Investitionen brechen ein: Berlin verliert Titel als führende Start-up-Metropole
Trotz Brexit wird Berlin von London als führende Start-up-Hauptstadt überholt. Insgesamt halbieren sich die Investitionen für deutsche Gründer. Was bedeutet das für den Innovationsstandort?
Es war eine Sensation: Mit 2,1 Milliarden Euro ist 2015 in keine andere europäische Metropole mehr Risikokapital geflossen als nach Berlin – die deutsche Hauptstadt lag damit selbst vor der ewigen Siegerin London. Doch damit ist es nun vorbei. Zum Halbjahr muss Berlin den Titel als führende Start-up-Metropole wieder abgeben. Auch insgesamt brechen die Investitionen in deutsche Start-ups um die Hälfte ein.
Wie viel Geld wurde in Start-ups aus Berlin und Deutschland im ersten Halbjahr 2016 investiert?
Berlin schafft es im europaweiten Vergleich nicht mal mehr aufs Siegertreppchen. Mit einem Investitionsvolumen von 520 Millionen Euro belegt die deutsche Hauptstadt nur noch Platz vier. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 1,5 Milliarden Euro. London hat den ersten Platz zurückerobert mit einem Investitionsvolumen von 1,3 Milliarden Euro, gefolgt von Stockholm mit einer Milliarde Euro und Paris mit 673 Millionen Euro. Das zeigt das Start-up-Barometer der Beratungsgesellschaft Ernst & Young.
Der Einbruch der Investitionen spiegelt einen deutschlandweiten Trend wieder: Mit einem gegenüber zwei Milliarden Euro auf 957 Millionen Euro mehr als halbierten Gesamtwert belegen die deutschen Start-ups den dritten Platz hinter denen aus Großbritannien (2,2 Milliarden Euro) und Schweden (1,0 Milliarden Euro). Im Jahr zuvor hatte Deutschland die europaweite Rangliste angeführt.
Warum gehen die Investitionen so extrem zurück?
2015 gab es einen Rocket-Internet-Effekt, der das Ergebnis verfälscht hat. Die Berliner Start-up-Schmiede war 2014 an die Börse gegangen, das hatte frisches Geld in Rockets Kassen gespült, was das Unternehmen wiederum in eine Beteiligung am Lieferdienst Delivery Hero sowie in andere Start-up-Aktivitäten investierte. Hinzu kam im Januar 2015 die ebenfalls außerordentlich hohe Finanzierung des Onlinekreditgebers Kreditech in Höhe von 173 Millionen Euro. „Eliminiert man diese einmaligen und außerordentlichen Finanzierungen, gelangt man zu einer Finanzierungssumme von lediglich 787,3 Millionen Euro und damit zu einem Betrag, der dem aus diesem Jahr deutlich näher kommt“, heißt es in der Studie von Ernst & Young. Demnach hätte sich die Investitionssumme in Deutschland im ersten Halbjahr 2016 sogar um 169,7 Millionen Euro erhöht.
Berlins Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) wertet die Ergebnisse der Studie als wichtiges Signal: „Sie zeigen, dass die Spitzenposition nicht selbstverständlich ist. Wir müssen weiter hart daran arbeiten, uns im europaweiten Vergleich als Start-up-Standort zu behaupten und wieder auf Platz eins zu rücken“, betont sie. Angesichts der Entwicklungen ist sie nicht in Sorge um den Start-up- Standort Berlin: „Wir stehen weiterhin sehr gut da“, versichert Yzer. „Solche Einmaleffekte wie 2015 kann man nicht jedes Jahr wiederholen. Außerdem haben wir jetzt erst Halbzeit – Berliner Start-ups können in den nächsten Monaten also noch durchaus große Investitionen erhalten.“ Nach dem Brexit-Votum wirbt sie vor allem unter Londoner Fintechs für den Start-up-Standort Berlin.
Wie stark sind andere Länder und Städte?
Auch andere europäische Städte profitierten von starken Investitionen für einzelne Unternehmen. Allen voran Stockholm, wo der Musikstreamingdienst Spotify seinen Hauptsitz hat: 900 Millionen Euro gingen an das Start-up, was auch Schwedens gute Gesamtplatzierung begründet. Die zweithöchste Investition ging mit 177 Millionen Euro an den britischen Flugsuchdienst Skyscanner, das irische Fintech Future Finance Loan belegt mit 154 Millionen Euro Platz drei.
Weshalb belegt London den ersten Platz?
Mögliche Effekte durch das Brexit-Votum am 23. Juni sind im ersten Halbjahr noch nicht zu erkennen gewesen. Zwar erwägen jetzt einige Start-ups und auch etablierte Unternehmen aus London ihren Wegzug. "Doch die Folgen des Brexit-Votums werden wir eher mittel- bis langfristig spüren. Das deckt die Studie noch nicht ab“, erklärt Stefan Franzke, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Berlin Partner. „Wir rechnen aber insgesamt damit, dass sich die stärkere Fragmentierung des europäischen Marktes negativ auf Europa auswirken wird.“ Mit einem Minus von vier Prozent auf 6,4 Milliarden Euro ging der Gesamtwert der Risikokapitalinvestitionen in Europa tatsächlich im ersten Halbjahr nur leicht zurück, gleichzeitig stieg aber die Zahl der Finanzierungsrunden um 40 Prozent auf 1113. Das bedeutet, dass es zwar insgesamt weniger Geld gab – das wurde aber auf mehr Start-ups verteilt.
