Streit um Identitätspolitik in der SPD: Esken sucht Gespräch mit Thierse – „Wir schämen uns nicht für Dich“
Die SPD-Spitze verheddert sich in den Schlingen der Identitätspolitik. Thierse stellt seinen Parteiaustritt zur Debatte, die Parteichefin will deeskalieren.
Respekt zwischen Menschen ist immer wichtig, das brandneue SPD-Wahlprogramm erhebt ihn sogar zum Leitbegriff. Damit will Kanzlerkandidat Olaf Scholz die Kluft zwischen seiner Partei und unterprivilegierten Menschen mindern und Stimmen gewinnen. Doch wie oft in der Vergangenheit widerspricht der innerparteiliche Umgang der Sozialdemokraten in eklatanter Weise den öffentlich propagierten Werten – und droht das Konzept des Kandidaten zu ruinieren, bevor es überhaupt ausbuchstabiert ist.
Denn Teile der Parteiführung haben sich in einer Debatte über Identitätspolitik verheddert, in der sich inzwischen viele Teilnehmer missachtet und verletzt fühlen. Der Konflikt hat sich so zugespitzt, dass Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Brief an Parteichefin Saskia Esken seinen Parteiaustritt zur Debatte stellte. Thierse, der 15 Jahr lang SPD-Parteivize war, bat Esken, ihm „öffentlich mitzuteilen, ob mein Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich ist“.
Hätte die FAZ-Journalistin von der SPD ausgeladen werden müssen?
Was Thierse empört, ist ein Schreiben von Parteichefin Esken und Vizeparteichef Kevin Kühnert an die SPD-Arbeitsgemeinschaft Queer. Als Queer bezeichnen sich Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgenderpersonen. In dem Schreiben zeigten sich beide „beschämt“ über SPD-Vertreter, die ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichneten. Thierse bezog die Distanzierung auch auf sich, da auch ein von ihm am 22. Februar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) veröffentlichter Essay über Identitätspolitik von Angehörigen der Queer-Community heftig angegriffen worden war.
Auch andere Sozialdemokraten hatten nach Ansicht der Gruppe Minderheitenrechte verletzt. So stieß ein von SPD-Gremien veranstalteter „Jour fixe“ auf Empörung, den unter anderem die Vorsitzende der Grundwertekommission, Gesine Schwan, moderiert hatte.
Zu der Online-Veranstaltung war die FAZ-Kulturjournalistin Sandra Kegel zugeschaltet – und das ungeachtet von Protesten gegen ihre Teilnahme, die damit begründet wurden, sie habe einen „queerfeindlichen Kommentar“ zu Schauspielerinitiative „ActOut“ verfasst, bei der sich viele schwule und bisexuelle Schauspielerinnen und Schauspieler geoutet hatten. Aus der Sicht der Queer-Community wurden während des „Jour fixe“ Kegels „Kritiker*innen (...) scharf angegriffen“. Ein weiterer Vorwurf: Eine teilnehmende Person, die sich als nicht-binär bezeichnet, war als Mann angekündigt worden, wofür sich Schwan allerdings entschuldigte.
Esken und Kühnert jedenfalls schrieben, der Verlauf der Online-Veranstaltung sowie „die fehlende Zurückweisung von Grenzüberschreitungen und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen, (...) – all das beschämt uns zutiefst“. Offensichtlich auf Thierse bezog sich die Versicherung: „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden“, zeichneten „insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD“, das verstöre.
Beide baten um Nachsicht: „Kommt mit uns ins Gespräch und gebt uns die Chance, Euch im direkten Austausch zu versichern, dass Queerness und überhaupt gesellschaftliche Vielfalt in der SPD so viel empathischer und solidarischer betrachtet werden, als es in den vergangenen Tagen den Eindruck gemacht hat.“
Bei der Vorstellung des Bundestagswahlprogramms hatte Esken den Begriff „Respekt“ rund ein Dutzend Mal in den Mund genommen – bei ihrer Kritik an Thierse und Schwan aber hat sie es nach Meinung von Parteifreunden genau daran mangeln lassen. „Die sprachliche Respektlosigkeit von Frau Esken und Kevin Kühnert erinnert an Franz-Josef Strauß’ bajuwarischen Superlativ: ,Feind, Todfeind, Parteifreund’“, sagt Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, Mitglied der SPD-Grundwertekommission: „Mit keinem einzigen Argument begründen sie ihr unerbetenes Fremdschämen. Das wäre ein Minimum an intellektueller Redlichkeit gewesen. So reißt man Brücken ab, die eine Volkspartei braucht.“
Der Theologe Richard Schröder, Fraktionschef der SPD in der letzten Volkskammer der DDR, verwies auf die Thesen in Thierses Aufsatz und zitierte daraus: „Der unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein ist nicht alles. Er muss vielmehr eingebettet sein in die Anerkennung von Regeln und Verbindlichkeiten, übrigens auch in die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen.“ Sowie: „Opfer sind unbedingt zu hören, aber sie haben nicht per se recht.“ Er teile die Argumente vollständig, sagte Schröder. Er sei "empört" über den Umgang von Esken und Kühnert damit.
