathie, Fitnesszustand, Alter oder Vorerkrankungen? „Davor habe ich Angst.“

Anfangs konnten sie die Fälle noch nachvollziehen: Die Fußballmannschaft, die in Prag war. Eine Mitarbeiterin des Pflegeheims. Ein Busfahrer, der mit Senioren eine Italienreise organisierte. Inzwischen gibt es fast nur noch Fälle, bei denen die Infektionskette unklar ist.

Ist die Nähe zu Tschechien ein Problem?

Ein Grund sei die Nähe zu Tschechien, sagen viele. Ende Oktober waren im Nachbarland die Infektionszahlen sprunghaft gestiegen. Nur noch lebensnotwendige Geschäfte blieben geöffnet – und die mehr als 450 Kilometer lange Grenze zu Sachsen. Zu eng ist die Grenzregion verzahnt, ohne tschechische Mitarbeiter wären viele deutsche Betriebe nicht arbeitsfähig. Auch im Krankenhaus von Ulrike Suhl arbeiten Tschechen, das Vogtland ragt wie ein Dreieck ins Nachbarland.

Suhl macht die Sorglosigkeit in der Bevölkerung für die hohen Zahlen verantwortlich. Im Supermarkt sieht sie immer wieder Menschen ohne Maske. „Da sagt aber niemand etwas“, sagt sie. Für sie sei das fast schlimmer. Immer wieder erlebe sie auch Situationen, in denen Menschen das Virus verharmlosen würden. „Da wollen mir Leute, die nicht Medizin studiert und noch nie eine CT-Aufnahme einer kaputten Lunge gesehen haben, erzählen, was los ist.“

[Das Corona-Dilemma: Wenn Oma und Opa unbedingt Weihnachtsbesuch wollen – obwohl der sie töten könnte - lesen Sie den Text hier mit TPlus.]

Zu ihrem Mann hält sie Abstand, beide schlafen in getrennten Betten. Wer wie sie gesehen hat, wie das Virus eine Lunge innerhalb eines Tages quasi zerstört hat, der riskiert nichts mehr.

Wer nicht, der geht im Nachbarort Markneukirchen auf den Weihnachtsmarkt. „Wir konnten gar nicht glauben, dass die da wirklich Glühwein ausschenken dürfen“, sagt Suhl. Bei ihrer Krankenhausleitung wolle sie sich dafür aussprechen, dass die Klinik im Kreis Druck macht, damit der Markt geschlossen wird. Ein Video hat das Krankenhaus neulich schon veröffentlicht. „Klatscht nicht für uns, haltet euch an die Regeln.“

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Der Glühwein kostet in Markneukirchen zwei Euro und kommt aus der Gulaschkanone. Aus dem Lautsprecher über dem Rentierschlitten singt Harry Belafonte ein Weihnachtslied. Es riecht nach Räuchermännchenrauch und Bratwurst.

Ein paar hundert Besucher schlendern über den Weihnachtsmarkt, der offiziell nur ein Weihnachtsbaumverkauf ist. Tatsächlich aber gibt es eine Modelleisenbahnen-Landschaft, einen Streichelzoo samt Kamel und Lama, die Büffelhütte, die Glühbier-Tenne, eine Märchenweltscheune und jede Menge Lichterketten. Eine Ausnahmegenehmigung der Lokalbehörden macht den Glühwein-Ausschank trotz Corona-Alkoholverbot möglich – aber nur am Sonntag.

Ronny (l.) und Hartmut Jacobs vom Weihnachtsmarkt in Markneukirchen halten die Beschränkungen für inakzeptabel.
Ronny (l.) und Hartmut Jacobs vom Weihnachtsmarkt in Markneukirchen halten die Beschränkungen für inakzeptabel.
© Felix Hackenbruch

Betreiber Ronny Jacobs ist trotzdem unzufrieden. „Die Maßnahmen, die getroffen wurden, sind für mich als Unternehmer nicht akzeptabel.“ Er hat das Geschäft von Vater Hartmut übernommen, über die letzten 30 Jahre ist aus der Idee mit den Tannen ein Unternehmen mit 35 Mitarbeitern geworden. Man arbeite das ganze Jahr auf die fünf Wochen vor Weihnachten hin, jetzt mache ihnen die Politik das Geschäft kaputt.

Vater und Sohn laufen ohne Maske über das Gelände, grüßen fast jeden Gast. „Die Kunden halten sich diszipliniert an die Regeln“, sagt Jacobs und deutet zum Lagerfeuer, an dem sich eine Gruppe Jugendlicher drängt. Mit Bier, aber ohne Maske.

Ein Mitarbeiter informiert Jacobs, dass die Polizei in der Nähe die Kennzeichen der Autos kontrolliere. Ronny Jacobs ist verärgert. Die 15 Kilometer-Regel verstehe niemand, sagt er. Zum Einkaufen ist sie aufgeweicht, die Freizeit wird beschränkt. Er muss los, eine Lautsprecher-Ansage machen. Die Gäste sollen den Schleichweg durch den Wald nehmen. Vorbei an der Polizei.

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