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Recep Tayyip Erdogan
© Legnan Koula/dpa

Erdogan und die Pressefreiheit: Wenn Europa schweigt, ist das keine Lösung

Der türkische Präsident wettert gegen Diplomaten und Journalisten. Das kann - und sollte - die gemeinsame Flüchtlingspolitik mit der EU erschweren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schafft, was die CSU seit Jahren vergeblich versucht: Er sorgt dafür, dass die Türkei als EU-Beitrittskandidatin disqualifiziert wird. Ein Land, dessen Präsident westeuropäische Diplomaten beschimpft, weil sie angeklagten Journalisten beistehen, kann nicht im Ernst darauf hoffen, EU- Mitglied zu werden. Ein Präsident, der sich durch ein Liedchen in einer Satire-Show so beleidigt fühlt, dass er den deutschen Botschafter einbestellen lässt, kann wohl kaum erwarten, in den Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs aufgenommen zu werden.

Mit seinem Druck auf die Medien, der Einschränkung der Meinungsfreiheit – fast 2000 Verfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung seit Erdogans Amtsantritt als Staatschef vor nicht einmal zwei Jahren – und der Beschimpfung der westlichen Diplomaten hat Erdogan gezeigt, wie weit er mittlerweile von den Prinzipien der EU entfernt ist. Substanzieller Fortschritt in den Demokratie-Kapiteln der türkischen Beitrittsverhandlungen? Derzeit schlicht undenkbar.

Deshalb war es gut, dass europäische und amerikanische Diplomaten am Freitag die Eröffnung des Prozesses gegen die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül beobachteten. Ihre Anwesenheit zeigte, dass die westlichen Partner der Türkei sehr wohl registrieren, wie unter Erdogan die Pressefreiheit immer weiter eingeschränkt wird und wie immer mehr Kritiker zu Staatsfeinden erklärt werden.

Herr Erdogan hat ein Aufmerksamkeitssyndrom. Hier hilft es nur, ihm die Aufmerksamkeit zu versagen. Herr Erdogan kann unsere Pressefreiheit und alle anderen Freiheiten, die uns wichtig sind, nicht ankratzen. [...] Er hat sich selbst vor der Welt lächerlich gemacht.

schreibt NutzerIn Weltkugel

Erdogans Aktionismus ist ein Zeichen der Verunsicherung

Erdogans Vorgehen gegen Journalisten und seine Ausfälle gegen die westlichen Diplomaten sind Zeichen der Schwäche und der Verunsicherung: Der türkische Präsident sieht sich von Feinden umringt, Kritik wird immer häufiger als Angriff auf den Staat verstanden. Das kann man beklagen oder mit einem Kopfschütteln quittieren – doch schweigend hinzunehmen, dass der Präsident die Vertreter westlicher Demokratien beschimpft, weil sie ein Zeichen für die Pressefreiheit setzen, ist nicht der richtige Weg.

Die EU will Erdogan nicht verärgern, weil sie sich in der Flüchtlingsfrage auf eine enge Zusammenarbeit mit Ankara eingelassen hat. Das Risiko, dass Erdogan die Abmachung von Brüssel aufkündigt und wieder hunderttausende Flüchtlinge Richtung Westen wandern lässt, hemmt die europäische Kritik. So wollte sich die Bundesregierung am Dienstag zunächst nicht zur Einbestellung des deutschen Botschafters Martin Erdmann äußern.

Die Flüchtlingspolitik darf Kritik nicht zum Tabu machen

Schweigen löst das Problem aber nicht. Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage darf nicht bedingungslose Zustimmung zu allem bedeuten, was der türkische Präsident tut oder lässt. Die amerikanische Regierung hat vorgemacht, wie man reagieren kann. Sie wies Erdogans Kritik am Prozessbesuch der westlichen Diplomaten unmissverständlich zurück und kündigte an, ihre Vertreter auch in Zukunft zu sensiblen Strafverfahren zu schicken. Europa schreckt vor einer solch klaren Ansage bisher zurück.

Die EU sollte ihre Schreckstarre überwinden. Deutschland und andere Länder geben kein gutes Bild ab, wenn sie ihre Diplomaten im Regen stehen lassen und nicht gegen Erdogans lächerliche Vorwürfe verteidigen. Auch hilft es den bedrängten Reformanhängern in der Türkei reichlich wenig, wenn die EU Erdogans Kurs einfach hinnimmt. Flüchtlingskrise hin oder her – Europa darf nicht den Eindruck erwecken, dass Grundwerte wie die Pressefreiheit verhandelbar sind.

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