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Die "Zitrus"-Koalition versucht die Ampel: Die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und FDP-Chef Christian Lindner.
© Kay Nietfeld/dpa

Der Tag der Ampel-Entscheidung: Warum Grüne und FDP es mit Olaf Scholz versuchen

Es ist ein Tag, an dem die Würfel fallen. Grüne und FDP machen aber deutlich, dass der Jamaika-Keks noch nicht gegessen ist. Armin Laschet klammert sich daran.

Annalena Baerbock verspricht sich, da ist klar, wo die Reise erst einmal hingeht. „Wir haben in den letzten Tagen bilateral mit unterschiedlichen Parteien gesprochen. Mit der Union, mit der SPD und mit der SPD“, sagt die Grünen-Chefin. Ganz kurzfristig haben sie und Robert Habeck zu einem Statement eingeladen auf der Fraktionsebene im Bundestag.

Ein Zufall der Natur will es, dass die Blätter der Bäume draußen an diesem Tag in roter, gelber und grüner Herbstpracht erstrahlen.

Um 10.04 Uhr an diesem 6. Oktober vergisst sie beim entscheidenden Satz die FDP aber nicht mehr. Die Grünen hätten entschieden, vertieft - gerade mit Blick auf die Gemeinsamkeiten - „jetzt mit SPD und FDP zu sprechen“, sagt Baerbock. „Und das schlagen wir der FDP vor.“ Das Land könne sich keine lange Hängepartie leisten.

Es ist dann an Habeck, klarzumachen, dass aber auch Jamaika unter Unions-Führung eine Option bleibt. Er betont, „dass der Keks noch lange nicht gegessen ist“.

Diese Drohkulisse gegenüber der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz werden sie sicher gut gebrauchen können, noch nie wurde in Deutschland auf Bundesebene so ein Ampel-Dreier-Bündnis gewagt, erstmals seit über 40 Jahren verhandeln auch FDP und SPD wieder ernsthaft über eine gemeinsame Bundesregierung.

Es wäre ein Bündnis der drei Wahlgewinner: SPD (25,7 Prozent), Grüne (14,8) und FDP (11,5) konnten allesamt zulegen bei der Bundestagswahl.

Später wird es noch eine Rolle spielen, ob die Grünen nach der engen Abstimmung mit der FDP in den Tagen nach der Bundestagswahl nun eigenmächtig handeln und damit die FDP gezielt unter Druck setzen wollen.

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Aber zum einen betont Habeck hier schon, dass man diesen Schritt der FDP bereits vor dieser Pressekonferenz vorgeschlagen habe. Und zum anderen sah man auch im liberalen Verhandlungsteam zunächst die Grünen am Zuge.

So darf jeder an diesem Tag seine Rolle spielen. Die Grünen machen den Vorschlag. FDP-Chef Christian Lindner wird eineinhalb Stunden später in der FDP-Zentrale sagen, man nehme den Vorschlag an. Und im Übrigen habe er bereits Olaf Scholz angerufen und den Start der Ampelsondierungen schon morgen, also an diesem Donnerstag, vorgeschlagen. Scholz habe dem zugestimmt.

So bleibt das Bild, dass die inoffizielle „Zitrus-Koalition“ von FDP und Grüne weiter der Taktgeber ist - die Achse funktioniert bisher erstaunlich gut.

Scholz hat sich in den vergangenen Tagen öffentlich rar gemacht, seine Leute feilen längst an Kompromisslinien, vor allem in der Steuer- und Finanzpolitik. Er wird vor allem auf die FDP zugehen müssen, die sich bei den Jamaika-Sondierungen 2017 als drittes Rad am Wagen gefühlt hatte.