Auch Ralf Stegner, Vertreter des linken Parteiflügels, kritisiert die Form der Auseinandersetzung. „Rigorismus und Verdächtigungen helfen in dieser Auseinandersetzung nicht weiter", sagt der SPD-Fraktionschef in Kiel. Er habe Verständnis dafür, dass Betroffene von Diskriminierung sehr sensibel reagierten. Trotzdem gelte: "Die SPD muss Respekt für unterschiedliche Lebensstile und Respekt für Meinungsvielfalt haben." Den Essay von Thierse nimmt Stegner, der auch lange Parteivize war, ausdrücklich in Schutz. Der Text sei "ein sozialdemokratischer Beitrag über gesellschaftlichen Zusammenhalt und keine Aufforderung, Minderheiten zu missachten“.
Esken selbst bot Thirese inzwischen ein Gespräch an. In einem Schreiben an ihn bedauerte sie, dass ihre Einladung an die Community an „queer.de“ weitergegeben worden sei, weil der Text „dort missbraucht wurde im Versuch, uns gegeneinander auszuspielen“. Der Artikel der queeren Homepage nehme „grundfalsche Interpretationen“ vor. Sodann versichert die Parteichefin: „Wir distanzieren uns nicht von Dir, und wir schämen uns nicht für Dich.“ Thierse sei ein „verdienstvoller Genosse“ und „Teil meiner solidarischen Gemeinschaft, der SPD“. Das Gespräch fand laut "Spiegel" am Mittwochnachmittag statt, es sei aber keine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen worden. Thierse erwartet von der Parteichefin ein öffentliches Signal.
Die AG Queer der SPD will, dass Thierse in der Partei bleibt
In den sozialen Netzwerken wird Thierse immer noch als Feind von Minderheiten beschimpft, aber die AG Queer der SPD wählt nun freundlichere Töne gegenüber ihm. „Wir rechnen Wolfgang Thierse hoch an, dass er sich um den Gemeinsinn bemüht und sich gegen eine Spaltung der Gesellschaft ausspricht“, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit, allerdings stehe sein FAZ-Beitrag „im Widerspruch zur Haltung der SPD“, denn ihm fehle „Empathie und Einfühlungsvermögen für marginalisierte Gruppen und auch die gebotene Sensibilität“.
Und: „Trotz aller Kritik in der aktuellen Debatte, würden wir es bedauern, wenn Wolfgang Thierse die SPD verlässt. Wir sehen in ihm und seiner Biografie einen verdienten Sozialdemokraten, der nicht zuletzt durch sein intensives Engagement gegen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Anerkennung verdient.“ In der vorliegen Debatte aber habe er sich „verrannt“.
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Kanzlerkandidat Scholz bezieht sich in seinen Thesen zu „Respekt“ auch auf den US-Autor Michael Sandel. Der warnt, eine linksliberale Elite missachte mit ihrem progressiven Kulturkampf die Interessen Unterprivilegierter, die sich so missachtet fühlten. „Sandel hat recht“, sagt dazu Politologe Merkel. Zur Volkspartei gehöre die Wahrung von Minderheits- und Mehrheitsinteressen, wobei das Gleichheitsgebot Orientierung biete. „Genau so schreibt Thierse“, meint Merkel: „Wenn Frau Esken und Kevin Kühnert das nicht so lesen können, stehen sie quer zu den sozialdemokratischen Traditionen und sind fehl in der Führung einer Partei, die verzweifelt darum kämpft, Volkspartei zu bleiben.“
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