Die Europäische Union und die Türkei: Platzt der Flüchtlingspakt?
Wie wirkt sich der Terror im Land auf die Türkei aus? Wie verlässlich ist die Regierung? Es gibt Zweifel an der Umsetzbarkeit des Flüchtlingsdeals mit der EU.
Nach dem Anschlag von Istanbul und angesichts einer Terrorwelle mit mehr als 40 Toten allein in diesem Monat stellt sich die Frage nach der Stabilität der Türkei. Das Nato-Land am Rande Südosteuropas soll für die EU eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise spielen. Bei einigen Beobachtern wachsen jedoch Zweifel, ob der am Freitag ausgehandelte Deal mit Europa für die Türkei umsetzbar ist.
Was ist über den Anschlag von Istanbul bekannt?
Laut Behördenangaben wurde der 24-jährige Türke Mehmet Öztürk, ein Anhänger des „Islamischen Staats“ (IS), als jener Täter identifiziert, der sich am Samstag auf der Istiklal neben einer Gruppe israelisch-amerikanischer Touristen in die Luft sprengte – ob die Besucher tatsächlich Öztürks Ziel waren, oder ob der Sprengsatz verfrüht explodierte, ist noch nicht geklärt. Mindestens drei weitere potenzielle IS- Selbstmordattentäter sollen sich noch in der Türkei aufhalten.
Wegen einer Terrorwarnung wurde am Sonntagabend eines der wichtigsten Spiele des türkischen Fußballs, das Derby der Lokalrivalen Galatasaray und Fenerbahce Istanbul, abgesagt und einen späteren Termin verschoben. Die deutsche Schule Ankara, die vergangene Woche wegen einer Anschlagswarnung geschlossen wurde, sagte den Unterricht bis einschließlich 1. April ab.
Kritiker werfen der Regierung vor, in Sachen Terror mit zweierlei Maß zu messen: Gewalttaten militanter Kurden wie der Autobombenanschlag von Ankara am 13. März mit 37 Toten lösen sofortige Schuldzuweisungen auch an die legale Kurdenpartei HDP und Luftangriffe auf Stellungen der PKK-Kurdenrebellen im Nordirak aus; dagegen unterbleiben solche Vergeltungsaktionen, wenn es um den IS geht, so der Vorwurf.
Wie wirkt sich der jüngste Anschlag auf die türkische Politik aus?
Die Terrorwelle – insgesamt vier schwere Anschläge seit Anfang des Jahres in der Metropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara – und die wachsende Verunsicherung der Bevölkerung vertiefen die ohnehin bereits bestehenden Gräben zwischen Regierungsanhängern und -gegnern. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mit Blick auf kurdische Gewalttaten eine Politik der „eisernen Faust“ angekündigt. Dazu gehört eine groß angelegte Militäroffensive gegen die PKK. Vorwürfe von Kurdenpolitikern, dabei seien in den vergangenen Tagen auch Chemiewaffen eingesetzt worden, wiesen die türkischen Behörden zurück.
Zudem soll mit Hilfe von Gesetzesänderungen die Verfolgung mutmaßlicher Terror-Sympathisanten erleichtert werden. Kritiker sehen darin einen Versuch Erdogans, seine Gegner mundtot zu machen. Gleichzeitig beklagt Erdogan eine angebliche Nachsicht der Europäer im Umgang mit der PKK. Wenn eines Tages die Bomben der Terroristen in europäischen Hauptstädten explodieren sollten, dann werde der Westen wissen, wie die Türken sich fühlten, sagte Erdogan. „Aber dann ist es zu spät.“
Was sind die wichtigsten Herausforderungen, vor denen das Land derzeit steht?
Im Innern löst vor allem der wieder aufgeflammte Kurdenkonflikt Spannungen aus. Seit Monaten liefern sich Sicherheitskräfte und PKK-Rebellen im Südosten des Landes heftige Gefechte. Beide Seiten setzen auf Gewalt – an einen Neubeginn der im vergangenen Sommer abgebrochenen türkisch-kurdischen Friedensverhandlungen zur Beilegung des seit mehr als 30 Jahren andauernden Konfliktes ist derzeit nicht zu denken.
Hinzu kommt der Krieg beim Nachbarn Syrien, der 2,7 Millionen Flüchtlinge sowie IS-Terrorkommandos über die Grenze in die Türkei gebracht hat. Die Gespräche der Konfliktparteien in Genf betrachtet Ankara mit Skepsis. Die türkische Regierung hält nach wie vor an ihrem Ziel fest, die Herrschaft des syrischen Präsidenten Baschar al Assad zu beenden.
Der Kurdenkonflikt, der Syrienkrieg und die innenpolitischen Spannungen wegen Erdogans Druck auf seine Gegner wirken sich immer stärker auf die Wirtschaft der Türkei auf. Der Tourismus, einer der wichtigsten Bereiche der türkischen Wirtschaft, ist durch die Terrorwelle stark getroffen. Teilweise ist von Buchungseinbrüchen von 40 Prozent die Rede. Der Oppositionspolitiker Cetin Osman Budak sagte kürzlich, ein Rückgang der Besucherzahlen um 30 Prozent wurde bis zu eine halbe Million Menschen in der Türkei arbeitslos machen.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Flüchtlings-Deal mit der EU für die Türkei?
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sieht in der Vereinbarung mit der EU, nach der die Türkei alle Flüchtlinge aus Griechenland zurücknimmt und Europa dafür Syrer aus türkischen Lagern legal einreisen lässt, einen historischen Meilenstein. Europa habe im Umgang mit der Türkei eine psychologische Schwelle überwunden, sagte Davutoglu auf der Rückreise vom Gipfeltreffen am vergangenen Freitag. Davutoglus Regierung arbeitet an Rückführungsabkommen mit 14 Herkunftsländern der Flüchtlinge, um Nicht-Syrer nach deren Rückkehr aus Griechenland in ihre jeweiligen Heimatstaaten schicken zu können.
Obwohl die Rückführungen der Migranten aus Griechenland am 4. April beginnen sollen, ist bisher unklar, wie und wo die Türkei die Menschen unterbringen wird. Amnesty International erklärte, die Türkei sei für zurückgeschickte Flüchtlinge kein sicheres Land. An der Umsetzung aller Vereinbarungen von Brüssel gibt es auch andere Zweifel. So will Davutoglu bis Mai alle Kriterien für die einen Monat später geplante Aufhebung des Visazwangs für türkische Reisende in Europa erfüllen. Dazu gehört allerdings auch eine indirekte Anerkennung des EU-Staates Zypern, was Ankara bisher ablehnt.
Was kommt auf die EU zu?
Angesichts der ungelösten Probleme und Konflikte in der Türkei erwarten einige Beobachter neue Belastungen für die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara. Diplomaten halten einen handfesten Streit um die Abschaffung des Visa- Zwangs für möglich, die von der CSU und anderen politischen Kräften in der Europäischen Union abgelehnt wird. Ankara droht schon jetzt damit, die gerade erst beschlossene Rücknahme von Flüchtlinge aus Griechenland wieder zu stoppen, wenn die EU beim Thema Visa zögern sollte. Kurdenpolitiker warnen unterdessen wegen der Kämpfe in Südostanatolien, die bereits mehrere hunderttausend Menschen obdachlos gemacht haben, vor einer neuen Fluchtwelle nach Europa – diesmal aus den umkämpften Kurdenregionen in der Türkei.