Habeck will Sondierungen im einstelligen Bereich

Habeck umreißt noch einmal den Sinn von Sondierungen, bevor über Koalitionsverhandlungen entschieden wird. Der Sinn sei nicht, jetzt schon einen ausgeklügelten Koalitionsvertrag aufzuschreiben, sondern eine politische Übereinstimmung festzustellen oder nicht festzustellen. „Heißt also, die Fragen, die ideologisch trennend sind, die im Wahlkampf teilweise aufgebauscht, teilweise real bestanden haben, müssen so stabil geklärt und diskutiert sein, dass man darauf aufbauend dann ein gutes Gefühl hat.“

Zur Zahl der Sondierungsrunden sagt er, die sollten schon im einstelligen Bereich bleiben. Grüne wie FDP sind noch immer traumatisiert von den unstrukturierten Jamaika-Verhandlungen, daher sind dieses Mal von Anfang an feste Protokollanten dabei, um wichtige inhaltliche Kompromissansätze festzuhalten.

„Deutschland lernt ja Politik neu“

Habeck wird fast philosophisch, als er diesen anstehenden Prozess beschreibt. „Deutschland lernt ja gerade Politik nochmal ein bisschen neu. Und dieses neue Lernen heißt eben, dann auch mit einer gewissen Bereitschaft für offene Prozesse reinzugehen.“

Baerbock betont, dass die Grünen sich nach dem Gespräch mit der Union so schnell für die Ampel-Sondierung entschieden hätten, sei auch ein Ausdruck von Effizienz – diesen Geist, so ist sie zu deuten, will sie auch für den weiteren Verlauf.

Ob die Indiskretionen aus dem Unions-Lager, als Inhalte aus der vertraulichen Runde mit den Grünen nach draußen drangen, eine Rolle gespielt haben, will Baerbock nicht näher bewerten.

Aber ihre Antwort ist vielsagend: „Vertrauen bedeutet natürlich auch, dass nicht alles danach in der Zeitung steht. Aber wir vergeben keine Haltungsnoten, weder für uns selbst noch andere.“

Aus beiden Parteien, Grünen und FDP, war zuletzt deutlich zu vernehmen, wie die Union trotz der internen Angriffen auf Armin Laschet und der Nachfolgedebatte, während er noch um das Kanzleramt kämpft, als zunehmend verhandlungs- und regierungsunfähig bewertet wurde. Demnach könnte ein Szenario entstehen, dass Jamaika zurück auf den Tisch kommt. Die Frage ist nur, ob noch mit Laschet als Kanzlerkandidaten oder womöglich mit CSU-Chef Markus Söder, wenn Laschet in der Zwischenzeit als CDU-Chef stürzt? Dieses Szenario fürchten sie jedenfalls in der SPD.

Baerbock und der Abstand zu Habeck

Bevor Habeck sich seine braune Ledertasche greift, die er an der Glaskuppel des Reichstags abgestellt hatte, sagt er noch: "Wir werden sehen und warten gespannt und geduldig darauf, wie die FDP sich aufstellen wird.“ Dann gehen die beiden Grünen-Chefs in den Aufzug, dort stehen sie mit gebührendem Abstand zueinander. Nachdem zuletzt Dissonanzen spürbar wurden zwischen der Kanzlerkandidatin und ihrem Co-Chef, der für sein Nachgeben mit dem Vizekanzlerposten belohnt werden könnte, will Baerbock etwas klarstellen. „Jetzt nicht wieder falsch interpretieren, im Fahrstuhl muss man einen Mindestabstand einhalten", ruft sie aus dem Aufzug. Beide grinsen, die Tür schließt sich.

FDP-Chef Christian Lindner auf dem Weg zur Verkündigung des Ampel-Versuchs
FDP-Chef Christian Lindner auf dem Weg zur Verkündigung des Ampel-Versuchs
© AFP

Lindners kurzer Auftritt

Doch wie genau wird Christian Lindner seinen Schwenk zur Ampel gesichtswahrend erklären? Der FDP-Vorsitzende lässt auf sich warten. Von zehn bis elf Uhr sind die Gremiensitzungen des Bundesvorstandes und der Bundestagsfraktion angesetzt, doch bis Lindner dann vor die Presse tritt, ist es halb zwölf. Schon wird spekuliert: Geht er den Grünen-Vorschlag nicht mit? Will er lieber Jamaika sondieren?

