Proteste im Iran: Was die Menschen auf die Straße treibt
Kein Job, gestiegene Preise, mangelnde Unterstützung: Viele Iraner klagen über Not im Alltag und machen für ihre Misere die Regierenden und ihre Politik verantwortlich.
Es sind Kundgebungen, wie sie das Land seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Und die Proteste scheinen immer heftiger zu werden. Es gibt bereits fast zwei Dutzend Tote, Sicherheitskräfte sollen attackiert worden sein. Die Behörden haben mehrere Hundert Demonstranten festgenommen.
Dennoch kommt der Iran nicht zur Ruhe. Zunächst forderten die Empörten vor allem eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Doch inzwischen mehren sich auch die systemkritischen Stimmen. Die staatliche Bevormundung wird ebenso kritisiert wie mangelnde Freiheiten. „Mullahs schämt euch, lasst unser Land in Ruhe“, wird sogar mitunter skandiert.
Beobachter fühlen sich daher an die „Grüne Revolution“ erinnert. Im Jahr 2009 waren Millionen Iraner auf die Straße gegangen. Sie warfen der Staatsführung Betrug bei den Präsidentschaftswahlen vor, die der Konservative Mahmud Ahmadinedschad gewonnen hatte. Rasch wurden Forderungen nach mehr Demokratie laut, die ein Teil der Eliten und Reformer unterstützten. Das Regime reagierte mit großer Gewalt und schlug die Proteste nieder.
Ob sich aus den jüngsten, dezentralen Unruhen eine Massenbewegung entwickelt, die dem Regime gefährlich werden könnte, lässt sich noch nicht absehen. Allerdings hat Präsident Hassan Ruhani zugegeben, dass die Regierung die Situation nicht mehr ganz unter Kontrolle hat. Man dürfe die Unzufriedenheit der Menschen nicht unterschätzen.
Der oberste iranische Führer Ajatollah Ali Chamenei hat dagegen die Proteste als vom Ausland gesteuert bezeichnet. „Die Feinde des Irans haben in den letzten Tagen den Unruhestiftern Geld und Waffen sowie politische Unterstützung zur Verfügung gestellt, um dem dem Land zu schaden."
Der Frust der Bürger
Im Land gärt es seit Langem. Viele der 80 Millionen Iraner kämpfen Tag für Tag darum, halbwegs über die Runden zu kommen. Nicht wenige – das gilt auch für die Mittelschicht – sind aufgrund ihrer desolaten wirtschaftlichen Situation gezwungen, zwei bis drei Jobs gleichzeitig zu machen.
Dabei ist es ohnehin sehr schwierig, überhaupt Arbeit zu finden. Offiziellen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosenquote bei mehr als zwölf Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar geschätzt 40 Prozent. Wer seine Ausbildung beendet oder die Universität verlässt, hat also wenig Aussicht, seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können.
Auch zwei Jahre nach der Aufhebung der im Atomstreit verhängten Finanz- und Handelssanktionen hat sich somit die Hoffnung auf einen Aufschwung allenfalls zum Teil erfüllt. Zwar kann der Iran wieder durch Ölverkäufe die Staatskasse füllen. Zudem hat Präsident Ruhani die Inflation halbwegs unter Kontrolle gebracht.
Doch der Verfall der Währung liegt immer noch im zweistelligen Bereich. Zugleich hat die Regierung die für Arme und Arbeitslose existenzsichernden Subventionen erheblich gekürzt. Das heißt: Vieles kostet deutlich mehr – auch Treibstoff und wichtige Nahrungsmittel. Kurz vor Beginn der jetzigen Proteste stiegen die Preise für Eier und Geflügel um satte 40 Prozent, zu viel für mittellose Iraner. Kein Wunder auch, dass immer mehr Menschen obdachlos werden.
Hinzu kommt der Ärger über die Korruption. Sie behindert vor allem den privaten Sektor und nutzt Staatsbetrieben. Außerdem mangelt es an Investitionen. Ausländische Banken und Konzerne zögern nach wie vor, Geschäfte zu finanzieren, weil sie Strafen in den USA fürchten.
