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Eine Reinigungskraft saugt einen Teppich.
© Victoria Bonn-Meuser / DPA

Zum 1. Mai: Wenn keiner bis 67 arbeiten will

Die Arbeit kommt in unserem Bewusstsein schlecht weg. Deutschland braucht eine Diskussion über das Image der Arbeit. Ein Gastbeitrag zum 1. Mai.

Machen Sie einmal ein Experiment: Fragen Sie erwerbstätige Menschen in Ihrer Umgebung danach, wie lange sie wohl erwerbstätig sein werden. Die meisten werden ungefähr so antworten: „Ich muss noch … Jahre arbeiten.“ Das Wort „müssen“ verdeutlicht, dass es hier weniger um Wunsch oder freien Willen geht, sondern um Pflicht oder gar Zwang. Wie wäre es dagegen, wenn man arbeiten wollte, wenn man die Erwerbsarbeit als persönliche Bereicherung erlebte, die man wohl missen würde, wenn man sie nicht hätte?

Das klassische Spannungsfeld von Arbeit als Mühe und Plage und Arbeit als sinn- und identitätsstiftendem Element des Menschen begleitet die gesamte Menschheitsgeschichte. Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass in Deutschland die Erwerbsarbeit eher in die Kategorie „Mühe und Plage“ eingeordnet wird. Eine breite Diskussion über dieses schlechte Image, das Arbeit hierzulande hat, würde allen gut tun.

Die Anzahl älterer Beschäftigter in Deutschland nimmt seit Jahren rasant zu. Laut Statistischem Bundesamt waren 2017 rund 15,2 Millionen Erwerbstätige 50 Jahre alt oder älter. Sie machen damit 38 Prozent aller Erwerbstätigen aus. Zehn Jahre zuvor waren es noch zehn Millionen Personen gewesen. Gleichzeitig werden in den kommenden Jahren immer weniger Personen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Politik und Teile der Wissenschaft sehen es als wirksame Gegenmaßnahme an, wenn noch mehr Ältere arbeiten würden und wenn sie dies noch länger im Leben täten.

Die Babyboomer schätzen ihre Arbeit

Die von uns geleitete Studie untersucht die letzten Arbeitsjahre älterer Beschäftigter und ihren Übergang in den Ruhestand. Seit 2011 befragen wir regelmäßig und deutschlandweit mehrere Tausend ältere Erwerbstätige der Jahrgänge 1959 und 1965, also Vertreter der Babyboomer-Generation. Die Studie ist repräsentativ für die sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen dieser Jahrgänge in Deutschland. In der Erhebung von 2018 zeigte sich ein interessanter und auf den ersten Blick widersprüchlicher Befund. Die große Mehrheit der Babyboomer schätzt ihre tägliche Arbeit: Dreiviertel aller erwerbstätigen Befragten meinten, dass ihnen die Arbeit, die sie machten, „sehr viel“ bedeute. Fast alle empfanden ein „hohes Maß an persönlicher Verantwortung“ für ihre Arbeit.

Dem steht ein anderes Ergebnis gegenüber: nämlich, dass mehr als die Hälfte „so früh wie möglich“ aus dem Erwerbsleben ausscheiden will. Nur jeder Zehnte würde gerne bis zum gesetzlich vorgesehenen Renteneintrittsalter arbeiten. Das gilt nicht nur, wenn gesundheitliche Einschränkungen vorliegen oder die Arbeit hohe körperliche oder psychische Belastungen mit sich bringt. Auch bei denen, bei denen „alles stimmt“, die eine gute Gesundheit haben und gleichzeitig ihre Arbeitsfähigkeit als hoch einschätzen, ist es nur einer von sieben, der bis zum gesetzlich vorgesehenen Renteneintrittsalter erwerbstätig sein möchte. Drei Viertel aller Befragten sagen, dass es in ihrem persönlichen Umfeld als „normal“ gilt, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen – und diese Stimmung steckt, wie unsere Daten zeigen, an.

