Start-up-Szene in Berlin: Was man von gescheiterten Gründern lernen kann
Pleite, Insolvenz – der Berliner Start-up-Gründer Marc Clemens ist gescheitert. Und wieder erfolgreich: Denn wer verliert, lernt Unbezahlbares. Nicht nur für den Job.
Ganz am Ende, als es wirklich vorbei ist, sind da nur noch er und ziemlich viele Kisten Wein. Marc Clemens sitzt in seinem Kreuzberger Büro. Sein Unternehmen, „Sommelier Privé“, ein Online-Weinhandel, ist insolvent, die Mitarbeiter entlassen, kein Buchhalter, keine Sekretärin mehr da. Und nicht einmal sein langjähriger Anwalt will ihn noch vertreten. Jetzt muss Clemens selbst tausende Seiten kopieren und die letzten Kisten an die Konkurrenz verkaufen. Marc Clemens fühlt sich wie gelähmt. Er ist gescheitert.
Im Sommer 2016, zwei Jahre danach, betritt Clemens – blonde Haare, breites Lächeln, schwarzes Hemd – eine Bühne. Es ist ein lauer Abend, im Erdgeschoss eines Kreuzberger Backsteingebäudes sitzen bei offenen Fenstern 300 junge Menschen. Sie haben Bier in der Hand und wollen Clemens’ Geschichte hören. Zum Auftakt sagt der 30-Jährige: „Ich hab’ die 7. Klasse wiederholt, bin von der Schule geflogen und hab’ ein Unternehmen vor die Wand gesetzt.“ Spontaner Applaus, Clemens lächelt.
Wer gescheitert ist, versteckt sich nicht
Scheitern ist ein Stigma, Fehlermachen verpönt. Im kleinen Universum der Berliner Start-ups sind Leute wie Marc Clemens trotzdem Helden. Die Szene kultiviert das Scheitern, gibt ihm eine neue Bedeutung. Wer gescheitert ist, hat etwas gelernt. Wer gescheitert ist, versteckt sich nicht, sondern redet darüber und fängt von vorn an. Und Clemens ist, wenn man so will, der Posterboy dafür.
Es ist kein Wunder, dass sich dieser Kulturwandel vollzogen hat – vor allem in Berlin. Es ist nicht nur die Stadt, in der der landeseigenen Investitionsbank zufolge alle 20 Stunden ein Start-up entsteht. In der es rund 3000 dieser jungen Firmen geben soll. Berlin ist auch die Stadt, in der jeden Tag zahlreiche Unternehmen pleitegehen: 2015 haben mehr als 1400 Firmen Insolvenz angemeldet – darunter Baufirmen, Kneipen, Verlage und Start-ups. Von den insolventen Firmen waren 443 jünger als drei Jahre.
Fürs Leben lernen
In Berlin hat also auch das Scheitern Konjunktur. Ganze Konferenzen widmen sich in Berlin der richtigen Art, zu versagen. Es gibt „Fuck up Nights“, wie jene in Kreuzberg, bei denen Gründer wie Clemens auf der Bühne stehen und erzählen, wie sie es versaut haben. Wenn die Berliner Gründer so gut im Scheitern sind, was kann man dann von ihnen lernen – und zwar nicht nur für den Beruf, sondern für das ganze Leben?
Wer sich die Geschichte von Clemens’ Scheitern abseits der Bühne noch einmal anhört, erkennt zunächst: Scheitern war auch für ihn ein Desaster. Clemens sitzt ein paar Tage nach der „Fuck Up Night“ mit weißem Hemd und Jeans im St. Oberholz, einem Café am Rosenthaler Platz, in das die meisten eher zum Arbeiten statt zum Reden kommen. Auf den Tischen reihen sich die Laptops. Clemens trinkt Tee. Was vor dem Publikum noch witzig klang, stimmt jetzt nachdenklich.
"Manchmal ist er übers Ziel hinaus geschossen"
Anfang 2012 will Clemens nach einem BWL-Bachelor in St. Gallen und dem Master in Paris ein Unternehmen gründen. Er hat keine Lust auf eine Festanstellung als Unternehmensberater, sondern will nach Berlin, sein eigener Chef sein. Das Geschäftsmodell: Bei Sommelier Privé kann man für 49 Euro ein Wein-Abo bestellen. Jeden Monat bekommt der Kunde drei Flaschen, die ein Algorithmus ausgesucht hat. 350 000 Euro stecken private Geldgeber zunächst in diese Idee. Clemens arbeitet manchmal 16 Stunden am Tag. „Marc war sehr ambitioniert und hatte große Erwartungen an sich selbst – da ist er manchmal übers Ziel hinausgeschossen“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter.
Nach anderthalb Jahren wird klar: So richtig läuft das Geschäft nicht. Clemens versucht einen Pivot – das heißt, er ändert das Geschäftsmodell. In der Szene ein üblicher Vorgang: Wenn das eine nicht funktioniert, probiert man etwas anderes. Trial and Error.
