Von Gelegenheitsjobs zum Verkaufsleiter: Was die EU-Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei bewirkt
Für die rund vier Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind Gemeindezentren wichtige Anlaufstellen. Auch, um vor Ort ein neues Leben zu starten.
Nähmaschinen rattern in einem hellen Raum im Gemeindezentrum Bagcilar in Istanbul. Bei offenen Fenstern sitzen Frauen in bunten Kopftüchern und weißen Masken über ihrer Arbeit – sie nähen Stoffmasken zum Schutz vor dem Coronavirus.
Heven Hasan hat genug Routine an der Nähmaschine, um sich nebenher mit ihrer Nachbarin unterhalten zu können. Ihr gehe es schon besser, wenn sie einfach hier sein und sich nützlich machen könne, sagt die 39-Jährige, die ihren Beruf als Lehrerin seit der Flucht aus Syrien nicht mehr ausüben kann.
Die ersten Jahre in Istanbul habe sie sich vor Angst kaum vor die Tür gewagt, erzählt sie, bis sie vor zwei Jahren zum Gemeindezentrum fand. Hier hat sie inzwischen Türkisch gelernt, Nähkurse absolviert und wieder soweit Halt im Leben gefunden, dass sie sich nun als freiwillige Helferin für andere Flüchtlinge engagiert. „Für uns Syrer ist der Rote Halbmond hier ein wahrer Lichtblick“, sagt sie.
Der Rote Halbmond ist Betreiber des Gemeindezentrums, landesweit gibt es in der Türkei noch 15 weitere solche Einrichtungen – sie dienen als Anlaufstellen für die fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land. Finanziert werden diese Stätten aus den Hilfsgeldern der Europäischen Union, die im Flüchtlingsabkommen von 2016 zugesagt wurden – insgesamt sechs Milliarden Euro, die nicht an die Türkei selbst gezahlt werden, sondern projektgebunden an Einrichtungen wie diese.
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Beim EU-Gipfel in Brüssel wird es an diesem Donnerstag und Freitag um die Zukunft des Flüchtlingsdeals gehen. Beide Seiten wollen grundsätzlich an der Vereinbarung festhalten, mit der die Türkei nach der Flüchtlingswelle von 2015 zum Türsteher Europas wurde und dafür die Milliarden aus der EU erhält.
Die Türkei fordert jedoch eine Reform des Vertrages. So verlangt sie, die EU solle mehr zahlen als die versprochenen sechs Milliarden: Die Türkei hat nach Regierungsangaben bereits rund 35 Milliarden Euro an eigenen Steuermitteln für die Syrer ausgegeben. Die Regierung beklagt auch, das angekündigte EU-Geld komme größtenteils nicht an. Die EU erklärte dagegen kürzlich, fast vier Milliarden Euro seien bereits ausbezahlt worden; der Rest werde bis spätestens 2025 fließen.
Roter Halbmond will syrischen Flüchtlingen helfen, wieder auf die Beine zu kommen
Laut EU-Angaben erhalten 1,7 Millionen Syrer in der Türkei eine direkte Finanzhilfe für den Alltag, oft in der Form von Geldkarten, mit denen sie sich Lebensmittel oder Kleidung kaufen können. Zudem könnten fast 700.000 syrische Kinder dank der EU-Gelder in der Türkei eine Schule besuchen. Auch werden mit der EU-Hilfe rund 3000 neu angestellte Mitarbeiter des Gesundheitswesens bezahlt.
Gegenden wie Bagcilar – in dem Istanbuler Stadtteil wohnen 80.000 Syrer und damit mehr als in vielen europäischen Ländern – können die Unterstützung aus Europa gut gebrauchen. Der Rote Halbmond verteilt in den Gemeindezentren keine Hilfsgüter, erklärt Esin Demircioglu, die Leiterin des Zentrums in Bagcilar; die Einrichtungen sollen den syrischen Flüchtlingen vielmehr helfen, wieder auf die Beine zu kommen.
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Vier Bereiche umfasst diese Hilfe: Rechtsberatung, psycho-soziale Unterstützung, Integration und Beschäftigung. Syrische Flüchtlinge können sich hier Rat und Beistand für Behördengänge holen oder einen Rechtsanwalt konsultieren. Bei sozialen Problemen greifen die Psychologen des Gemeindezentrums von sich aus ein – wenn etwa Kinder nicht zur Schule geschickt oder Mädchen minderjährig verheiratet werden. Die Integration der Syrer in die türkische Gesellschaft fördert das Zentrum mit türkischen Sprachkursen für die Syrer und Aufklärungsaktionen in örtlichen Moscheen, um Vorurteile gegen Flüchtlinge abzubauen.
Die wichtigste Rolle spiele inzwischen aber das Beschäftigungsprogramm, erzählt Demircioglu. Ihr Team tauscht sich mit örtlichen Arbeitgebern und dem Arbeitsamt aus, um den aktuellen Bedarf an Arbeitskräften zu ermitteln, und richtet dann entsprechende Ausbildungskurse für Syrer ein – als Schweißer etwa oder für den Textilsektor.
Das Gemeindezentrum vermittelt den Flüchtlingen dann Arbeitsstellen und hilft auch bei der Beschaffung der Arbeitserlaubnis – ein Hürdenlauf, vor dem Arbeitgeber oft zurückschrecken.
So erlebte es auch Halit Temmo aus Aleppo. Anfangs habe er sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen versucht, erzählt der 25-jährige, aber ohne Sprachkenntnisse und Arbeitserlaubnis sei es aussichtlos. Am Gemeindezentrum in Bagcilar, zu dem er vor knapp drei Jahren durch den Rat eines Freundes fand, lernte er im Intensivkurs Türkisch und bekam über die Vermittlung des Roten Halbmonds einen Job bei einer Backwarenfirma; das Gemeindezentrum besorgte ihm die Arbeitserlaubnis.
Heute ist er Verkaufsleiter der Firma und türkischer Steuerzahler, hat eine eigene Wohnung und einen Freundeskreis, dem auch Türken angehören. „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Arbeitsplatz, und ich verstehe mich gut mit meinen Kollegen“, sagt Temmo. „Mir geht es gut hier, und ich habe vor, in der Türkei zu bleiben.“
Rund 70.000 syrischen Flüchtlingen hat das Gemeindezentrum in Bagcilar bisher helfen können, sagt Leiterin Demircioglu – manchen vielleicht nur mit einem guten Rat und anderen mit Starthilfe in ein neues Leben, wie bei Halit Temmo. Im Nähraum legt Heven Hasan einen Stapel fertiger Masken beiseite. Auch sie wird in der Türkei bleiben: Ihr ältester Sohn hat hier gerade einen Studienplatz für Medizin bekommen.