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Doch es wird ganz schnell gehen, und für die Union von CDU-Chef Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder hat er zwei unangenehme Botschaften dabei. Die Grünen, sagt Lindner, hätten den Vorschlag gemacht, gemeinsam mit der SPD ein erstes Sondierungsgespräch zu führen. Diesen Vorschlag habe man angenommen, „um Gemeinsamkeiten zu prüfen, die unser Land nach vorne bringen“. Und Lindner darf den Tempomacher geben, er habe Olaf Scholz angeboten, bereits am Donnerstag zum Gespräch zusammen zu kommen. „Das wird auch passieren.“ Aber anders als Baerbock und Habeck macht er klar, es gehe Schritt für Schritt, er will nicht gleich einen ganzen Sondierungsreigen mit der SPD ankündigen.

„Keine Parallelgespräche“ mit der Union

Lindner wirkt selbstsicher, aber auch angespannt. Der FDP-Chef ist in einer heiklen Lage: Allen ist klar, dass die FDP mit der Union die größten inhaltlichen Überschneidungen hat. Wenn es am Ende auf eine Ampel hinausläuft, muss er das auch den eigenen Anhängern erklären. Da kann der dauernde Jamaika-Schatten als Druckmittel sicher helfen. Aber er macht auch deutlich, jetzt gehe es erstmal um die Ampel. „Es gibt keine Parallelgespräche.“

Der 42-Jährige verweist darauf, dass „in der Öffentlichkeit Regierungswille und Geschlossenheit“ der Unionsparteien diskutiert würden. Es ist ein Hinweis auf die Machtkämpfe in der Union, auf die bereits laufende Demontage von CDU-Chef Laschet und auf die Durchstechereien aus den Sondierungsgesprächen. Die Union steht derzeit nicht gerade als verlässlicher Partner da.

All das sagt Lindner so nicht konkret. Über die Durchstechereien sagt er nur, man habe sie zur Kenntnis genommen. Aber im Zweifelsfall können sie Lindner helfen, zu begründen, warum es für das Bündnis mit der Union nicht gereicht habe. Und er erinnert an die Attacken der Union im Wahlkampf ausgerechnet auf die FDP, die Warnungen vor einem Ampel-Bündnis als Linksbündnis. Lindner betont, man habe in diesem Wahlkampf nur eine inhaltliche Koalitionsaussage gemacht, ein Mitte-Bündnis des Fortschritts und der Erneuerung. Das will auch Scholz, ausgerechnet Lindner kann ihm dabei helfen, dass der linke Parteiflügel auch schmerzhafte Kompromisse mittragen wird.  

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Lindners wiederentdeckte „Phantasie“

Lindner ist es wichtig, mehrfach zu betonen, dass Jamaika nicht vom Tisch sei. Dass es sowohl für die Grünen und die FDP „eine Option bleibt“. Das ist verhandlungstaktisch relevant. Aber es ist auch eine reale Option, dass die Verhandlungen mit Grünen und SPD scheitern. Der Punkt der Steuererhöhungen, die Lindner ablehnt, ist wohl der heikelste.

Und war das jetzt ein unabgestimmter Vorstoß der Grünen, der die FDP wie einen getriebenen aussehen lässt? Doch Lindner räumt das ab: „Ich darf Ihnen versichern, dass wir in regelmäßigem Austausch mit allen relevanten Akteuren stehen.“ Und wo Lindner im Wahlkampf noch die Fantasie fehlte für eine Ampel-Koalition, sagt er nun, er wolle in Verständigung mit den Grünen ein „fortschrittsfreundliches Zentrum“ bilden. „Daraus ergibt sich viel Phantasie.“

Das Gespräch Union-Grüne brachte nicht genug Gemeinsamkeiten - hinzu kamen Indiskretionen.
Das Gespräch Union-Grüne brachte nicht genug Gemeinsamkeiten - hinzu kamen Indiskretionen.
© Odd Andersen/AFP

