Einigung der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten: Mit großer Vorsicht in der Coronakrise
In der Coronakrise ist weiter große Vorsicht statt großer Lockerung angesagt. Was planen die Regierungschefs und was leitet sie?
Angela Merkel blättert durch ihren Papierstapel; sie will es ja jetzt genau nehmen mit dem, was sie gerade mit den Länderchefs beschlossen hat. Dann hat sie es gefunden: Genau, „Alltagsmasken“ im Geschäft und in Bus und Bahn zu tragen, wird den Bürgern „dringend“ empfohlen. Pflicht ist das nicht, aber sinnvoll. Gut drei Stunden hat die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten beraten, wie es weitergehen soll in der Coronakrise. Das Ergebnis wird manchen ernüchtern, der nach den Wochen des Lockdown auf Lockerung gesetzt hatte.
„Wir haben etwas erreicht“, sagt Merkel. Aber es sei noch nicht mehr als ein „zerbrechlicher Zwischenerfolg“. Äußerste Vorsicht sei weiter nötig – und „kein falsches Vorpreschen ... auch wenn die besten Absichten dahinter stehen.“
Merkel nennt keine Namen. Aber es ist kein Zufall oder gar die pure Böswilligkeit der Landespresse, dass Armin Laschet in Düsseldorf wenig später auf diesen Satz angesprochen wird. Einen Tag vor dem Bund-Länder-Gespräch war seine schwarz-gelbe Landesregierung vorgeprescht: Ab nächster Woche, verkündeten Kultusministerin und Familienminister, sollten Schulen und kurze Zeit später auch die Kitas schrittweise wieder öffnen.
Das war, gelinde gesagt, voreilig. Es löste denn auch einiges Befremden quer durch die Republik aus. Die beiden Minister sind zwar Freidemokraten – und dass FDP-Chef Christian Lindner, selbst aus Nordrhein-Westfalen stammend, praktisch seit Beginn der Kontaktsperre auf Lockerung drängt, ist ja allseits bekannt. Aber auch in Düsseldorf können Minister nicht ohne Wissen des Regierungschefs agieren.
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Doch als sich am Mittwochnachmittag die Ministerpräsidenten mit Merkel zusammenfinden – die meisten am Telefon, der Bayer Markus Söder (CSU) als Länderkoordinator und der Hamburger Peter Tschentscher als Sprecher der SPD-Länderchefs leibhaftig in Berlin –, da ist längst klar: Mit einem raschen Ende der Beschränkungen wird es nichts.
Damit setzt sich die vorsichtige Linie durch
Merkels Corona-Kabinett hat davor bereits am Mittag einen umfassenden Vorschlag gebilligt. Kanzleramtschef Helge Braun hatte ihn vorab im Grundsatz mit den Kollegen aus den Ländern abgestimmt, jetzt wird er Grundlage für das Gespräch. Der Kernsatz steht gleich auf der ersten Seite: Mit einigen wenigen Ausnahmen bleiben die Einschränkungen für Bürger und Wirtschaft bis zum 3. Mai bestehen – auch für die Schulen.
Damit setzt sich die sehr vorsichtige Linie durch, die Merkel und die Mehrzahl der Ministerpräsidenten verfolgen. Sie entspricht auch dem Kurs der meisten Nachbarländer. Selbst Österreichs Exit- Kurs hat das Land bei Baumärkten oder Blumenläden ja gerade erst auf Gleichstand mit den Deutschen gebracht.
Allen ist mittlerweile klar: Wer die Bremsen zu früh zu weit lockert, riskiert einen Rückfall. Dass die Reproduktionszahl – die misst, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt – sich momentan bei 1 einzupendeln scheint, ist ein Erfolg. Aber Merkel hat von den Seuchenexperten des Robert-Koch-Instituts und anderen Experten gelernt, wie dünn das Eis noch ist. Schon ein R-Wert von 1,1, trägt sie vor, würde die Kliniken im Oktober an ihre Grenzen bringen. Bei 1,3 käme der Kollaps schon im Juni. Darum weiter Vorsicht, „nicht Übermut“. Lieber noch einige Wochen das Leben stark einschränken und danach das Virus im Griff haben, als jetzt gleich lockern und dann später zur Notbremse greifen zu müssen.
Zumal jede Lockerung Vorbereitung braucht. 20 Millionen medizinische Masken sind aktuell verfügbar, 10 000 Beatmungs- und Intensivbetten frei. Aber das enge Corona-Test- und -Überwachungsnetz, das alle Wissenschaftler für die Zeit nach dem Lockdown fordern, ist bisher mehr Plan als Realität. Und auch bei den Schulen warnen Lehrer- und Schulverbände vor Schnellstarts: Weder Lehrer, Schüler noch Klassen und weitere Schulräume sind ja aufs Lernen unter Schutzvorkehrungen vorbereitet.
