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Lockern, beschränken und lenken: Warum unterscheiden sich Coronaregeln von Bundesland zu Bundesland?

Die Vorschriften zur Bekämpfung der Virus-Pandemie werden immer unübersichtlicher. Warum das so ist und welche Rolle dabei die Gerichte spielen.

Neun Punkte hat der Beschlussvorschlag des Bundes am vergangenen Donnerstag beinhaltet, der in der Telefonkonferenz der Bundeskanzlerin mit den sechzehn Länderchefs auf dem Tisch lag. Der tatsächliche Beschluss, auf den sich Angela Merkel und die Ministerpräsidenten dann verständigten, hatte jedoch zehn Punkte.

Und der zehnte Punkte war entscheidend, sonst hätte die Runde womöglich im Eklat geendet: In ihm wird festgehalten, dass bis zur übernächsten Konferenz, die also der Schalte am kommenden Mittwoch folgen wird, „Vorschläge für Rahmenbedingungen schrittweiser Öffnungen von Gastronomie- und Tourismusangeboten und für die weiteren Kultureinrichtungen vorzubereiten“ seien.

So weit hatte Merkel nicht gehen wollen, sie verbindet ihre Strategie des vorsichtigen Vorantastens in der Coronakrise auch damit, möglichst wenig längerfristige Aussagen zu machen. Aber sie musste dem Druck aus den Ländern nachgeben, wo offenkundig die Mehrzahl der Regierungschefs eine klarere Perspektive zu Lockerungen haben will.

Warum gehen Länder eigene Wege?
Wie schon nach den bisherigen Bund-Länder-Runden interpretieren Landesregierungen auch jetzt die Vereinbarungen als Rahmen, der eigenes Handeln erlaubt.

So hatten einige Länder schon Zoos oder botanische Gärten bald nach dem 15. April geöffnet – „offiziell“ wurde das erst am vergangenen Donnerstag bundesweit möglich.

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Nun hat die Regierung von Sachsen-Anhalt angekündigt, vom 11. Mai an die bisherigen Kontaktbeschränkungen zu lockern und zum Beispiel Besuche in Altenheimen unter Auflagen zu ermöglichen. Auch wurde für den 22. Mai das Öffnen von Gaststätten in Aussicht gestellt.

Das aber wollten Merkel und ihr Kanzleramtschef Helge Braun vor dem nächsten Spitzengespräch am kommenden Mittwoch dringend vermeiden. Denn die lenkende Rolle des Bundes soll sichtbar bleiben. Doch müssen sie damit rechnen, dass noch weitere Landesregierungen in den nächsten Tagen mit eigenen Lockerungsplänen auftreten werden.

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Ein Blick auf die Regionalkarten des Robert-Koch-Instituts genügt, um das Auseinanderfallen zu erklären: Es ist die unterschiedliche Betroffenheit. Bayern und Baden-Württemberg gehen deswegen eher mit dem Bund, weil sie weiterhin relativ viele Neuinfektionen haben, auch die lokal aufflackernden Virusnester liegen meist dort.

Dagegen ist das Infektionsgeschehen weiter im Norden, nicht zuletzt entlang den Küsten, relativ moderat geblieben. Die Ausrichtung an bundesweiten Durchschnittswerten bedeutet somit, dass einige Länder an Lockerungen gehindert werden, die regional durchaus vertretbar wären – die anderen wiederum zu weit gehen.

Merkels Beharren auf einer möglichst gemeinsamen Linie wird daher aus Sicht mancher Länder immer fragwürdiger. Zudem hatte die Bundesregierung am Donnerstag mit 40.000 eine zu hohe Zahl von aktuell Infizierten genannt. Tatsächlich waren laut RKI nur 29.000 Menschen infiziert. Das räumte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums ein.

Und die Ministerpräsidenten haben mit Blick auf ihre Bürger und ihre regionale Wirtschaft ebenso eine Verantwortung wie die Bundesregierung im nationalen Rahmen. Die Devise lautet daher immer mehr: Einigkeit gern, aber nicht unbedingt Einheitlichkeit.

Welche Rolle spielen Gerichte?
Zuletzt haben sich immer wieder Gerichte eingemischt – was der Politik nicht gefallen hat. Braun hatte das im Vorfeld der Runde am vorigen Donnerstag schon intern kritisiert, am Sonntag legte er öffentlich nach: Er empfinde es als „Herausforderung, wenn sich Gerichte auf den Gleichheitsgrundsatz berufen, um einzelne unserer Maßnahmen aufzuheben oder zu modifizieren“, sagte er der „Welt am Sonntag“.

Vor allem die Urteile, die eine Begrenzung von Ladenverkaufsflächen auf 800 Quadratmeter aufhoben, sorgten für Verärgerung – auch in Landesregierungen. Nun hat das Saarland diese Regel ersetzt durch die Vorgabe, dass sich je 20 Quadratmeter Fläche ein Kunde aufhalten darf.

Andere Länder werden folgen. Der Deutsche Richterbund reagierte ungewöhnlich scharf auf Brauns Einlassung. „Die Exekutive sollte sich darüber bewusst sein, dass eine Korrektur unverhältnismäßiger Maßnahmen durch die Gerichte gerade in der aktuellen Ausnahmesituation erkennen lässt, dass der Rechtsstaat funktioniert“, sagten die Verbandschefs Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff.

