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Polizisten stehen an einer Kreuzung im Stadtteil Connewitz.
© Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Kommunikationsdesaster der Polizei?: Was gut eine Woche später über die Randale von Leipzig bekannt ist

Die Ereignisse in Connewitz haben die Republik aufgewühlt – und eine Debatte über die Glaubwürdigkeit von Polizeiinformationen entfacht. Eine Rekonstruktion. 

Nur eine Woche nach dem Silvesterkrawall in Leipzig hat das Amtsgericht der Stadt am Mittwoch in einem beschleunigten Verfahren einen Randalierer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 

Der 27-jährige nicht vorbestrafte Täter erhielt sechs Monate Haft, die Verbüßung wurde für zwei Jahre ausgesetzt. Allerdings war er an der Tat, über die seit einer Woche die Republik diskutiert, nicht beteiligt: Den Angriff auf einen Polizisten, den die Behörden als Mordversuch werten. 

Die Staatsanwaltschaft Leipzig ermittelt in dem Fall, der oder die Tatverdächtigen sind bislang allerdings unbekannt.

Was genau in der Silvesternacht in Connewitz passiert ist, ist dabei immer noch umstritten – und unklar. Fakt ist aber: Die Polizei ist in entscheidenden Punkten von ihrer Darstellung in der Silvesternacht abgerückt. Andererseits gilt: Ein Polizist, der in der Nacht attackiert wurde, ist schwer verletzt worden.

1. Januar, 04:42 Uhr: Die Polizei Sachsen informiert über die Ereignisse 

In der Pressemitteilung der Polizei heißt es: “Kurz nach Mitternacht fanden sich über eintausend Menschen am Connewitzer Kreuz zusammen. Nachdem zuerst Silvesterfeuerwerk gezündet wurde, wurden gegen 00:15 Uhr Polizeibeamte an der Selneckerstraße und an der Wiedebachstraße massiv mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Eine Gruppe von Gewalttätern versuchte einen brennenden Einkaufwagen mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben und beschossen diese massiv mit Pyrotechnik. Ein Beamter (m/38) wurde dabei so schwer verletzt, dass er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste. In diesem Fall ermittelt die Soko LinX wegen versuchten Totschlags. Drei weitere Beamte wurden leicht verletzt.”

Ganz ähnlich heißt es in einem Tweet: 

Noch am Nachmittag des 1. Januar kommen zwei weitere wichtige Informationen hinzu.

Die erste: Die Nachrichtenagentur dpa berichtete um 15:53 Uhr im Zuge der Ausschreitungen in Connewitz: “Dem Polizisten sei der Helm vom Kopf gerissen worden, bevor er attackiert wurde, hieß es aus Polizeikreisen.”

Die zweite: Leipzigs Polizeipräsident kritisierte "offensichtlich organisierte Angriffe", bei denen die Täter "schwerste Verletzungen von Menschen verursachen beziehungsweise in Kauf nehmen."

Was ist von den ursprünglichen Behauptungen geblieben, knapp eine Woche nach dem Ereignis? Eine Rekonstruktion.

Behauptung 1: Die Polizei wurde massiv mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern angegriffen

Die Behauptung ist unstrittig. Die Szenen sind in einem Video aus der Silvesternacht zu sehen, das “Zeit Online” am 6. Januar veröffentlicht hat. Darin ist zu erkennen, wie Beamte gezielt mit Raketen beschossen und mit Böllern beworfen werden. Außerdem greift vermummte Männer zwei Polizisten bei einer Verhaftung unter anderem mit einem Sprung in den Rücken an. Als die Beamten am Boden liegen schlagen Feuerwerkskörper neben ihnen ein. Mehrere Vermummte gehen in dieser Situation auf die Beamten los.

In dieser Situation kommt es auch zu der schweren Verletzung des Polizisten, die im Zentrum der Debatte um die Ereignisse der Nacht steht. Die Aufnahme ist zu unklar und der Filmende zu weit vom Geschehen weg, um Details der Auseinandersetzung nachzuvollziehen. Deutlich zu sehen ist im Video aber, wie eine Gruppe von Polizisten ihren bewusstlosen Kollegen kurze Zeit später aus der Gefahrenzone schleift.