„Für Start-up-Gründer gehört Scheitern zum Alltag“, sagt Ralf Kemmer. Er hat das Konzept der „Fuck up Night“ nach Berlin gebracht und viele Geschichten des Versagens gehört. Start-ups seien meist auf Risikokapital angewiesen: „Bei den Gesprächen mit den Investoren müssen sie dementsprechend immer wieder auch Absagen einstecken.“ Dann heißt es: trotzdem weitermachen.
"Ich hab stark an mir gezweifelt"
Auch Clemens’ Pivot wäre an sich kein Problem. Er verkauft den Wein nun eben nicht mehr in Abos, sondern einzeln in einem kuratierten Online-Shop. Doch die Akquisitionskosten für neue Kunden sind noch immer zu hoch. Die Firma, die zu diesem Zeitpunkt 20 Leute beschäftigt, verbrennt zu viel Geld. Die Konsequenz: Clemens muss Mitarbeiter entlassen. Er rechnet das an einem Wochenende Mitte 2013 mehrmals durch und sieht keine Alternative. Er, der selbst kaum älter ist als die meisten seiner Angestellten, führt 20 Personalgespräche, bei denen er zwölf Kollegen kündigt. „Das war der Moment, mir einzugestehen, dass das, was ich aufgebaut habe, nicht funktioniert. Ich habe stark an mir gezweifelt.“
Dazu kommt: Clemens’ Freundin, mit der er zwei Jahre zusammen war, hat ihn verlassen. Ihr fehlte die Aufmerksamkeit. Schließlich war Clemens ständig beschäftigt. „Im Kopf habe ich nonstop gearbeitet.“ Keine Freunde getroffen, keine Zeitung gelesen. „Und nun brach auch das Unternehmen, das Teil meiner Identität geworden war, plötzlich weg“, erzählt er. Clemens vertraut sich selbst nicht mehr. Glaubt nicht daran, dass er noch gute Entscheidungen treffen kann – und entscheidet gar nichts mehr.
"Wer Erfolg haben will, muss die richtigen Schlüsse ziehen"
Wie geht man mit so einer Situation richtig um? Anruf bei Andrea Abele-Brehm, der Präsidentin der Deutschen Psychologischen Gesellschaft. Ob man gestärkt aus dem Scheitern hervorgehe, sagt sie, hänge davon ab, wie man es sich erkläre. „Wenn man Erfolg haben will, muss man die richtigen Schlüsse ziehen.“ Man dürfe sich nicht allein die Schuld geben. „Es wäre nicht konstruktiv zu sagen: ,Das liegt an mir – ich bin inkompetent‘ oder ,Ich bin einfach nicht liebenswert‘.“ Besser seien Sätze wie: „Ich kann es prinzipiell, aber noch nicht gut genug. Ich muss mich zusätzlich qualifizieren.“ Oder: „Die Marktbedingungen waren schlecht, ich hätte sie besser analysieren müssen.“ Diese Erklärungen lassen Auswege, machen Mut für das nächste Mal – wenn die Bedingungen günstiger sind oder man sich mehr anstrengt. Und auch beim Ende einer Beziehung müsse man sich fragen: „Was kann ich lernen?“
Und Clemens lernt. Er beginnt, Beruf und Privatleben strikter zu trennen. „Von nun an gab es die Privatperson Marc und den Geschäftsführer Marc. Beides sollte sich nicht mehr gegenseitig beeinflussen. Ich wollte mich als Person nicht mehr über meine Leistung als Geschäftsführer definieren.“ Marc, die Privatperson, geht jetzt wieder joggen und klettern. Marc, die Privatperson, identifiziert sich jetzt über Fragen wie: Bin ich ein guter Mensch? Wie gehe ich mit Freunden um? Und Marc, die Privatperson, findet eine neue Freundin. Auf einer Hochzeit in Spanien lernt er eine italienische Künstlerin kennen, die sich nicht für BWL interessiert. Aber für alles andere.
Freunde fragten: Musst du jetzt ins Gefängnis?
Bei Sommelier Privé erweitern sie nun das Sortiment. Sie machen den Shop komplett für Nichtmitglieder zugänglich, es gibt Rabattaktionen, über Crowdfunding wird Geld besorgt. Dennoch reicht es nicht. Wieder sind die Ausgaben für Werbung und Kundenbindung zu hoch. Sie machen einen letzten Pivot und entwickeln eine App, bei der der Kunde ein Weinlabel – etwa im Restaurant – fotografieren kann und den Geschmack bewertet, um vielleicht ein paar Flaschen zu bestellen. Kurz bevor die App fertig ist, springt ein Investor ab. Er spricht Clemens die Absage auf die Mailbox. Nach langen Debatten sagt ein zweiter Geldgeber ab. Am 20. August 2014 meldet Clemens Insolvenz an.
