Prozess gegen Journalisten: „Der größte Medienboss der Türkei ist Erdogan“
Der türkische Journalist Can Dündar saß drei Monate in Untersuchungshaft, bevor er auf Anordnung des Verfassungsgerichts freikam. Am Freitag beginnt der Prozess gegen ihn wegen Spionage.
Can Dündar ist Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ in der Türkei. Die Staatsanwaltschaft wirft Dündar und dem Hauptstadt-Büroleiter, Erdem Gül, unter anderem Veröffentlichung von geheimen Dokumenten, Spionage und Unterstützung einer Terrororganisation vor. Am Freitag startet der Prozess, die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen. Hintergrund ist ein Bericht der „Cumhuriyet“ aus dem vergangenen Jahr über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte, es habe sich um Hilfslieferungen gehandelt und stellte persönlich Strafanzeige gegen Dündar und Gül.
Sie waren drei Monate in Untersuchungshaft, nun droht Ihnen lebenslänglich. Glauben Sie, dass Sie wieder ins Gefängnis müssen?
Dündar: Natürlich gibt es eine solche Wahrscheinlichkeit. Das ist die Türkei. Wenn es in einem Land keine Justiz gibt, dann sind solche Risiken unumgänglich.
Das Verfassungsgericht hat vor kurzem entschieden, dass Sie aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Präsident Erdogan kritisierte das und sagte, er respektiere die Entscheidung nicht. Glauben Sie, dass die Äußerungen des Präsidenten den Prozess beeinflussen?
Ein Präsident eines Landes kann nicht sagen, ich erkenne die Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht an. Das ist verfassungsrechtlich gesehen eine Straftat. Es ist auch eine Drohung, denn die Richter, die sich nicht nach ihm richten, werden entlassen oder versetzt. Versetzen Sie sich einmal in die Lage des Richters, der uns am Freitag vernehmen soll. Und ihr Schicksal hängt vom Präsidenten ab. Was würden Sie tun? Natürlich spüren die Richter diesen Druck. Deshalb ist auch die Justiz in der Türkei in einem solchen Zustand. Ein Richter, der sich dagegen wehrt, muss äußerst mutig sein. Wir hoffen, dass sie mutig sein werden.
Haben Sie jemals daran gedacht, das Land zu verlassen?
Nein, daran habe ich nie gedacht und denke auch jetzt nicht daran. Das würde auch bedeuten, dass ich meine Schuld eingestehe. Ich denke nicht, dass ich schuldig bin, deshalb werde ich weiterhin mich, mein Land und meinen Beruf verteidigen. Wenn die Verteidigung der Demokratie in der Türkei einen Preis hat, dann müssen wir den bezahlen. Dazu gehört auch, im Gefängnis zu sitzen.
Wie schätzen Sie die Lage der Medien in der Türkei ein?
Die Türkei war noch nie ein Paradies für Journalisten. Alleine die Zeitung, für die ich arbeite, verzeichnet vier Berufsmärtyrer, also vier ermordete Journalisten. Wir sind also eine Zeitung, die in jeder Periode Druck erlebt hat. Das geht vielen Zeitungen in der Türkei so. Manche fielen Bomben zum Opfer, andere wurden zensiert oder wurden in Zeiten des Militärputsch geschlossen. Aber ehrlich gesagt, haben wir nicht einmal in militärischen Putschzeiten einen derart intensiven Druck erlebt.
Was hat sich geändert?
Erdogan hat sich diesmal, im Unterschied zu seinen Vorgängern, seine eigenen Medien geschaffen. Also er hat die Zeitungen gekauft. Er hat sympathisierende Geschäftsleute dazu gebracht, Zeitungen zu kaufen. Deshalb ist der größte Medienboss der Türkei heute Erdogan.
Ihnen wird unter anderem Spionage vorgeworfen, weil die „Cumhuriyet“ über Waffenlieferungen der Türkei nach Syrien berichtet hat. Würden Sie das so wieder tun?
Natürlich. Es geht um das direkte Eingreifen in die Angelegenheiten Syriens. Die Tatsache, dass der Geheimdienst eines Landes Waffenlieferungen durchführt, ist ein Vergehen auf internationaler Ebene. Das ist kein Staatsgeheimnis, sondern das persönliche Geheimnis von Erdogan. Und weil wir das aufgedeckt haben, wird wohl so heftig auf uns reagiert. Sie leugnen es also nicht, sondern beschuldigen uns dafür, dass wir das aufgedeckt haben. Denn sie wurden auf frischer Tat ertappt.
Sie haben Europa immer wieder vorgeworfen, dass es zur schwierigen Lage der Presse in der Türkei schweigt. Was halten Sie von dem Flüchtlingsabkommen, das Europa vor kurzem mit der Türkei abgeschlossen hat?
Europa hat einen großen Fehler gemacht. Erdogan hat den Flüchtlingsjoker vorgehalten und seine repressive Politik vergessen lassen. Anders ausgedrückt: Europa hat Erdogan gesagt, mach drinnen was du willst, aber schicke mir keine Flüchtlinge. Leider ist das ein schmutziger Handel. Wir fühlen uns in dieser Sache geopfert.
Ähnlich denken auch die Kurden, die beklagen, dass Europa sich nicht für den Konflikt im Südosten interessiert. Ist es nicht so, dass dieser Konflikt auch in der Westtürkei kaum beachtet wird?
Leider ist es so, ja. Die Türkei ist leider nicht nur geografisch, sondern auch soziologisch und psychologisch gespalten. Der Osten und der Westen haben Schwierigkeiten, einander zu verstehen. Aber bevor sie sich nicht verstehen, ist kein Frieden in Sicht
Wohin steuert die Türkei?
Erdogan steuert ein Auto mit kaputten Bremsen in voller Fahrt auf eine Wand zu. Mir macht das nichts aus, aber leider sitzen wir auch in diesem Auto. Wir sehen, dass er außendynamisch in Bedrängnis ist und auch drinnen mit ernsten Problemen konfrontiert ist. Im Land besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs und die Türkei ist außer Kontrolle geraten. Ich glaube, dass wird auf absehbare Zeit ein Ende nehmen. Das eigentliche Problem ist, die Zeit nach Erdogan aufzubauen. Hier fehlt uns noch ein alternativer Plan.
Interview: Mirjam Schmitt, Linda Say (dpa)