Was dabei aber auch klar wird: Nicht nur die Beamten sind in großer Gefahr. Auch viele der Personen, die sich am Krawall beteiligen, werden durch ihre “eigenen” Leute gefährdet.

Und, was bisher in der Darstellung der Ereignisse nur am Rande vorkommt: Später in der Nacht kam es auch zu massiver Gewaltanwendung der Polizisten gegenüber den Teilnehmern der Silvesterfeierlichkeiten in Connewitz. Das zeigt ein Video, das die “Leipziger Volkszeitung” am 8. Januar, veröffentlichte. 

Polizisten räumen eine Kreuzung in Connewitz.
Polizisten räumen eine Kreuzung in Connewitz.
© Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Am Rande des Geschehens wird ein Polizist getreten, schreibt die “Leipziger Volkszeitung” über das Video, woraufhin fünf Beamte den Angreifer einkesseln, wiederholt auf ihn einschlagen und ihn schließlich abführen. 

Die Szenen spielten sich rund eine Stunde nach dem Vorfall ab, den die Leipziger Polizei am Neujahrstag in ihrer Mitteilung beschreibt und die das von "Zeit Online" veröffentlichte Video zeigt. Böller oder Raketen wurden zu dieser Zeit schon nicht mehr abgefeuert. 

Behauptung 2: Eine Gruppe von Gewalttätern versuchte einen brennenden Einkaufwagen mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben. 

Schon am 2. Januar relativierte das LKA Sachsen in einer Mitteilung die Aussage leicht: “Darüber hinaus wurde ein brennender Einkaufswagen (...)  in Richtung der Polizeibeamten geschoben.”

Am 3. Januar schwächt der Leipziger Polizeipräsident Torsten Schultze in einem Interview mit “Zeit Online” weiter ab: “Menschen haben versucht, in Richtung von Polizeibeamten einen brennenden Einkaufswagen zu schieben.”

Der brennende Einkaufswagen machte Schlagzeilen.
Der brennende Einkaufswagen machte Schlagzeilen.
© Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Dass Schultze die Situation wohl richtig beschreibt, legt das von “Zeit Online” veröffentlichte Video nahe: Darin ist zu sehen, wie der brennende Wagen angeschoben wird, ein paar Meter rollt und dann zum Stehen kommt. Polizisten sind in dem Video in direkter Nähe des Wagens nicht zu sehen. Dass sie aber weiter weg in der Rollrichtung des Wagens stehen, lässt sich anhand der Bewegung und Blickrichtung der an den Krawallen Beteiligten zumindest vermuten.

Behauptung 3: Dem Polizisten wurde der Helm vom Kopf gerissen

Am 2. Januar bekräftigte das LKA Sachsen die ursprüngliche Aussage und sprach jetzt sogar von mehreren Beamten: “Die Täter rissen den Beamten die Einsatzhelme vom Kopf, brachten diese zu Fall und wirkten massiv auf sie ein”,  schrieb das LKA in einer Mitteilung. 

Diese Aussage schränkte der Leipziger Polizeipräsident am 3. Januar ein: “Wir wissen auch noch nicht genau, was mit dem Helm des schwerverletzten Kollegen passiert ist”, sagte er “Zeit Online”. Und weiter: “Wir gehen davon aus, dass der Helm von seinem Kopf gerissen wurde, denn anders kommt man ja nicht an die Ohren heran, aber die genauen Umstände müssen noch geklärt werden.”

Dass Beamte - auch jener, der in der Nacht schwer verletzt wurde - in den betreffenden Augenblicken in Connewitz ohne Helm waren, zeigt das Video, das “Zeit Online” aus der Silvesternacht veröffentlicht hat. Warum die Polizisten die Helme nicht tragen, ist in dem Video nicht ersichtlich.

Auch ein Bericht auf dem Lokalportal “Leipziger Internet Zeitung” vom 2. Januar, der sich auf Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen stützt, beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, ob und warum die Polizisten in der gefährlichen Situation keinen Helm trugen. Dort wird beschrieben, dass einer Polizisten seinen Helm bei einem Tritt in den Rücken verlor, ob vom Kopf oder aus der Hand sei nicht klar.

