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Angriff auf die Pressefreiheit. Anfang März besetzen Polizisten die Redaktion der regierungskritischen Zeitung „Zaman“ in Istanbul. Foto: dpa
© dpa

Pressefreiheit in der Türkei: "Wir erwarten täglich die Polizei"

Seit 20 Jahren ist Emrah Ülker Journalist. Nie war es so schwer, in der Türkei frei zu berichten wie jetzt. Einen wie ihn macht das Schreiben zum Staatsfeind. Unser Blendle-Tipp.

Manchmal zuckt Emrah Ülker immer noch zusammen, wenn er Schritte auf dem Gang hört. Zu frisch ist die Erinnerung noch an jenen Tag vor etwa einem Monat, als die Polizei die Redaktion von Ülkers Arbeitgeber „Bugün“ stürmte. Als die Regierung seine alte Zeitung einfach übernahm, unter Zwangsaufsicht stellte.

Geblieben ist Ülker aus dieser Zeit das Gefühl, dass auch hier in der Redaktion der Istanbuler Zeitung „Özgür Düsünce“ jeden Moment alles vorbei sein könnte. Er und seine Kollegen scherzen manchmal darüber. Galgenhumor.

Neon-Lampen hängen an der Decke, ein Fernseher steht an der kahlen Wand, ein paar billige Bürotische mit Laptops und Flachbildcomputern. So sieht die Redaktion aus, in der Ülker und rund 50 Kollegen in einer ehemaligen Lagerhalle nahe der Istanbuler Autobahn eine Zeitung produzieren, die sich mit der Regierung anlegt.

„Özgür Düsünce“ – der freie Gedanke heißt das. Ülker, 44, der mit seiner dunkel umrandeten Brille ein wenig aussieht wie Woody Allen, ist der Auslandschef des Blattes, das jeden Tag etwa 50 000 Exemplare verkauft. Wie die meisten seiner Kollegen hier hat er früher bei den Zeitungen „Bugün“ (Heute) und „Zaman“ (Zeit) gearbeitet, die in den vergangenen Monaten von der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan übernommen wurden. Auf Erdogans Befehl entließen Zwangsverwalter 70 Redakteure. „Bugün“ wurde auf Regierungslinie gebracht und inzwischen ganz eingestellt.

Auch die regierungskritische „Zaman“ wurde vom Staat übernommen und schreibt nun überdurchschnittlich viel Gutes über Erdogan. Die Archive der Zeitung wurden gelöscht – es ist, als habe es Erdogan-kritische „Zaman“-Artikel nie gegeben. „Zaman“ und „Bugün“ gehörten vor der staatlichen Übernahme zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der von Erdogan zum Staatsfeind Nummer eins erklärt worden ist. Auch die Neugründung „Özgür Düsünce“, die seit November an den Kiosken zu haben ist und die sich mit den Einnahmen aus dem täglichen Zeitungsverkauf über Wasser hält, wird der Gülen-Bewegung zugerechnet. Wenn Ülker also ab und an nervös zur Tür blickt, dann, weil er weiß, dass auch er womöglich für einen Staatsfeind gehalten wird.

Die Neue Zeitung ist als Mieter beim Fernsehsender Can Erzincan TV untergekommen, der im selben Stockwerk produziert. Alles wirkt improvisiert, wie eine Übergangslösung, von den billigen Laminatfußböden über die Schläuche der Klimaanlage an der Decke bis zu den unverputzten Wänden auf der Toilette.

Es ist später Vormittag, so langsam füllt sich die Redaktion in der Lagerhalle. Als Redakteur Sedat Gülmez hereinkommt, gibt es plötzlich Beifall. Kollegen klopfen ihm auf die Schulter, jemand macht ein Foto, Gülmez wird auf einen Stuhl gedrückt und muss erzählen. Er kommt gerade vom Gericht, wo er als erster Journalist der vom Staat übernommenen Medien eine Entschädigung wegen illegaler Kündigung durch die staatlichen Zwangsverwalter durchgesetzt hat.

Ein kleiner Sieg gegen den übermächtigen Gegner in Ankara. Einige Unternehmer haben die Zeitungsmacher wissen lassen, dass sie keine Anzeigen schalten, weil sie Repressalien der Behörden befürchten. Reporter des Blattes sind bei keiner Pressekonferenz der Regierung zugelassen, nicht einmal Presseausweise haben sie – ähnlich wie der „Spiegel“-Korrespondent Hasnain Kazim, der deshalb vor Kurzem die Türkei verließ.

Auf dem Index von „Reporter ohne Grenzen“ steht die Türkei auf Platz 149 von 180 erfassten Staaten. „Keiner redet mit uns, und selbst wenn ich mal einen Beamten im Bus sehe, tut er so, als würde er mich nicht kennen“, sagt Ülker.

Dennoch oder gerade deshalb haben sich in den vergangenen Monaten viele namhafte Journalisten bei „Özgür Düsünce“ eingefunden, von denen die wenigsten zu Gülen gehören. Orhan Kemal Cengiz, ein prominenter Menschenrechtsanwalt, schreibt eine Kolumne, genau wie Nazli Ilicak, eine frühere islamistische Parlamentsabgeordnete, die mit Erdogan gebrochen hat. Ergun Babahan, ein weiterer Kolumnist, war früher einmal Chefredakteur der Zeitung „Sabah“ (Morgen), die heute das Flaggschiff der Erdogan-treuen Medien ist. Sein Kollege Yavuz Baydar, inzwischen ebenfalls Kolumnist bei „Özgür Düsünce“, ist einer der angesehensten Schreiber der Türkei. „Wir sind so etwas wie eine Insel“, sagt Ülker.

Eine solche Insel ist auch die Tageszeitung „Cumhuriyet“ (Republik), deren Chefredakteur Can Dündar seit Freitag wegen des Vorwurfs des Geheimnisverrats ...

Den vollständigen Artikel lesen Sie hier, für 45 Cent im digitalen Kiosk Blendle.

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