Geld für die anderen
„Vergesst Gaza, vergesst Libanon, kümmert euch um uns!“ oder „Tod den Taliban!“ – solche Slogans waren in den vergangenen Tagen häufig zu hören. Sie machen deutlich: Die Protestierenden halten nichts davon, dass die iranische Führung staatliche Einnahmen in Millionenhöhe dafür einsetzt, um sich zum Beispiel in Syrien oder Irak militärisch zu engagieren.
In der Tat investiert die Islamische Republik eine Menge, um ihren Einfluss in der Region zu vergrößern und den des Erzfeindes Saudi-Arabien zu begrenzen. Im Vordergrund steht dabei der Wunsch, einen sogenannten schiitischen Halbmond zu etablieren, der vom Jemen bis zum Mittelmeer reicht.
Deshalb sichert Teheran die Macht des syrischen Herrschers Baschar al Assad, unterstützt die schiitisch geprägten Huthis im Jemen und rüstet seit Jahren die libanesische Miliz Hisbollah massiv auf. Geld bekommt ebenfalls die palästinensische Hamas.
Dass irgendwo im arabischen Ausland zig Millionen ausgegeben werden, um Politik zu machen, kommt jedoch offenbar nicht gut an. Die Demonstranten fordern, die Regierung sollte lieber die Einnahmen daheim investieren und so die Lebenssituation der Iraner verbessern.
Der hilflose Präsident
Schon jetzt scheint klar: Einer der großen Verlierer der Unruhen heißt Hassan Ruhani. Der Präsident war als reformorientierter, pragmatisch agierender Hoffnungsträger angetreten. Doch sein Vorhaben, im Rahmen des Systems einer Theokratie das Land behutsam zu öffnen, hat bisher nur teilweise funktioniert. Der Unmut ist dementsprechend groß. Seine Anhänger – bei der Wahl im vergangenen Jahr siegte Ruhani klar – erwarten, dass der 69-Jährige endlich liefert.
Dem schiitischen Gelehrten sind allerdings oft die Hände gebunden. Zum einen kann er als Teil des Establishments dieses nicht infrage stellen. Zum anderen lassen die Hardliner keine Gelegenheit aus, um den Regierungschef zu schwächen. Ruhanis mächtige Widersacher im Klerus und in den erzkonservativen Revolutionsgarden wollen von einem moderaten innen- und außenpolitischen Kurs nichts wissen.
Sie beschwören die Wurzeln der islamischen Revolution von 1979 und wollen deren Ideen exportieren. Dazu gehört die Konfrontation mit dem Westen. Ruhani setzt dagegen auf eine „Versöhnung mit der Welt“ und Vereinbarungen wie den Atomdeal. Damit will er das Land aus der Isolation führen – zum Wohle der Iraner. Bisher ist daraus nichts geworden.
Vom Protest zur Revolte?
In welche Richtung sich die jüngsten Proteste letztendlich entwickeln, ist selbst für Experten schwierig einzuschätzen. „Wir sehen gerade die Eruption einer gewaltigen Portion Wut“, sagt Azadeh Zamirirad von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es gebe seit Jahren eine große Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung. „So konnten aus vereinzelten Kundgebungen von ein paar Dutzend Menschen in ein paar Provinzen rasch große, landesweite Kundgebungen werden.“
Ob das Regime die Unruhen in den Griff bekommt, hängt nach Zamirirads Einschätzung unter anderem davon ab, wie kompromissbereit sich die Herrschenden zeigen. Wirtschaftlich motivierte Proteste seien zum Beispiel womöglich durch ökonomische Schritte wie die Rücknahme von Subventionskürzungen eindämmbar, sagt die Iran-Kennerin.
Auf einige politische Forderungen wiederum dürfte die Regierung in Teheran versuchen, mit Versprechungen auf ein gesichertes Versammlungsrecht zu reagieren, um so die derzeitigen Unruhen zu kanalisieren.
Doch klar sei auch, dass die Machthaber eine Ausweitung der Unruhen nicht hinnehmen werden – was ein härteres Vorgehen wahrscheinlich mache. „Noch hat der Sicherheitsapparat nicht das volle Ausmaß drastischer Maßnahmen ausgeschöpft. Denn das könnte noch mehr Menschen mobilisieren. Falls die Proteste sich aber weiter ausweiten, werden wir mit deutlich erhöhter Gewalt gegenüber Demonstranten rechnen müssen.“