Arbeiten bis 65 ist die große Ausnahme

Was bedeutet diese regelrechte „Kultur des Frühausstiegs“ für eine Gesellschaft? Arbeiten bis 65 ist derzeit immer noch die große Ausnahme. Normal ist, vor dem gesetzlich vorgesehenen Renteneintrittsalter auszusteigen.
Eine unliebsame Konsequenz daraus hat zunehmend die Wirtschaft zu tragen, weil viele ältere Beschäftigte eher in Rente gehen, auch wenn sie eigentlich noch gut arbeiten könnten. Denn der Arbeitskräftemarkt dürfte immer knapper werden, wenn die Arbeitsmarktexperten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Recht behalten. Sie schätzen, dass schon in wenigen Jahren das Arbeitskräfteangebot in Deutschland unaufhörlich sinken wird, und zwar bis 2060 um im Mittel 165.000 Personen pro Jahr.

Eine weitere – oft unnötige – Konsequenz des Frühausstiegs tragen die Beschäftigten selbst, wenn sie den förderlichen Wert übersehen, den Arbeit für sie haben kann. Tatsächlich zeigen wissenschaftliche Übersichtsarbeiten, dass der gesundheitsförderliche Effekt über alle Erwerbstätigen hinweg alles in allem größer ist als der krankmachende. Dennoch wird gemeinhin davon ausgegangen, dass Erwerbsarbeit unsere Gesundheit bedroht. In einer europäischen Befragung aus dem Jahr 2015 meinten 23 Prozent aller befragten Erwerbstätigen über 50 Jahre in Deutschland, dass sich ihre Arbeit negativ auf ihre Gesundheit auswirke. Dort, wo schlecht gestaltete Arbeit oder ein ungünstiges Arbeitsumfeld vorherrschen – und das ist nach wie vor oft der Fall – sind ihre Befürchtungen natürlich berechtigt. Aber die Arbeit ist nicht immer und überall schlecht, und dort, wo sie gut ist, kann sie einen positiven Effekt auf die Gesundheit zeigen. Den sehen in Deutschland nur 16 Prozent der älteren Erwerbstätigen.

Dass es auch anders geht, zeigen die skandinavischen Länder – und hier vor allem Norwegen und Schweden. Fragt man dort: „Wie lange werden Sie arbeiten?“, wird man weniger „ich muss …“, sondern eher „ich will bis … arbeiten“ hören, oft sogar: "… solange ich kann". Die Renteneintrittsgrenze ist dort eine Altersspanne, in Norwegen, zum Beispiel, beziehen viele schon ab 62 Jahren ihre Rente, arbeiten aber noch viele Jahre weiter. Warum ist das so?

Positive Arbeitskultur in Skandinavien

Erwerbsarbeit hat in den skandinavischen Ländern traditionell einen anderen Stellenwert. Dort dominiert eine positive Arbeitskultur. An Erwerbsarbeit werden hohe Ansprüche gestellt. Natürlich soll sie gesundheitsförderlich sein: So wurde in Schweden die Idee diskutiert, dass man seinen Arbeitsplatz abends gesünder verlassen solle, als man ihn am Morgen betreten hat. Schlechte, gesundheitsgefährdende Arbeit wird weniger toleriert als hierzulande. Kein Wunder, dass es in Schweden 30 Prozent und in Norwegen sogar 35 Prozent aller älteren Befragten waren, die meinten, dass die Arbeit ihre Gesundheit positiv beeinflusse. Und über alle Gesundheitseffekte hinaus soll sie nach Erfahrungen des Verfassers, der mehrere Jahre in Schweden gelebt hat, persönlichkeitsförderlich sein und so über alle Gesundheitseffekte entscheidend dazu beitragen, dass der Einzelne sich in der Gesellschaft entfalten kann.

Warum ist das bei uns anders? Warum verschenken wir so viel Potenzial an Lebensqualität und möglicherweise auch an Arbeitskraft dadurch, dass die Arbeit in unserem Bewusstsein so schlecht wegkommt? Hierauf wird es mehrere Antworten geben: Eine ist natürlich schlechte Arbeit. Dort, wo ungünstige körperliche oder psychische Arbeitsanforderungen vorherrschen, unsichere Anstellungsbedingungen oder wo einer hohen Verausgabung eine zu geringe Entlohnung entgegensteht, muss man sich nicht über ein schlechtes Image „der Arbeit“ wundern. Aber was ist mit der Mehrheit, mit den vielen Erwerbstätigen, bei denen alles oder fast alles „stimmt“ und denen ihre eigene Arbeit sogar „sehr viel“ bedeutet?

