Von Donald Trump bis Geert Wilders: Rechtspopulismus: Es geht um Werte!
Je ärmer, desto AfD? Wählt Donald Trump, wer sich abgehängt fühlt? Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich diese These hält. Dabei hat der Aufstieg des Rechtspopulismus andere Ursachen. Ein Essay.
Parallel zum Aufstieg der Rechtspopulisten hat sich eine Klasse etabliert, die das Phänomen falsch deutet – es ist die Klasse der Vulgärmarxisten. Einige von ihnen mögen vom Dialektischen Materialismus und dem stets verkürzt wiedergegebenen Slogan „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ gehört haben, andere haben etwas Geschichte im Kopf, denken an die Zeit der Großen Depression, die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren. Allen gemeinsam ist die Überzeugung, wer rechts wählt, ist entweder arm oder abgehängt, arbeitslos, in prekärer Beschäftigung, leidet unter Ungleichheit, hat Abstiegsängste, kurzum: „It’s the economy, stupid", wie Bill Clinton sagte.
Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich diese These hält, obwohl die Gegenargumente triftig sind. Die AfD etwa ist eine Partei der Besserverdienenden. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gehört ein Drittel der AfD-Sympathisanten zum reichsten Fünftel der Bevölkerung, weniger als zehn Prozent machen sich Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation. Außerdem korrespondiert der Aufstieg der AfD mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland bei konstantem Wirtschaftswachstum.
Dänemark, Schweden, Belgien, Österreich und Ungarn wiederum liegen an der Spitze der Länder mit der geringsten einkommensbezogenen Ungleichheit. Der Maßstab dafür ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er liegt zwischen dem theoretischen Wert null (alle Bewohner eines Landes verfügen über dasselbe Einkommen) und dem Wert hundert (eine einzige Person verfügt über das gesamte Vermögen eines Staates). Dennoch sind rechtspopulistische Parteien dort viel erfolgreicher als etwa in Spanien und Griechenland, wo die Ungleichheit stärker ausgeprägt, die Arbeitslosigkeit hoch und das Wirtschaftswachstum niedrig ist.
Das Ressentiment gedeiht in guten wie in schlechten Zeiten
In den USA hat zwar die Ungleichheit in den vergangenen Jahren zugenommen, aber das Haushaltseinkommen eines Trump-Wählers liegt mit 72 000 Dollar erheblich über dem nationalen Durchschnitt von 62 000 Dollar. Eine Gallup-Studie, bei der 87 000 Trump-Anhänger befragt worden waren, kam zu dem Ergebnis: „Es scheint keine Verbindung irgendeiner Art zu geben zwischen der wirtschaftlichen Lage von Menschen und ihrer Unterstützung für eine nationalistische Politik in Amerika, wie sie von Trump personifiziert wird.“ Man höre und staune.
Offenbar gedeiht der Rechtspopulismus in guten wie in schlechten Zeiten, in überwiegend protestantischen wie katholischen Ländern, in skandinavischen Wohlfahrtsstaaten ebenso wie in der konservativen Schweiz, in angelsächsischen Demokratien wie den USA, Großbritannien und Australien ebenso wie in osteuropäischen Neu-Demokratien. Was aber erklärt ihn dann?
Vielleicht müssen dafür das Sein und das Bewusstsein in eine neue Balance gebracht, Marx und Hegel miteinander versöhnt werden. Das versucht seit 1981 der „World Values Survey“. Entwickelt wurde er von den amerikanischen Politikwissenschaftlern Ronald Inglehart und Christian Welzel. Ihnen zufolge lassen sich die Einstellungen von Menschen weltweit entlang von zwei Polaritäten darstellen. Da ist zum einen der Gegensatz zwischen traditionellen und säkular-rationalen Werten, zum anderen der Gegensatz zwischen existenziellen Werten und solchen der Selbstbestimmung.
Vertreter der traditionellen Werte betonen die Bedeutung der Religion, der Eltern-Kind-Beziehung, von Gehorsam, Fleiß und Familie. Dinge wie Ehescheidung, Abtreibung oder Sterbehilfe werden eher abgelehnt. Vertreter der säkular-rationalen Werte legen umgekehrt nur ein geringes Gewicht auf Religion, Familie und Autorität, zeigen sich aber offen für Scheidung, Abtreibung und Sterbehilfe.
Deutschland ist überwiegend säkular-rational geprägt
Ganz ähnlich verhält es sich mit der zweiten Matrix. Vertreter von existenziellen Werten streben nach wirtschaftlicher und physischer Sicherheit, tendieren zum Ethnozentrismus und verfügen über wenig Vertrauen und Toleranz. Wer dagegen die Werte der Selbstbestimmung vertritt, kämpft für die Umwelt und eine umfassende Teilhabe am politischen Leben, setzt sich für Ausländer ebenso ein wie für die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Behinderten.
Alle Länder der Welt lassen sich auf dieser Doppelmatrix verorten. Die Menschen in Marokko, Jemen und Jordanien etwa neigen stark zu traditionellen und existenziellen Werten. Ziemlich genau in der Mitte liegen Vietnam, Thailand und Portugal. In Schweden, Norwegen und Dänemark dagegen dominieren sowohl säkular-rationale Werte als auch solche der Selbstbestimmung. Deutschland ist ähnlich wie Skandinavien zwar überwiegend säkular-rational geprägt, aber die Werte der Selbstbestimmung sind hier weitaus geringer ausgeprägt.
