Zulauf für Verschwörungstheoretiker: Sicherheitskreise warnen vor Eskalation der Proteste
Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht befürchtet einen weiteren Zulauf für Corona-Leugner. Die Politik müsse stärker gegenhalten.
In Politik und Sicherheitsbehörden wächst die Sorge über den wachsenden Zulauf für Verschwörungstheoretiker in der Coronakrise. „Wir sollten das auf keinen Fall unterschätzen“, sagte Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) am Sonntag dem Tagesspiegel. Die Propaganda gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie „wird auch von bürgerlichen Leuten vertreten, zum Teil mit krankhaften Zügen“. Das werde von Rechtsextremisten und Reichsbürgern genutzt.
Stahlknecht mahnte, die Politik müsse stärker gegenhalten „und stringenter argumentieren“. Die Glaubwürdigkeit leide, „wenn es einen Wettbewerb der Lockerungen gibt, obwohl sich das Virus keineswegs abgeschwächt hat“.
Die Ratlosigkeit schaffe ein "Erklärungsvakuum"
Ein hochrangiger Sicherheitsexperte sagte dem Tagesspiegel, angesichts der Ratlosigkeit vieler Menschen über den Fortgang der Coronakrise gebe es „ein Erklärungsvakuum“. Dort stießen rechte, aber auch linke Extremisten hinein. Die Sicherheitsbehörden bemühten sich, „der Politik Argumente gegen die Verschwörungstheorien an die Hand zu geben“.
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Minister Stahlknecht glaubt allerdings nicht an einen schnellen Erfolg im Kampf gegen die Verschwörungstheorien. Schon Dietrich Bonhoeffer habe gesagt, „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit“. Der evangelische Theologe hatte sich im Widerstand gegen das NS-Regime engagiert, im April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg hingerichtet.
Coronaleugner, Reichsbürger, rechte und linke Extremisten sowie verunsicherte Bürger hatten am Sonnabend in Berlin, Stuttgart, Frankfurt am Main, Köln, München und weiteren Städten gegen staatliche Beschränkungen demonstriert.
In Berlin kamen mehr als tausend Menschen zusammen, in Stuttgart waren es Tausende auf dem Cannstatter Wasen. Skandiert wurden Parolen wie „Legt den Maulkorb ab“, „Volksverräter“ und „Wir sind das Volk“.
In Gera beteiligte sich Thüringens Ex-Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) an einer Protestveranstaltung, bei der auch Rechtspopulisten mitmischten.
Proteste könnten eskalieren wie in der Flüchtlingskrise
Der vom Tagesspiegel befragte Sicherheitsexperte warnte, der teilweise irrationale Widerstand gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen könne eskalieren „wie die Proteste in der Flüchtlingskrise“. Auf den im Spätsommer 2015 stark anschwellenden Zustrom von Flüchtlingen hatten Rechtsextremisten, aber auch viele Normalbürger mit Bekundungen von Hass bis hin zu Anschlägen auf Unterkünfte von Asylbewerbern reagiert. Das Bundeskriminalamt stellte 2016 fest, viele Täter seien zuvor nicht als Extremisten bekannt gewesen.
Ein Fundament des Hasses
Der Hass, von dem auch die AfD profitiert habe, „ist auch jetzt noch als Fundament vorhanden“, sagte der Sicherheitsexperte. Darauf könnten Verschwörungstheoretiker bei ihrer Agitation gegen den Staat aufbauen. Die Reichweite sei enorm, „Millionen von Postings auf alternativen Plattformen im Internet werden von Millionen von Menschen gelesen“.
Ein weiterer Risikofaktor bei den Protesten in der Coronakrise seien „prominente Zugpferde wie Xavier Naidoo“, sagte der Experte. Mit ihrer Popularität würden sie die Verbreitung irrationaler Ansichten noch beschleunigen.
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Die Sicherheitsbehörden schauten sich die verschwörungstheoretischen Akteure genau an, sagte der Experte. Er nannte die Vereinigung „Widerstand 2020“, die sich inzwischen als Partei ausgibt und behauptet, 100 000 Mitglieder zu haben. „Das ist Quark“, sagte der Experte, „aber Widerstand 2020 hat bei den Protesten eine schon stärkere Wirkung“.
Er erwähnte zudem die Reichsbürger-Gruppierung „Verfassunggebende Versammlung“. Sie sei bei den Coronaprotesten besonders aktiv. Die „Verfassunggebende Versammlung“ hält die Bundesrepublik für ein „US-amerikanisches Unternehmen“ und diffamiert Amtsträger als „Volksverräter“.
Referent des Bundesinnenministerium argumentiert wie Coronaleugner
Unterdessen hat das Bundesinnenministerium das kritische Papier eines Mitarbeiters zum Krisenmanagement der Regierung als „Privatmeinung“ bezeichnet. Der Referent hatte sich in dem 80-seitigen Schreiben ähnlich geäußert wie Coronaleugner. Den Umgang mit dem Virus nannte er einen „globalen Fehlalarm“, die Gefahr sei nicht größer als die vieler anderer Viren.
Das Papier verbreitete der Referent mit dem Briefkopf des Innenministeriums. Das sei nicht akzeptabel, teilte das Ministerium am Sonntag mit. Der Mann wurde von seinen Dienstpflichten entbunden.