Dem Präsidenten läuft die Zeit davon: Was die Wahlverluste für den ANC in Südafrika bedeuten
Der ANC kann trotz des historisch schlechten Ergebnisses alleine weiterregieren. Doch die Stimmung könnte kippen. Ramaphosa muss nun liefern. Eine Analyse.
25 Jahre nach den ersten freien Wahlen haben die Südafrikaner am Mittwoch über die Zukunft ihres Landes abgestimmt. Was sonst oft eine Plattitüde ist, beschreibt die Lage am Kap in diesem Fall treffend. 25 Jahre sind vergangen, seit die gesamte Welt nach Südafrika schaute: Das rassistische Apartheid-System wurde am 27. April 1994 hinweggefegt, Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten gewählt. 25 Jahre herrscht die Partei der Ende 2012 verstorbenen Ikone, der afrikanische Nationalkongress, allein. Und der ANC kann dies trotz herber Stimmenverluste nun weiter tun: Dem am Samstag veröffentlichten Endergebnis zufolge kam die Partei auf nur noch etwa 57,5 Prozent. 2014 waren es noch 62 Prozent gewesen (2009: 65,9 Prozent).
Wie die einstige Befreiungsbewegung herrscht, ist ernüchternd und erschreckend: Südafrika ist weit entfernt von Mandelas Traum der „Regenbogennation“ eines in Vielfalt geeinten Staats. Das Land ist zwar das am weitesten entwickelte des Kontinents, aber weltweit auch das mit der größten Ungleichheit, der ungerechtesten Einkommensverteilung.
Die Touristenmetropole Kapstadt mit ihrer großen Sportwagendichte oder den trendigen Bars unterhalb des Tafelbergs spiegelt nicht die Lebenswirklichkeit der großen Masse aller 55 Millionen Einwohner wider, von denen nur acht Prozent Weiße sind.
Auch wenn die ANC-Regierung in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr feste Unterkünfte für Menschen in und aus den Townships baute, Millionen Haushalte an Strom und Wasser angeschlossen wurden, Mütter, Waisen und Rentner heute Anspruch auf staatliche Gelder haben und auch wenn sich eine kleine schwarze Mittelschicht entwickelt: Die Frage der Lebensqualität ist noch immer eine Frage der Ethnie. Mehr als 50 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, mehr als 20 Prozent der schwarzen Haushalte dem Institute Race Relations zufolge sogar in schlimmer Armut. Täglich verhungern in Südafrika Kinder.
Offiziell ist fast jeder Dritte im Land arbeitslos, bei den Jüngeren sind es sogar mehr als 50 Prozent. Die Kriminalität ist enorm hoch. Auch wenn die meisten Morde in den Townships geschehen: Gewalt gehört für alle Südafrikaner zum Alltag.
„Politische Ernüchterung und Zynismus“
Die Hoffnung vieler Schwarzer vor 25 Jahren war riesig, die Zuversicht groß. Schließlich verfügt Afrikas größte Volkswirtschaft über enorme Ressourcen: Bodenschätze, Landwirtschaft, Touristenattraktionen. Heute herrschen im Land „politische Ernüchterung und Zynismus“, wie der südafrikanische Erzbischof Stephen Brislin sagt.
In Zahlen drückt sich das so aus: 1999 lag die Wahlbeteiligung bei fast 88 Prozent, 2014 waren es 73 und jetzt nur noch 65 Prozent. Auffällig war schon 2014, dass sich kaum Erstwähler der Born-Free-Generation, die nach dem Ende der Apartheid auf die Welt kam, eintragen ließen. In diesem Jahr haben sich etwa neun Millionen Wahlberechtigte, ein Viertel der potenziellen Wähler, gar nicht erst registrieren lassen und waren damit von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Unter denen, die auf ihr Wahlrecht verzichteten, waren auch wieder sehr viele junge Menschen.
In Zahlen drückt sich das so aus: 1999 lag die Wahlbeteiligung bei fast 88 Prozent, 2014 waren es noch 73. Auffällig war schon damals, dass sich kaum Erstwähler der sogenannten Born-Free-Generation, die nach dem Ende der Apartheid auf die Welt kam, für die Wahl eintragen ließen. Und in diesem Jahr haben sich etwa neun Millionen Wahlberechtigte, ein Viertel der potenziellen Wähler, gar nicht erst registrieren lassen und waren damit von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Unter denen, die auf ihr Wahlrecht verzichteten, waren auch wieder sehr viele junge Menschen.
Schon in den vergangenen Jahren war in Gesprächen über Politik und Zukunft des Landes immer mehr Hoffnungslosigkeit und Resignation zu spüren. Es war die personifizierte Perspektivlosigkeit: Vor allem der heute 77-jährige Präsident Jacob Zuma hatte das Land mit seiner Sippe und seinen Günstlingen systematisch ausgebeutet. Von 2009 bis 2018 stand er an der Spitze des Staates; überstand jahrelang Korruptionsskandale, deren Dimensionen nach westlichem Verständnis unvorstellbar waren.
Unter Zuma stieg die Staatsverschuldung stetig, die Währung Rand schmierte ab, Rating-Agenturen stuften das Land auf Ramschniveau. Heute stockt die Wirtschaft, ausländische Investoren werden abgeschreckt. Staatliche Misswirtschaft plagt die Bürger im Alltag: Wassermangel, rationierter Strom, massive Probleme im Gesundheits- und Bildungssektor.
Ramaphosa setzte knapp gegen Zuma durch
Erst im Februar 2018, nachdem der ANC bei Regionalwahlen zwei Jahre zuvor heftige Rückschläge erlitten hatte, drängte die Partei Zuma, der sich teilweise wie ein König geriert hatte, zum Rücktritt. Viele Südafrikaner atmeten auf, scheint doch sein Nachfolger ob seiner Vita persönlich frei von jeglichem Korruptionsverdacht zu sein.
