Ärger im Innenministerium: Was hinter dem unautorisierten Corona-Bericht steckt
Ein Oberregierungsrat verbreitet wilde Thesen zur Coronakrise. Das Innenministerium distanziert sich. Forscher und Ärzte verteidigen den Bericht aber.
Ärger im Bundesinnenministerium: Einem Referenten wurde die Ausübung der Dienstgeschäfte verboten, nachdem er in einem 83-seitigen Papier seine Meinung zu den aus seiner Sicht unsinnigen Maßnahmen der Regierung gegen das Coronavirus verbreitet hatte. Das Problem: Er hatte dafür den Briefkopf des Ministeriums verwendet.
Am Wochenende war der Mitarbeiter bereits von seiner Tätigkeit entbunden worden. Ihm droht nun ein Disziplinarverfahren. Was den Oberregierungsrat aus dem Referat „Schutz Kritischer Infrastrukturen“ getrieben hat, bleibt unklar. Für sein Papier hatte der Mitarbeiter Forscher und Ärzte nach ihrer Einschätzungen unter zu den negativen Folgen der Corona-Maßnahmen angefragt.
Einer der Angefragten sagte dem Tagesspiegel, dass sie davon ausgegangen seien, dass die Anfrage des Mitarbeiters des BMI innerhalb seines Aufgabengebietes liege und dass er das Papier im Rahmen seiner Zuständigkeiten erstelle.
Innenminister Horst Seehofer erklärte bei einer Pressekonferenz am Mittwoch, dass der Mitarbeiter die Einschätzung der Forscher wohl nicht bekommen hätte, wenn er nicht in seiner Funktion als BMI-Mitarbeiter angefragt hätte. Ein Sprecher des Innenministeriums betonte, dass man sichergestellt habe, "dass eine solche irreführende Information der Öffentlichkeit zunächst einmal nicht mehr möglich ist".
Der betroffene Mitarbeiter ist SPD-Mitglied. Er versuchte sogar, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Doch nun wird er, ob gewollt oder nicht, zum Stichwortgeber für Verschwörungstheoretiker, die dem Staat in der Coronakrise finstere Machenschaften unterstellen. Das Magazin „Tichys Einblick“, nah am Rechtspopulismus, hat die 83 Seiten veröffentlicht und schlachtet sie aus.
Schwere Vorwürfe an die Bundesregierung
In dem Papier behauptet der Referent, es könne „keinen vernünftigen Zweifel mehr daran geben, dass die Coronawarnung ein Fehlalarm war“. Der Staat habe in der Coronakrise „in geradezu grotesker Weise versagt“.
Der Referent spricht von „Alarmismus“ und behauptet, die staatlichen Schutzmaßnahmen würden mehr Todesopfer fordern als das Virus. Portalchef Roland Tichy preist das Papier als „Verriss der bisherigen Politik“.
Kommentatoren hetzen gegen Regierung
Diese habe sich „von Horrorbildern wie den Abtransport von Särgen im italienischen Bergamo treiben lassen“. Die Stimmungsmache wirkt. Leser von „Tichys Einblick“ fühlen sich zu hetzerischen Kommentaren veranlasst. Einer schreibt, „wie kann es sein, dass unzählige Staatsanwälte wochenlang tatenlos dabei zuglotzen, wie eine gesamte Nation durch offenkundige Regierungskorruption in ihr Verderben gestürzt und vollständig gegen die Wand gefahren wird?“ Ein anderer vermutet, Bill Gates habe deutsche Staatsanwälte bestochen.
Wie das Papier zu „Tichys Einblick“ kam, ist offen. Der Oberregierungsrat hatte es vom dienstlichen Account an Behörden geschickt. Nach Erkenntnissen des Ministeriums war der Mann nicht der einzige Autor, von der „Beteiligung Dritter“ außerhalb des BMI ist die Rede. Betont wird, der Referent sei für das Corona-Krisenmanagement nicht zuständig gewesen. Das Papier entspreche in keiner Weise den Positionen der Bundesregierung und "sei eine Privatmeinung", ließ das Ministerium am Sonntag schon wissen.
Darauf reagierten schon am Montag die von dem Mitarbeiter angefragten Wissenschaftler und Ärzte mit scharfer Kritik am BMI. Das Schreiben wurde von einem der Befragten unter anderem auf dem Online-Portal "Achse des Guten" veröffentlicht. Die Forscher schreiben, dass sie die Reaktion des BMI "mit Verwunderung" zur Kenntnis nehmen.
Drosten kritisiert Einlassungen fachfremder Forscher
Zu den Wissenschaftlern, die die Antwort an das BMI unterzeichnet haben, gehören zehn Ärzte und Forscher, teils im Ruhestand. Unter anderem dabei ist auch Peter Schirmacher, Pathologie-Professor an der Uni Heidelberg und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Das ist durchaus heikel, denn die Leopoldina gehört zu den wichtigsten wissenschaftlichen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Corona-Krise. Virologen und Epidemiologen sind allerdings nicht unter den Unterzeichnern.
Zu den Unterzeichnern und Beratern für das Papier gehört auch Gunter Frank, Arzt für Allgemeinmedizin und Mitglied der ständigen Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Familienmedizin und Allgemeinmedizin (DEGAM) in Heidelberg. Er hat den offenen Brief der Forscher auf dem Portal „achgut.com“ veröffentlicht.
Er räumt im Gespräch ein: „Sicherlich lassen sich Ton und Begrifflichkeiten des Papiers an einigen Stellen optimieren". Die Reaktion des Ministeriums bezeichnet er aber als "Ablenkungsmanöver". Wichtig sei der Inhalt des Papiers und der sei derzeit "das Beste über die Nebenwirkungen und negativen Folgen der Corona-Maßnahmen, das wir haben“. Er kritisiert, dass sich das BMI bisher nur unzureichend zum Beispiel mit den Folgen des Lockdowns beschäftigt habe.
Vor der Anfrage des Mitarbeiters habe es keinen Kontakt zu ihm gegeben, erklärt Frank. „Er hat sich wohl die Experten in dem jeweiligen Fachbereich zusammengesucht und dann angefragt. Und diese haben wiederum ihre fachlichen Netzwerke genutzt", erklärt. Als „Corona-Leugner“ will Frank sich keinesfalls verstanden wissen. „Covid-19 ist eine absolut gefährliche Erkrankung insbesondere für die Risikogruppen. Aber ihre Bedrohung für die Gesellschaft wird etwas überschätzt.“
Das Problem ist aber: Wirklich fundierte Forschung zu den Nebeneffekten der Corona-Maßnahmen sind rar, wie eine Tagesspiegel-Recherche zuletzt zeigte. Unbestritten ist, dass zum Beispiel Behandlungen schwerer Erkrankungen teilweise verschleppt werden können und das negative Folgen für die Gesundheit der Betroffenen hat. Wie groß die genau sind? Das kann derzeit niemand genau beziffern. Ähnliches gilt für die Folgen der Pandemie auf die Psyche oder für die Folgen des Wirtschaftseinbruches für die Gesundheit.
In seinem aktuellen Podcast hatte der Charité-Virologe Christian Drosten die Einlassungen fachfremder Forscher in der Corona-Krise scharf kritisiert. Was er höre, zum Teil von „scheinbaren Fachleuten“, deren Expertise in anderen Bereichen liege, entbehre oft jeder Grundlage, sagte der Virologe. Dadurch werde auch „wirklich gefährlichen Verschwörungstheoretikern“ mit teils politischer Agenda der Rücken gestärkt. Drosten rügte das als „unverantwortlich“.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist am 13.5 ergänzt worden.
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