Drei Erklärungsversuche für erstaunliche Corona-Zahlen: Warum die Zahl der Toten in Deutschland vergleichsweise niedrig ist
Während in Italien, Spanien und den USA bereits Tausende am Coronavirus gestorben sind, ist die Zahl in Deutschland noch relativ niedrig. Was sind die Gründe?
Die Zahlen lassen einen verwundert zurück: Deutschland hat mehr als 100.000 Coronavirus-Infizierte, aber nur rund 2000 Tote. Anders Italien: Bei 135.000 Infizierten gibt es 17.000 Tote. Ähnlich ist es mit Spanien: 146.000 Infizierte, 14.000 Tote.
Etwa gleich viele Tote wie Deutschland haben die Niederlande, doch dort sind nur rund 20.000 Menschen infiziert. In Deutschland sind es also fünfmal so viele.
Wie kann das sein? Warum sticht Deutschland mit einer relativ niedrigen Zahl von Toten gemessen an der Gesamtzahl der registrierten Fälle - der sogenannten Fallsterblichkeitsrate - hervor?
Hendrik Steeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, erzählte jüngst der „New York Times“ , er habe zu dieser Frage schon Anrufe aus aller Welt erhalten. Richard Pebody, Experte der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hatte schon im März davor gewarnt, die Länder miteinander zu vergleichen, denn die Rahmenbedingungen spielten beim Thema Fallsterblichkeit eine große Rolle.
Warum steht Deutschland so viel besser da? Drei Erklärungsversuche:
Das Durchschnittsalter der Infizierten ist in Deutschland sehr niedrig
In Deutschland ist das Durchschnittsalter der Infizierten niedriger als in Ländern wie Italien oder Spanien. Laut Robert Koch-Institut sind die meisten COVID-19-Fälle (70 Prozent) zwischen 15 und 59 Jahre alt. In Italien hingegen sind laut einem nationalen Tagesbericht sogar 36 Prozent der Infizierten über 70 Jahre. Das Land hat insgesamt eine sehr alte Bevölkerung.
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Jünger heißt in vielen Fällen eben auch gesünder. Laut Hans-Georg Kräusslich, Leiter der Virologie der Uniklinik Heidelberg, hätten sich viele - und zwar junge Leute - in den österreichischen und italienischen Skigebieten angesteckt. "Es begann als eine Epidemie von Skifahrern", sagte Kräusslich der "New York Times".
Deutschland hat ein besseres Gesundheitswesen
Seit Wochen überfordert die hohe Zahl an Corona-Patienten das Gesundheitssystem in Italien und Spanien. Ärzte müssen entscheiden, welche Patienten sie an die Beatmungsgeräte anschließen und welche sie sterben lassen müssen.
Schuld an den verheerenden Zuständen ist nicht nur das Virus. „Nach jahrelangen Einsparungen ist das spanische Gesundheitssystem am Abgrund“, schreibt die Zeitung „El Periódico“. Der angesehene Politologe Vicenç Navarro klagt: „Neoliberale Politik tötet, sie gehört abgeschafft.“
Das spanische Gesundheitswesen, das eigentlich einen guten Ruf genießt, ist im Zuge der Eurokrise schwachgespart worden. Das Land hat seitdem knapp elf Prozent seiner Krankenhausbetten verloren.
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Nach jüngsten Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat hatte man 2008 noch 320 Betten pro 100.000 Einwohner, 2017 waren es nur noch 297. Vor 20 Jahren waren es sogar noch 365. In der EU-Rangliste ist Spanien weit hinten. Ganz vorn: Deutschland mit 800 Betten.
2017 gab Spanien 2371 Euro pro Kopf für die Gesundheitsversorgung aus - 15 Prozent weniger als der EU-Durchschnitt und fast 2000 Euro weniger als Deutschland.
Auch in Italien wird heftig über die Sparwut diskutiert. Die Ausgaben für den Gesundheitssektor sanken nach der Finanzkrise und betrugen 2017 nur noch 2483 Euro pro Kopf. „Es wurden verheerende Kürzungen vorgenommen“, sagt Guido Marinoni, Präsident des Ärztebundes der besonders betroffenen Stadt Bergamo.
Auch die Zahl der Intensivbetten unterscheidet sich deutlich: Italien mit rund 60 Millionen Einwohnern hatte vor der Krise nach Behördenangaben 5000 Intensivbetten. Weitere wurden inzwischen geschaffen. Großbritannien mit 66 Millionen Einwohnern hatte nach Angaben des nationalen Gesundheitsdienstes 4100 Intensivbetten.
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In Deutschland mit rund 80 Millionen Einwohnern gab es zunächst etwa 28.000 Betten, heute sind es etwa 40.000. Weitere Kapazitätssteigerungen sind von der Zulieferung weiterer Beatmungsgeräte abhängig. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sieht derzeit aber keinen Engpass.
Deutschland ist insgesamt nicht nur besser mit Betten versorgt, Kliniken haben auch schon vorzeitig Notfallpläne konzipiert, Personal aufgestockt, planbare Operationen verschoben und Stationen für Covid-19-Patienten freigeräumt.
Dass die Bundesrepublik selbst trotz zahlreicher Fälle in der Lage ist, Patienten aus besonders stark betroffenen Ländern aufzunehmen, spricht für sich. Den zeitlichen Vorsprung vor Italien und anderen Ländern konnte Deutschland nutzen, um sich vorzubereiten.
Der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, warnt dennoch seit Wochen vor einer Überlastung der Intensivkapazitäten in Krankenhäusern. Bei einer großen Zahl von Infizierten innerhalb kurzer Zeit könnte selbst der eigentlich geringe Anteil schwer Erkrankter zu einer Belastungsprobe für das Gesundheitssystem werden.
Deutschland testet mehr
Eine weitere Erklärung für die niedrige Sterblichkeitsrate ist, dass in Deutschland weit mehr Menschen getestet wurden als in den meisten anderen Ländern. Das bedeutet, dass mehr Menschen mit wenigen oder keinen Symptomen getestet werden, was die Zahl der bekannten Fälle, nicht aber die Zahl der Todesfälle erhöht.
Die angegebene Altersstruktur der Fälle in verschiedenen Ländern sagt nämlich vor allem etwas über das Testen in einem Land. Würden in Italien mehr Jüngere getestet, sähe die Fallsterblichkeit wahrscheinlich ganz anders aus.
Der Nothilfe-Koordinator der WHO, Michael Ryan, verweist auf die hohe Dunkelziffer bei den Infektionen: „In Deutschland gibt es eine sehr aggressive Teststrategie, deshalb dürften dort unter der Gesamtzahl der bestätigten Fälle mehr milde Fälle sein.“
Schon früh standen in Deutschland Test-Kits zur Verfügung. Mittlerweile werden in Deutschland rund 350.000 Coronavirus-Tests pro Woche durchgeführt. In den USA hieß es zunächst, jeder könne sich testen lasse. In Wahrheit war das aber nur sehr eingeschränkt möglich. In manchen Ländern werden bei Verstorbenen nachträglich Tests gemacht, in anderen nicht. Auch das ändert die Statistik. (dpa, Tsp)