Der heute 66-jährige, in Soweto geborene ehemalige Gewerkschaftsführer Cyril Ramaphosa galt als politischer Ziehsohn Mandelas, wurde als möglicher Nachfolger des ersten schwarzen Präsidenten gehandelt. Die damalige ANC-Führung entschied sich aber für einen anderen Kandidaten; Ramaphosa zog sich enttäuscht zurück und ging in die Wirtschaft. So brachte er es zum Multimillionär.
Anfang 2018 setzte er sich dann im Machtkampf innerhalb des ANC gegen Zuma durch – denkbar knapp. Ramaphosa erschien vielen im Land als Heilsbringer, untermauerte dieses Image gleich am Anfang seiner Präsidentschaft durch populäre Auftritte wie Morgenspaziergänge mit Bürgern in Kapstadt. Undenkbar beim unnahbaren Jacob Zuma.
Korruption in allen Lebensbereichen
Fakt ist: Zuma hat seine Landsleute nicht allein um immense Steuersummen betrogen. Durch die jahrzehntelange Alleinherrschaft des ANC hat sich ein korruptes System entwickelt, das sich auf allen Ebenen des täglichen Lebens zeigt: von Hinterzimmer-Deals, in denen öffentlich Aufträge vergeben werden, bis zum Schmiergeld, das der Polizeibeamte für das angebliche Verkehrsdelikt verlangt.
Am Kap ist etwas gewachsen, was der Chef der größten Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) Ende vergangenen Jahres im Gespräch mit dem Tagesspiegel als das „Krebsgeschwür Südafrikas“ bezeichnete. Der 38-jährige Mmusi Maimane, wie Ramaphosa in Soweto geboren und für viele ein großer Hoffnungsträger, sagte: „Der ANC wird nie gegen Korruption vorgehen. Es ist wie ein Krebs, der in den Blutbahnen des ANC sitzt und verhindert, dass die Partei anders agiert.“ Bei der Wahl konnte die DA nicht von den Korruptionsskandalen profitieren. Die Partei gab im Vergleich zu 2014 sogar leicht nach von 22 auf knapp 20,8 Prozent.
Historischer Bonus für ANC
Die Probleme Südafrikas sind so komplex wie seine Gesellschaft mit den offiziell elf Landessprachen. Der ANC verfügt gerade bei älteren Südafrikanern immer noch über einen historischen Bonus, das zeigt auch diese Wahl. Doch manche Experten glauben, dass diese die letzte gewesen sein könnte, die der Partei die absolute Mehrheit beschert hat. Ramaphosa profitierte ein Jahr lang von einem großen Hype um seine Person. Wie er nun mit dem Thema Korruption umgeht, ob er Oppositionsführer Maimane widerlegt, wird sehr genau beobachtet werden.
Erste Schritte hat Ramaphosa vollzogen: Er besetzte wichtige Posten in Staatsbetrieben und Institutionen mit offenbar unbelasteten Personen wie beim Stromversorger Eskom, der Steuerbehörde und der Generalstaatsanwaltschaft.
Und er schuf eine Kommission, die das State Capture untersuchen soll – die Gefangennahme des Staates durch eine Klasse, die nur das Ziel kannte, sich selbst zu bereichern. Eine riesige Aufgabe: Die Kommission wird schon mit der verglichen, die in den 90-er Jahren die Verbrechen des Apartheid-Regimes aufarbeitete.
Der ANC, dessen Vorsitzender Ramaphosa nun ist, war (und ist) auf allen Ebenen an der Korruption beteiligt. Daher hat der reformwillige Präsident nach wie vor etliche Gegner innerhalb der Partei, denen das schlechte Wahlergebnis nun in die Karten spielt - auch wenn manche Beobachter vermuten, dass das Ergebnis ohne ihn noch schlechter gewesen wäre.
Die Ungeduld vieler Menschen ist groß
Auch der Populist Julius Malema, der 2012 vom ANC ausgeschlossen wurde und die Partei EFF gründete, reibt sich die Hände. Die EFF gewann deutlich Stimmen hinzu – von sechs Prozent bei ihrer Wahlpremiere 2014 auf nun 10,8 Prozent.
Der 38-jährige Malema hatte vor der Wahl immer wieder mit der Forderung nach entschädigungsloser Enteignung von Land und Betrieben Weißer Stimmung gemacht und Ramaphosa damit unter Druck gesetzt, sich diese Forderung auch zu eigen zu machen. Wie sich dieses heikle Thema, das auch von ausländischen Unternehmen argwöhnisch verfolgt wird, entwickelt, ist unklar.
Nach 25 Jahren enttäuschter Hoffnungen ist die Ungeduld vieler Menschen groß, die Stimmung im Land könnte vollends kippen. Dies macht die Aufgabe für Ramaphosa immens. „Wir können keine Nation freier Menschen sein, wenn die Gelder für die Armen verschwendet, verloren oder gestohlen werden“, sagte er bei einer Feier anlässlich des 25. Jubiläums der ersten demokratischen Wahlen im Land. „Wir müssen all unsere Aufmerksamkeit und unsere Anstrengungen darauf richten, dass alle Südafrikaner gleichermaßen die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile der Freiheit erfahren können.“
Ob er tatsächlich danach handelt und wie schnell, wird nicht nur über sein politisches Schicksal entscheiden. „Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit“, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Zeit ist das, was Cyril Ramaphosa, der ANC und Südafrika nicht mehr haben.