Behauptung 4: Es kam zu organisierten Angriffen auf Polizisten 

Bisher lässt sich diese Behauptung mit dem bekannten Videomaterial werden belegen noch gänzlich widerlegen. In dem Video, das “Zeit Online” veröffentlicht hat, sind keine offensichtlich koordinierten Angriffe zu erkennen. Was nicht bedeutet, dass sie an anderer Stelle oder davor oder danach nicht stattgefunden haben.

Behauptung 5: Ein Polizist wurde so schwer verletzt, dass er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste

Das ist die Behauptung vom Neujahrsmorgen, die am meisten Aufmerksamkeit bekam und um die in der Folge am heftigsten gestritten wurde. Zahlreiche Medien (darunter auch der Tagesspiegel) deuteten das in ersten Meldungen zur Neujahrsnacht so, dass der Polizist lebensgefährlich verletzt worden sei. Auf Nachfrage war am Neujahrsmorgen bei der Polizei in Leipzig waren keine weitergehenden Informationen verfügbar.

Polizisten in Connewitz im Böllerhagel.
Polizisten in Connewitz im Böllerhagel.
© Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

So nahm die Interpretation, dass ein Polizist in Connewitz fast zu Tode gekommen sei, seinen Lauf. 

Am 2. Januar hatte das LKA in einer Mitteilung nüchterner geschrieben: Bei den Vorfällen “wurde ein Beamter schwer verletzt und musste zur Behandlung in das Universitätsklinikum Leipzig verbracht werden, wo er stationär aufgenommen wurde.”

Dass der Polizist in Lebensgefahr war, legte an diesem Tag auch eine Aussage von Tom Bernhardt, Sprecher des LKA in Sachsen, am 2. Januar gegenüber dem Tagesspiegel nahe: „Der Kollege ist außerhalb der Lebensgefahr“, sagte Bernhardt, „er konnte befragt werden, hat aber schwere Aussetzer in der Erinnerung“.

Am 2. Januar stellte ein Bericht in der Tageszeitung “taz” die Lage wiederum ganz anders dar. In dem Bericht klang es eher nach einer vergleichsweise leichten Verletzung. Dort heißt es: “In Krankenhauskreisen zeigte sich man sich verwundert über diese Darstellung und die Polizeimeldung von einer „Notoperation“. Von dort erfuhr die taz, dass es einen Eingriff an der Ohrmuschel des Beamten unter lokaler Betäubung gegeben habe. Der Mann sollte demnach am Donnerstag oder Freitag wieder entlassen werden. Lebensgefahr oder drohender Gehörverlust hätten nicht bestanden"

Auch die Polizei rückte langsam von der dramatischen Darstellung des Neujahrsmorgens ab.

Am 3. Januar bestätigte der Sprecher der Leipziger Polizei, dass es keine Notoperation gegeben habe. In der Silvesternacht sei dies der Kenntnisstand gewesen, sagte Loepki. Der Begriff Not-OP sei "im weiteren Sinne nicht falsch". Es sei aber der Eindruck entstanden, nur durch die OP habe das Leben des Kollegen gerettet werden können. "Das stimmt nicht." Eine lebensbedrohliche Verletzung habe nicht vorgelegen. Dass die Verletzung schwer war, daran ließ er aber keinen Zweifel. 

Gegenüber dem "Spiegel" erklärte er, der operative Eingriff sei "dringend erforderlich" gewesen, weil sonst "bleibende Schäden nicht auszuschließen gewesen wären".

Der Polizeipräsident von Sachsen, Horst Kretzschmar, sah aber offensichtlich kein Problem in der missglückten Kommunikation. Am 3. Januar, nach der Kritik an der Darstellung der Polizei befragt, sagte er: “Die Polizei wird nie Falschinformationen verbreiten. Davon möchte ich mich ausdrücklich distanzieren.”