Wie steht Berlin im deutschlandweiten Vergleich da?
Trotz der deutlich geringeren Investitionssumme kann Berlin seine führende Position als deutsche Start-up-Hauptstadt ganz klar verteidigen. 122 Unternehmen erhielten hier die 520 Millionen Euro – mit weitem Abstand folgt Bayern, wo 42 Start-ups 194 Millionen Euro einsammeln konnten. Platz drei belegt Nordrhein-Westfalen mit 70 Millionen Euro Risikokapital für 21 Unternehmen. „Innerhalb Deutschlands spielt Berlin in einer ganz eigenen Liga“, betont Franzke.
Insgesamt stieg die Zahl der Finanzierungsrunden in Deutschland um 60 Prozent auf 249. Deshalb beruhigt Peter Lennartz, Partner und Start-up-Experte bei Ernst & Young, auch: „Auf den ersten Blick wirken die Zahlen bedenklich: Das deutschlandweite Investitionsvolumen bricht um mehr als die Hälfte ein, und obendrein verliert das lebendige und kreative Berlin gegenüber anderen europäischen Hauptstädten wie London oder Paris“, sagt er. Doch der zweite Blick zeige ein positives Bild: „Immer mehr deutsche Start-ups erhalten frisches Kapital, es gibt immer mehr mittelgroße Finanzierungsrunden. Das zeigt, dass deutsche Jungunternehmen für Investoren so attraktiv sind wie nie zuvor.“ Auch Florian Nöll, Vorsitzender des Bundesverbands Deutsche Start-ups, bleibt gelassen: „Wir haben die sehr starke Konzentration auf einige wenige Investments ohnehin kritisch gesehen“, sagt er. „Für die Balance der Start-up- Szene ist es besser, wenn die Investitionen besser verteilt sind.“
An welche Start-ups gingen die größten Investitionen?
Berlin führt ebenfalls die Top-5-Liste der Risikokapitaltransaktionen an: Das Start-up Soundcloud erhielt im Juni 62 Millionen Euro – so viel, wie kein anderes deutsches Unternehmen aus der Gründerszene. Dahinter folgen zwei Start-ups aus München: Der Verpackungsspezialist Xolution GmbH mit 45 Millionen Euro und die Fitness-App eGym mit 41 Millionen Euro. Das Berliner Fintech Number26 freute sich über 36 Millionen Euro, und an das Hamburger Vergleichsportal Finanzcheck gingen 33 Millionen Euro. Zwar hat keiner der großen deutschen börsennotierten Konzerne in Berlin seine Zentrale, doch sind viele dieser Unternehmen in der Hauptstadt mit Inkubatoren- und Acceleratorenprogrammen vertreten, mit denen sie junge Start-ups unterstützen. „Mit der stetig steigenden Zahl deutscher Industrieunternehmen, die ihre Start-up-Programme hier launchen, und dem starken Zuzug junger Talente nach Berlin ist die deutsche Hauptstadt auch weiterhin ein hervorragender Standort für Start-ups“, erklärt Franzke.
In welche Branchen fließt das meiste Risikokapital?
Das Beispiel Number26 zeigt: Fintech-Unternehmen gehören zu den großen Gewinnern. Firmen, die mit modernen Technologien den Finanzdienstleistungs- und Bankensektor revolutionieren wollen, erhielten im ersten Halbjahr 2016 229 Millionen Euro, womit sie die Start-ups aus dem Bereich E-Commerce überholen (144 Millionen Euro). Es folgen die Bereiche Software & Analytics (131 Millionen Euro), Gesundheit (93 Millionen Euro) und Medien & Unterhaltung (70 Millionen Euro).
Welchen Stellenwert haben Start-ups in der Berliner Wirtschaftspolitik?
Start-ups sind in Berlin mittlerweile Chefsache – und bisher ein Gewinnerthema. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) findet es „atemberaubend“, wie schnell Arbeitsplätze in der Digitalwirtschaft geschaffen werden. 270 000 sollen es bis 2030 werden. Seit 2012 fand dreimal ein Runder Tisch im Roten Rathaus mit Vertretern der Gründerszene statt, die ihre Sorgen und Wünsche äußern konnten. Die Senatskanzlei will die Infrastruktur für Start-ups weiter ausbauen. Ein „Start-up-Modellquartier“ soll im ehemaligen Flughafen Tempelhof entstehen. Da das Gelände noch zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt wird, steht ein konkreter Termin für den Einzug von Start-ups noch nicht fest.
Um mehr Wagniskapital für Start-ups in die Stadt zu bringen, hat der Senat 2015 eine Bundesratsinitiative gestartet, die noch nicht beschlossen ist. So soll der Bund die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Fonds- und Investitionsstandort für Wagniskapital durch bessere rechtliche und steuerliche Rahmenbedingungen stärken. Trotz des geringeren Investitionsvolumens hält der Senat die Start-up-Szene „für ein wichtiges Thema in Berlin“, sagt Senatssprecherin Daniela Augenstein. Sie erinnert an die Umsetzungsstrategie für die Smart City, die der Senat beschließen will: „Wir sind Smart-City-Hauptstadt.“
Dass sich der Senat so sehr auf junge Gründer und weniger auf Industriepolitik konzentriert hat, wurde von Gewerkschaften und Spitzen der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) mehrfach stark kritisiert.