Meiner Meinung nach wird „Erwerbsarbeit“ unter Wert diskutiert. Die persönlichkeits- und gesundheitsförderlichen Funktionen der Arbeit werden in der öffentlichen Diskussion um Arbeit und Erwerbsteilhabe kaum berücksichtigt und sind darüber hinaus hierzulande zu wenig im Bewusstsein derer, die Arbeit haben. In den frühen 1930er Jahren untersuchte die Soziologin Marie Jahoda die Lebenslage der Arbeitslosen im österreichischen Marienthal, wo infolge der Weltwirtschaftskrise plötzlich massive Arbeitslosigkeit aufgetreten war. Neben die „manifeste“ Funktion der Erwerbsarbeit, den Gelderwerb, stellte sie die weniger manifesten, die „latenten“ Funktionen der Arbeit: Zeitstruktur, Sozialkontakte, Status und Identität, Teilhabe an kollektiven Zielen und regelmäßige Tätigkeit. Latent heißt hier: Solange wir Arbeit haben, sind wir uns dieser wichtigen, positiven Funktionen nicht oder kaum bewusst; erst, wenn wir keine Arbeit mehr haben, erkennen wir ihre Bedeutung für unser Leben. Das wäre spät.

Abstimmung mit den Füßen durch immer mehr ältere Beschäftigte

Ein positives Image der Arbeit könnte hierzulande bei vielen Erwerbstätigen dazu beitragen, dass sie den Wert ihrer Arbeit für sich und ihren Lebensweg besser erkennen und schätzen. Neben einer gesteigerten Lebensqualität könnte dies durchaus auch dazu beitragen, dass sie sich länger im Erwerbsleben qualifizieren und perspektivisch sogar länger erwerbstätig sein wollen. Dies, weil Arbeit nun einen Wert hat, der deutlich über den Gelderwerb hinausgeht. Gleichzeitig würde ein positives Image der Arbeit hierzulande die Erwartungen und Ansprüche an die Qualität der Arbeit erhöhen. Arbeit, die den Grundprinzipien der Persönlichkeits- und Gesundheitsförderlichkeit nicht entspricht, würde früher infrage gestellt.

Folgen wären, dass schlechte Arbeitsbedingungen Arbeitsbedingungen ohne Wenn und Aber zu vermeiden beziehungsweise verbessern sind oder dass die Beschäftigten ihren Arbeitgeber wechseln, wenn ihnen die Arbeit „nicht mehr passt“. Die „Leben in der Arbeit“-Studie zeigt jetzt schon für die Babyboomer, dass solche Arbeitgeberwechsel meist einen langanhaltenden positiven Effekt zeigen, und zwar sehr deutlich in Bezug auf die Bewertung der Arbeitsbedingungen, aber auch der eigenen Arbeitsfähigkeit und Gesundheit. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels ist anzunehmen, dass die Abstimmung mit den Füßen für immer mehr ältere Beschäftigte eine realistische Option wird, wenn auch nicht für alle. Letztendlich ließe sich so durch eine Diskussion des Images der Arbeit die Lebensqualität der Beschäftigten sowie die Qualität ihrer Arbeit in Deutschland steigern, und damit auch die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen.

Wir brauchen also eine Debatte über ein besseres Image der Arbeit in unserem Land, vor allem geführt durch Politik und Sozialpartner. Forderungen nach „guten Arbeitsbedingungen“ allein treffen hier nicht den Kern. Denn wie die lidA-Studie zeigt, werden gute Arbeitsbedingungen allein nicht dazu führen, dass viel mehr Menschen länger erwerbstätig bleiben wollen. Wenn die Motivation zur Erwerbsteilhabe nachhaltig gefördert werden soll, ist ein aufrichtiges politisches Bekenntnis zu dem hohen Stellenwert erforderlich, den die Arbeit für alle erwerbstätigen Menschen haben soll, das Potenzial der Arbeit geht eben deutlich über den Gelderwerb hinaus.

Professor Hans Martin Hasselhorn ist Facharzt für Arbeitsmedizin. Er leitet den Lehrstuhl für Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal und zusammen mit seinem Team die „Leben in der Arbeit“-Studie (www.lida-studie.de).

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