Fatale Klassenignoranz: Wenn einem nur die AfD noch Aufmerksamkeit verschafft
Bei jeder Talkshow wird gefragt, ob sie zu männlich, zu weiß, zu wenig divers besetzt ist. Nach sozialer Repräsentanz fragt niemand. Ein Kommentar.
Es war einmal – der Arbeiter. Im Schweiße seines Angesichts verdiente er sein Brot, wurde ausgebeutet und als potenziell revolutionäre Triebkraft der Geschichte romantisiert. Karl Marx und Friedrich Engels entdeckten die Arbeiterklasse, es gab die Arbeiterliteratur und die Helden der Arbeit.
Hannes Wader sang Arbeiterlieder, und wem sich beim Film über das Schicksal von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti nicht vor Wut die Faust ballte, hatte weder Herz noch Gerechtigkeitsgefühl.
Heute spricht keiner mehr über Arbeiter. Sie sind verschwunden, aus der Öffentlichkeit wie verbannt. Im Fokus stehen alte, weiße Männer, die LGBTI-Bewegung, der Kampf um Straßenumbenennungen, Postkolonialismus, Antirassismus, eine gendergerechte Sprache, intersektionale Diskriminierung.
Bei jeder Talkshow wird gefragt, ob sie zu männlich besetzt ist, zu weiß, zu wenig divers. Nach sozialer Repräsentanz fragt niemand.
Die AfD ist innerlich heillos zerstritten
Bei der letzten Landtagswahl kam die AfD in Baden-Württemberg auf 9,7 und in Rheinland-Pfalz auf 8,3 Prozent der Stimmen.
In beiden westlichen Flächenländern verlor die Partei zwar massiv, sie bleibt jedoch ein starker politischer Faktor, zumal die Ausgangslage für sie ungünstig war: Die AfD ist innerlich heillos zerstritten, soll vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft werden, ihre zentralen Themen – EU- und Flüchtlingspolitik – spielten im Wahlkampf keine Rolle. Offenbar hat sich eine Stammwählerschaft herausgebildet, in der Arbeiter eine wichtige Rolle spielen.
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Ist die AfD die neue Arbeiterpartei? Gesine Schwan, Wolfgang Thierse und andere SPD-Granden wie Sigmar Gabriel haben mit ihrer Kritik an einer Überbetonung linksidentitärer Initiativen sicher auch die Machtverschiebung weg von der selbsternannten Arbeiterpartei hin zu den Rechtspopulisten im Blick.
In Baden-Württemberg bekam die AfD laut „Infratest dimap“ unter Arbeitern 26 Prozent (SPD: 10 Prozent), in Rheinland-Pfalz immerhin 19 Prozent (die „Forschungsgruppe Wahlen“ hat etwas niedrigere Zahlen). Das bestätigt den Trend aus den Landtagswahlen im Herbst 2019. Damals wählten in Brandenburg 44 Prozent und in Sachsen 41 Prozent der Arbeiter die AfD.
"Der Maßstab für Normalität"
Woran liegt die überproportionale Hinwendung von Arbeitern zur AfD? Der vulgär-marxistische Hinweis auf Angst vor dem Abstieg und Prekariatssorgen greift zu kurz. Weder lässt sich das Phänomen erschöpfend durch hohe Arbeitslosenquoten oder hohe Ausländeranteile erklären noch durch ökonomische Ungerechtigkeiten.
Rechtspopulistische Parteien sind auch in Ländern wie Dänemark, Schweden, Belgien und Ungarn stark, die sehr geringe einkommensbezogene Ungleichheiten aufweisen. Überdies vertritt die AfD durchaus marktliberale Positionen. Sie ist gegen eine Vermögensabgabe, will die Erbschaftssteuer abschaffen und Unternehmen steuerlich entlasten.
Der Soziologe Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena sagt: „Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar.“ Sie gibt den Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, „der Maßstab für Normalität zu sein“.
Die Nicht-Repräsentanz ihrer Lebensentwürfe in der medial vermittelten Öffentlichkeit empfinden sie als degradierend. „Diese sozial-kulturelle Abwertung treibt viele in eine Protesthaltung, sie landen schlimmstenfalls bei der AfD.“
Wenn die postmateriellen, global vernetzten und kulturell liberalen Großstädter nicht bald eine Form finden, in der sie Menschen mit eher traditionellem Wertekanon erreichen, könnten sich die Rechtspopulisten dauerhaft im Parteienspektrum etablieren. Anfang Juni wird in Sachsen-Anhalt gewählt. Dort liegt die AfD in Umfragen bei über 20 Prozent.