Seine Freunde fragen: Musst du jetzt ins Gefängnis? Andere raten ihm, sofort zu kellnern. Seine Mutter unterstützt ihn, damit er nicht Hartz IV beantragen muss. Es gibt oft Nudeln mit Ketchup. Und auch seine neue Freundin, mit der er zusammenwohnt, hat für die Insolvenz kein Verständnis, kann sich nicht in ihn hineinversetzen. „Dafür muss bei einem Unternehmer aber leider Verständnis da sein“, sagt Clemens. „Dieses Leben ist nun mal mit hohem Risiko behaftet.“
Die Risikobereitschaft der Gründer hilft ihnen, mit dem Scheitern umzugehen. „Das sind Menschen, die offen sind für neue Erfahrungen, die gerne aus gewohnten Bahnen ausbrechen“, sagt Psychologin Abele-Brehm. Emotional stabilen Personen mit hohem Selbstwertgefühl falle es leichter, eigenes Versagen zu verkraften. „Allerdings gilt: Je mehr Emotionen im Spiel sind, desto schwieriger ist es, rational an die Sache ranzugehen.“
Unternehmen suchen Gescheiterte
Kemmer, der „Fuck up Night“-Initiator, glaubt, dass der richtige Umgang mit dem Scheitern auch für große Unternehmen wichtig ist. Denn Mitarbeiter, die Angst hätten, Fehler zu machen, träfen ungern Entscheidungen. Und Neues entstehe, wenn man Dinge ausprobiere. „Keine Erfindung ohne Scheitern“, sagt Kemmer. Es gebe mittlerweile Unternehmen, die gezielt nach Kandidaten suchen, die „Narbengewebe“ vorweisen – die also wissen, was Scheitern bedeutet.
Ein solches Unternehmen ist die Metro AG. Der Handelskonzern lud die Initiatoren der „Fuck up Night“ zu einem Workshop ein. Thema: „How to fuck up right“. Dabei sollten die Mitarbeiter von Fehlern erzählen, die sie gemacht haben. „Da hieß es erst mal bei einigen: Fehler? Machen wir nicht“, erzählt Gabriele Riedmann de Trinidad, die bei Metro für Innovationen zuständig ist. Metro befindet sich im Wandel, vor allem durch die Digitalisierung: „Diese Prozesse sind so schnelllebig, es müssen so viele Entscheidungen getroffen werden, dass Fehler unvermeidbar sind.“ Vielen Mitarbeitern sei jahrelang eingebläut worden, dass sie keine Fehler machen dürften. Für Bewerber sei ein Start-up-Hintergrund, die Erfahrung des Scheiterns, deshalb ein Vorteil. „Leute, die aus ihren Fehlern lernen, sind sehr willkommen. Sie sind authentisch.“
Clemens ist gelassener geworden
Und was hat Marc Clemens gelernt? „Falsche Entscheidungen werden immer getroffen. Und je mehr Entscheidungen man treffen muss, desto mehr Fehler macht man. Dafür darf man sich nicht fertigmachen.“ Schließlich habe er immer nach bestem Wissen entschieden, aber mit seinem Produkt eben zu schnell zu viel gewollt. „Over-Engineering“ heißt das im Start-up-Sprech.
Marc Clemens ist gelassener geworden. Scheitern macht ihm zwar immer noch Angst, aber sie lähmt ihn nicht mehr. Er hat ein neues Unternehmen gegründet. „Code Control“ heißt es, das Geschäftsmodell ist einfach: Er vermittelt Programmierer an Firmen und entwickelt Software für Kunden. Von außen brauchte er diesmal kein Geld, das Unternehmen war sofort profitabel. Auch etwas, das er von Sommelier Privé mitgenommen hat. „Wir waren gefangen in diesem Geschäftsmodell, das man nur mit Fremdkapital zum Fliegen bringen kann.“ Bei der „Fuck up Night“ schimpft Clemens auf das durch Risikokapital finanzierte „Scheißbusiness“ – und trifft damit eigentlich fast die gesamte Szene.
"Viele schämen sich und schweigen"
Dass junge Gründer so offen über ihr Scheitern reden, hilft ihnen, darüber hinwegzukommen. „Viele schämen sich und schweigen. Aber wer über negative Erfahrungen spricht, kann sie leichter verarbeiten – das gilt für alle Lebensbereiche“, sagt Psychologin Abele-Brehm.
„Fuck up Night“-Initiator Kemmer sagt, wir bräuchten in Deutschland einen neuen Umgang mit dem Scheitern. „Schon in der Schule wird uns beigebracht, dass wir keine Fehler machen dürfen. Dabei sollten Kinder danach benotet werden, was sie sich trauen.“ Auch FDP-Bundeschef Christian Lindner, der selbst ein Unternehmen und zwei Millionen Euro Risikokapital verloren hat, fordert einen Mentalitätswandel. Vergangenes Jahr regte sich Lindner im Düsseldorfer Landtag über „Spott und Häme“ auf, derer sich Gescheiterte in Deutschland sicher sein könnten. Es sei ja kein Wunder, wenn sich „junge Menschen vor der Selbstständigkeit scheuen – und lieber in den öffentlichen Dienst gehen“.
Bei der „Fuck up Night“ in Kreuzberg kommt Marc Clemens mit seiner Geschichte zum Ende: „Arbeite nicht zu viel. Kümmere dich um deine Freunde – das hab’ ich mitgenommen.“ Applaus.
„Geile Story“, raunt einer im Publikum.