Markus Söder kann das alles nur unterstreichen. „Wir haben keinen unkontrollierbaren Exit diskutiert“, sagt der CSU-Mann. Es bleibe bei der Fortsetzung der bisherigen Strategie und – mit regionalen Unterschieden wegen unterschiedlicher Betroffenheit – auch bei der Gemeinsamkeit. Der Bund habe übrigens sehr mitgeholfen, dass auch aus unterschiedlichen Ansätzen „ein guter Geist“ geworden sei. Den loben denn auch alle auf dem Podium im Kanzleramt, der Hamburger Tschentscher, der Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), und Merkel ebenso: „Ich bin mit der Einheitlichkeit zufrieden.“
Tatsächlich erhebt in den drei Stunden im Kern niemand Widerspruch dagegen, dass man höchstens in ganz vorsichtigen Schritten das Leben normalisieren kann. Der Grüne Winfried Kretschmann aus dem wie Bayern stark von Corona betroffenen Baden-Württemberg plädierte in den Vorberatungen ebenso gegen verfrühte Lockerungsübungen wie der Hesse Volker Bouffier (CDU) und viele SPD-Regierende. Söder, in Bayern besonders stark von Corona heimgesucht, hält sowieso strikt auf Kurs. Mit Laschet liefert sich der CSU-Mann darüber seit Wochen ein Fernduell. Wo der Nordrhein-Westfale auf „Öffnungs-Fahrpläne“ drängt, winkt der Bayer ab. Dass der eine beharrlich versichert, er wolle gar nicht Kanzlerkandidat der Union werden, während der andere eben dies als Fernziel nach dem CDU-Vorsitz anstrebt, gibt dem Ganzen Würze. Und dann merkt dieser Tage auch noch Friedrich Merz an, nach der Krise werde ja vor allem Wirtschaftskompetenz gefragt sein!
Söder kann das alles gelassen sehen. Seit ihm in einer Umfrage sensationelle 94 Prozent seiner Landsleute ein gutes bis sehr gutes Zeugnis fürs Krisenmanagement ausgestellt haben, kommt zu seinem ohnehin robusten Selbstbewusstsein die politische Heiligsprechung. Auch in Berlin weiß er sich unterstützt. Merkel selbst pocht auf Vorsicht. Ihr Kanzleramtschef Helge Braun, von Haus aus Mediziner und nun Koordinator der Regierungspläne, trat nach Beobachtung von Regierungsleuten ebenfalls restriktiv auf.
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Der Bund hat gründliche Vorarbeit geleistet. Der Länderchef-Runde lag auf 15 Seiten ein „Beschlussvorschlag Bund“ vor, den mit wenigen Veränderungen schließlich alle billigten. Nur über die Öffnung von Museen oder Zoos will man jetzt lieber doch erst in zwei Wochen sprechen.
Es blieb dann bei der 800-Quadratmeter-Grenze
Über einiges wurde freilich lange diskutiert. Dass Gottesdienste und andere religiöse Versammlungen weiter verboten bleiben, wurde nur Konsens, weil Bundesinnenminister Horst Seehofer mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften jetzt über Möglichkeiten reden soll, wie man mit Abstand gemeinsam beten kann.
Lange wurde auch darüber diskutiert, ob ab Montag kleinere Geschäfte bis 400 Quadratmeter nach dem Muster Österreichs öffnen dürfen oder größere bis 800 Quadratmeter Fläche – oder gar Kaufhäuser und Shopping-Malls. Es blieb dann bei der 800er-Grenze. So willkürlich, wie sie wirkt, ist sie nicht: Merkel und Söder erläuterten, es gehe vor allem darum, keinen Andrang im Nahverkehr und rund um die großen Konsumtempel zu erzeugen. Der Niedersachse Stephan Weil, Anteilseigner bei VW, und andere Länderchefs mit Autoindustrie erreichten die Freigabe aller Autohäuser, egal wie groß.
Denn bei aller Einsicht in die Zwänge der Seuchenabwehr – die wirtschaftlichen Kosten schmerzen mit jedem Tag mehr. Eine einzige Zahl zeigt es schon überdeutlich: 725 000 Firmen haben bei der Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeit angemeldet. Die veranschlagten zehn Milliarden Euro werden niemals reichen. Selbst relativ gut aufgestellte Weltkonzerne wie Adidas bitten den Staat um Milliardenkredite. Die Lufthansa könnte zu ihrer Rettung teilverstaatlicht werden. Die Zukunft der Luftfahrt ist mit der weltweiten Krise jetzt ohnehin ungewiss; die gesamte Tourismus-Branche bangt. Und Ferienreisen und Kurzurlaube bleiben weiter unerwünscht. An Manuela Schwesig wird das Dilemma besonders deutlich. Die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns fiel in den Bund- Länder-Verhandlungen immer wieder mit einer besonders restriktiven Linie auf. Osterausflüge an die Ostsee und auf Inseln wie Rügen und Usedom musste erst ein Gericht erlauben. Zugleich ist das Land an der Küste auf den Tourismus angewiesen. Eine Umfrage ergab, dass 60 Prozent der Tourismusunternehmen höchstens noch zwei Monate Lockdown überstehen. Der Landestourismusverband hat vorgeschlagen, die Sommerferien bundesweit auf August und September zu verschieben.
Doch so schwer es fällt, Bundesregierung und Staatskanzleien eint die Einsicht, dass man nicht aus Ungeduld das Erreichte gefährden dürfe. In zwei Wochen ist die nächste Überprüfung angesetzt.
Und was wird aus Laschets Schul-Plänen? Der Nordrhein-Westfale setzt seine leicht besorgte Unschuldsmiene auf. Ziel der Landesregierung sei es gewesen, die Schulen nach den Ferien wieder zu öffnen – genau das sei beschlossen worden. So kann man das mit gutem Willen lesen: Für Prüfungsklassen soll allmählich wieder der Unterricht beginnen. Und ansonsten, sagt Laschet, habe die Bundeskanzlerin völlig recht: „Es darf kein falsches Vorpreschen geben.“