Am 3. Januar äußerte sich mit Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze ein hochrangiger Beamter das erste Mal ausführlich zum Geschehen. In dem Interview mit “Zeit Online” sagte er: “Drei Beamte wurden (...) leicht verletzt, ein Beamter schwer, sodass er bewusstlos wurde. Aber selbst in dieser Szene wurde er noch attackiert.”

Weiter sagte er: “Der maßgeblich betroffene Beamte war bewusstlos, blutete stark, musste, noch immer bewusstlos, von der Straße gezogen und durch seine Kollegen erstversorgt werden. Zudem bestand danach das Erfordernis einer dringlichen Operation. Eine Not-OP im engeren Sinn der ärztlichen Handlung gegen eine lebensgefährliche Verletzung lag nicht vor.”

Dass der Beamte bewusstlos von der Straße gezogen wurde, ist in dem Video aus der Nacht zu sehen (siehe oben).

Schultze weiter: “Ein Arzt hat mir gesagt, dass ein Ohr des Polizisten fast abgerissen und wieder angenäht wurde… Die Wundversorgung war sofort zu veranlassen, weil sonst bleibende Schäden nicht auszuschließen gewesen wären.”

Am 4. Januar dann sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Leipzig, Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz, dem Tagesspiegel: „Der Polizeibeamte wurde durch massive Einwirkung einer Vielzahl von Tätern so schwer geschädigt, dass er bewusstlos wurde.“ Er habe ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Das sei „potenziell lebensbedrohlich“, betonte Schulz. Ob es eine Not-OP gegeben habe, sei für den Vorwurf des Mordversuchs nicht relevant.

Stand 9. Januar ermittelt die Staatsanwaltschaft immer noch wegen des Verdachts auf versuchten Mord und spricht von einer Attacke, die lebensbedrohliche Folgen hätte haben können.

Lebensbedrohlich, das zeigen die Videoaufnahmen aus der Nacht, war die Situation aber nicht nur für die beteiligten Polizisten, sondern wohl für alle, die sich zu diesem Zeitpunkt im Raketenhagel befanden.

Wer hat nun Recht? - das Fazit

Nach einer Woche aufgeregter Debatte bleibt die Erkenntnis, dass einige der ersten Angaben der Polizei vom Neujahrstag nicht stimmten (Lebensgefahr für den Polizisten inklusive Not-OP, der brennende Einkaufswagen, der mitten eine Gruppe Polizisten geschoben werden sollte) – andere sind schlicht mit dem öffentlich verfügbarem Material nicht überprüfbar (Helm, organisierte Angriffe).

Unbestritten ist aber, und das zeigen auch die bisher veröffentlichten Videos, dass die Polizisten mit Feuerwerk und tätlich attackiert wurden. Mit schwerwiegenden Folgen.

Auch Stefan Jarolimek, der als Professor für Kommunikationswissenschaft an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster arbeitet, sieht die Kommunikation am Neujahrstag kritisch. „Die Leipziger Polizei hätte weniger emotional mit der Tatsache umgehen können, dass ein Kollege schwer verletzt wurde. Die Kommunikation war in diesem Fall zumindest in Teilen unglücklich.”

Konkret: “Die Verletzung wurde aber zur Hauptmeldung des Tweets und in Teilen der Pressemitteilung gemacht. Es wurde nicht vornehmlich darüber berichtet, was der Anlass war, was genau passiert ist. Am Ende hätte ein kurzer nüchterner Satz gereicht, dass ein Beamter schwer verletzt wurde.”

Dass die Debatte über die Kommunikation der Ereignisse der Nacht solche Ausmaße annimmt, hat aber auch den Polizei-Kommunikationswissenschaftler überrascht.

Wie es zu solchem missverständlichen und teilweise falschen Mitteilungen kommt? Auch spielten manchmal Erwartungen der Kollegen an die Presseabteilungen eine Rolle, dass bestimmte Tatsachen prominent kommuniziert werden, sagt Jarolimek. In einer solchen Situation müssten sich aber die Verantwortlichen ihrer Rolle bewusst sein und auf das Vier-Augen-Prinzip achten. „Die Beamten müssen sich jederzeit klar bewusst machen, was sie schreiben und was sie damit kommunizieren.“

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