Söder beerdigt erstmal Laschets Jamaika-Ambitionen

Wenig später wird Markus Söder in München klarmachen, dass man jetzt nicht in dauerhafter Warteschleife bleibe, sich als ständige Drohkulisse instrumentalisieren lasse. „Das ist auch mit der Selbstachtung der Union verbunden.“ Grüne und FDP hätten sich klar festgelegt. Es werde sehr wahrscheinlich eine Regierung ohne die Union geben - während Laschet wenige Minuten zuvor bei seinem Statement die Jamaika-Tür offen hält. Ohne dies könnte er schnell stürzen.

"Wir haben immer deutlich gemacht, über das weitere Verfahren entscheiden FDP und Grüne", sagt der CDU-Chef in einer kurzen Erklärung in Düsseldorf. Der Kanzlerkandidat der Union fügt hinzu: "Wir haben signalisiert: Wir stehen auch zu weiteren Gesprächen bereit."

Söder sagt dagegen in München im neuen Fernduell mit Laschet, die Ampel sei jetzt klar "die Nummer 1". „Ich bin gespannt, wie die Ampel funktioniert". Und ergänzt: „Für die Union wird es ein völlig neuer Zeitabschnitt werden.“ Was immer das heißen mag.

Der Doppel-Auftritt reiht sich ein in das von Machtkämpfen geprägte, unsortierte Bild der Union.

"Ohne CSU-Grätschen könnten wir morgen über Jamaika reden"

Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, macht gar keinen Hehl daraus, dass genau dieses Gebaren aus seiner Sicht entscheidend zum Ampel-Schwenk beigetragen hat: "Ohne die permanenten CSU-Blutgrätschen gegen Armin Laschet könnten wir morgen Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition beginnen", schrieb Kuhle bei Twitter. "Dass Söder heute gegen Jamaika schießt, obwohl FDP und Grüne diese Variante explizit offen lassen, setzt seiner Obstruktion die Krone auf."

Auf dem Weg ins Kanzleramt? Olaf Scholz.
Auf dem Weg ins Kanzleramt? Olaf Scholz.
© Annegret Hilse/reuters

Scholz redet nur 55 Sekunden: "Morgen geht's dann los"

Die erste Sondierungsrunde ist für diesen Donnerstag auf sechs Stunden angesetzt, von 11 bis 17 Uhr im City Cube auf dem Berliner Messegelände.  Die SPD wird weiterhin nur mit sechs Personen in die Gespräche gehen, Grüne und FDP mit jeweils zehn. Für die Sozialdemokraten dabei sein werden Kanzlerkandidat Olaf Scholz, die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die in Rheinland-Pfalz die bisher einzige Ampel-Koalition auf Landesebene anführt, sowie Fraktionschef Rolf Mützenich und Generalsekretär Lars Klingbeil

Hinter den Kulissen bereiten Grüne, FDP und SPD bisher erstaunlich professionell den Ampel-Start vor - auch dieser Tag wirkt im Ablauf wie orchestriert.

Scholz hat mit 55 Sekunden den letzten und kürzesten Auftritt des Tages - er und die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans lassen im Willy-Brandt-Haus auch keine Nachfragen zu.

Scholz lobt, wie ernsthaft Grüne und FDP die Regierungsbildung vorantreiben würden. Der Wille der Bürger sei klar, sagt er mit gewohnt nüchternem Gesichtsausdruck.

Aber er, der der vierte SPD-Kanzler werden will, spart nicht mit großen Zielen, ganz so wie Baerbock, Habeck und Lindner es nach acht Jahren großer Koalition wollen, eine Fortschrittskoalition. Es gehe darum, die wirtschaftliche und industrielle Modernisierung in Angriff zu nehmen, um den menschengemachten Klimawandel schnell aufzuhalten. Zudem müsse für mehr Respekt in der Gesellschaft gesorgt werden, sagt Scholz. „Und morgen gehts dann los.“

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