Der Trend in den westlichen Gesellschaften geht deutlich weg von existenziellen und traditionellen Werten und hin zu größerer Liberalität. Das lässt sich insbesondere bei Jugendlichen und Akademikern konstatieren: Je gesicherter das eigene Dasein, je umfassender die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, desto dringlicher das Eintreten für Umweltschutz und Gleichberechtigung, für politische Partizipation und gesellschaftliche Toleranz.
Diesen Prozess der Wertewandels vom Existenziellen zum Postmateriellen beschrieb und antizipierte Inglehart, der an der University of Michigan lehrt, in seinem 1977 veröffentlichten Buch „The Silent Revolution". Jetzt zieht er Bilanz. Gemeinsam mit seiner Kollegin Pippa Norris von der Harvard University hat er einen Essay verfasst unter der Überschrift „Trump and the Xenophobic Populist Parties: The Silent Revolution in Reverse“. Die Schrift wird in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Perspectives on Politics“ erscheinen, Auszüge daraus hat vor wenigen Wochen vorab die „New York Times“ veröffentlicht.
Eine Reaktion auf die Dominanz des Postmateriellen
In einem Satz zusammengefasst heißt das Ergebnis: „Die Postmaterialisten haben sich womöglich ihr eigenes Grab geschaufelt.“ Die gebildete, global vernetzte und gut verdienende Klasse konzentriere sich in den Großstädten. Ein Großteil der Medien, die ebenfalls in den Großstädten residieren, spiegelt deren Werte wider. Von der Geschwindigkeit dieses öffentlichen Wertewandels überfordert sind demgegenüber die auf dem Land lebenden, älteren und weniger gebildeten Menschen. Bei ihnen geht der Trend zurück zu traditionellen und existenziellen Werten, zum Teil auch als Reaktion auf die Dominanz des Postmateriellen.
In einem Beitrag für die „Washington Post“ bezeichnet Norris diese Entwicklung als „cultural backlash“ gegen die längerfristigen sozialen Veränderungen. Frei übersetzt: Eine Konterrevolution gegen die 68er ist im Gange. Wenn Existenzielles auf Postmaterielles trifft, können Gefühle von Ignoranz und Marginalisierung entstehen. Eine Familie mit drei Kindern, die sich trotz Doppelverdienstes nur knapp über Wasser hält, fühlt sich von parteipolitischen Erörterungen über Transgender-Toiletten in Bezug auf die Dringlichkeit dieses Problems für ihre Lebenswelt leicht ausgeschlossen. Es kommt ihr wie eine Luxusdebatte vor.
Kaum anders ergeht es Vertretern traditioneller Werte, wenn ihnen, gewissermaßen als neues Ideal, Patchwork-Familien und polyamoröse Beziehungen präsentiert werden. Sie reagieren darauf meist ebenso schockiert und ablehnend, wie es die Anhänger säkular-rationaler Werte auf den Wahlsieg Donald Trumps taten.
Zwei Themen stehen im Zentrum der rechtspopulistischen Ideologie. Man ist gegen kulturelle Veränderung, gemessen am traditionellen und existenziellen Wertekanon, und gegen Einwanderung. Wirtschaftliche Themen spielen nur eine Rolle, wenn sie nationalistisch instrumentalisiert werden können. „America first!“
Wer das missionarische Moment dimmt, nützt der Sache mehr
Widerspruchsfrei ist die Rhetorik allerdings oft nicht. Ein AfD-Wähler etwa kann sich über den vermeintlichen Rassismus vieler Amerikaner gegenüber Barack Obama ebenso leidenschaftlich echauffieren, wie er seinen eigenen Rassismus gegenüber Geflüchteten aus Afrika pflegt. Ein Trump-Sympathisant, der vehement traditionelle Werte verteidigt, äußert sich im selben Atemzug tief besorgt über das Frauenbild von Migranten aus arabischen Ländern.
Was lehrt das? Soziale oder arbeitsmarktpolitische Programme bringen im Kampf gegen die Verbreitung des Rechtspopulismus wohl nur wenig. Andererseits kann und sollte niemand von den „globalists“ – also den Vertretern säkular-rationaler Werte sowie solcher der Selbstbestimmung – erwarten, eine Rolle rückwärts zu machen und den normativen Einsatz für postmaterielle Dinge zurückzufahren.
Notwendig scheint eher eine neue Bescheidenheit in den Geltungsansprüchen dieser Normen zu sein. Wer das missionarische Moment dimmt, nützt der eigenen Sache meist mehr. Und was ist schon so schlimm daran, der Gegenseite ein bisschen Patriotismus, traditionelles Familienleben und Autoritätsgläubigkeit zu gönnen? Zumindest sollte Widerspruchsfreiheit in der eigenen Rhetorik angestrebt werden: Toleranz zu fordern gegenüber Einwanderern aus überwiegend traditionell und existenziell geprägten Staaten, diese Toleranz aber traditionell und existenziell geprägten Einheimischen zu verweigern, entwertet die eigenen Werte.