Warum müssen Einschränkungen der Grundrechte verhältnismäßig sein?
Weil den individuellen Freiheiten soweit wie möglich Raum gegeben werden muss. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und gilt für Eingriffe in alle persönlichen Rechte.

Damit wird es auch zum Prüfprogramm für die meisten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Demnach muss das eingesetzte Mittel, etwa ein Kontaktverbot oder eine Ausgangsbeschränkung, einen legitimen Zweck verfolgen. Dies ist leicht zu bejahen, da es um den Gesundheitsschutz der Bevölkerung geht.

Das angewandte Mittel muss geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen. Auch davon ist in vielen Fällen auszugehen, solange die Virusverbreitung gehemmt wird.

Nächster Prüfschritt ist die Frage, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen, die ähnlich oder genauso gut geeignet wären. Es wäre also beispielsweise zu fragen: Muss das Geschäft geschlossen bleiben? Oder genügt es, wenn Hygieneregeln strikt beachtet sind?

Falls die Maßnahme als erforderlich erachtet wird, muss zuletzt umfassend abgewogen werden, ob sie insbesondere mit Blick auf Grundrechte angemessen erscheint. In Corona-Fällen entscheidend ist auch der Zeitablauf. Je länger die Beschränkung andauert, desto höher ist die Darlegungslast für den Eingriff.

Warum urteilen Gerichte unterschiedlich?
Weil sachliche Annahmen von Exekutive und Gesetzgeber nicht geteilt werden. Gerade bei der Flächenbeschränkung war das der Fall, die von den Oberverwaltungsgerichten der Länder mal zugelassen und mal aufgehoben wurde.

Während es für manche Gerichte nachvollziehbar war, dass mit weiterhin geschlossenen Warenhäusern und Großfilialisten ein Innenstadt-Gedränge eher vermieden werden kann, fehlten anderen dafür empirische Belege.

Das Kaufhauses des Westens (KaDeWe) in der Tauentzienstraße in Berlin-Schöneberg.
Das Kaufhauses des Westens (KaDeWe) in der Tauentzienstraße in Berlin-Schöneberg.
© Jens Kalaene/dpa

Zudem sind auch die Ergebnisse von Abwägungen mit gesetzlichen Vorgaben schwer zu steuern. Ob bestimmte Aspekte aufgenommen und wie sie gewichtet werden, kann von subjektiven Anschauungen abhängig sein. Auch Gerichtsurteile sind Menschenwerk.

Wie stark wirken hier die Grundrechte?
Ihnen kommt in der Diskussion eine herausragende Bedeutung zu. Die Grundrechte im ersten Teil des Grundgesetzes, von der Menschenwürde über die Meinungsfreiheit bis zum Recht auf Eigentum, markieren Rechte und Freiheiten, die niemandem einfach entzogen werden dürfen.

Notwendigerweise sind die Aussagen sehr allgemein. Dennoch hat die Politik sie bei sämtlichen Maßnahmen bis in alle ihre Ausprägungen zu respektieren, die ihnen das Bundesverfassungsgericht mitgegeben hat.

Denn prinzipiell sind Grundrechte Abwehrrechte gegen den Staat, und die Exekutive wird im Grundgesetz ausdrücklich „an Gesetz und Recht“ gebunden.

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Gelten Grundrechte absolut?
Nein. Bei der juristischen Prüfung wird der Schutzbereich des Grundrechts exakt definiert und dann zwischen einem Eingriff in das Recht und einer Rechtsverletzung unterschieden.

Ist ein Grundrecht verletzt, hat der Eingriff zu unterbleiben. Der Eingriff selbst kann aber gerechtfertigt sein. Viele Grundrechte enthalten einen so genannten Gesetzesvorbehalt, der solche Eingriffe ermöglicht.

So gibt es zwar das in Artikel 14 geschützte Recht auf Eigentum. Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit sind aber möglich. Bisweilen sind Grundrechte gegeneinander abzuwägen.

Mit einer Ausnahme: In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es, „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieses Grundrecht ist einer klassischen Abwägung entzogen.

Kann die Menschenwürde durch strikte Maßnahmen wie Kontakt- oder Ausgangsverbote berührt sein?
Das ist eher fernliegend. Der Schutz der Menschenwürde bedeutet, jedes Individuum um seiner selbst willen, aufgrund seines Eigenwerts zu achten. Verboten ist nach der so genannten Objektformel, den Menschen zum Objekt im Staat zu machen.

Mit Hinweis auf solche Überlegungen wurde vom Bundesverfassungsgericht etwa angeordnet, dass auch zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten eine Perspektive auf ihre Entlassung eröffnet werden muss.

Anordnungen, zuhause zu bleiben oder Geschäfte zu schließen, sind damit kaum vergleichbar. Anders könnte der Fall betrachtet werden, wenn beispielsweise durch Kontaktverbote Sterbenden unmöglich gemacht wird, sich von Angehörigen zu verabschieden.

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