zum Hauptinhalt
Wegweisend? EU-Ratspräsident Charles Michel (r.) und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei ihrem Treffen am Montag in Brüssel.
© John Thys/AFP

Flüchtlingsabkommen mit der EU: Warum die Türkei jetzt einen neuen Deal will

Erdogan möchte doch mit der EU rasch über eine Neuauflage des Flüchtlingsdeals verhandeln. Hat sich der Präsident verzockt und sucht deshalb einen Ausweg?

Vor einigen Tagen hat er noch auf die Europäer geschimpft – jetzt will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit ihnen über einen raschen Ausweg aus der Flüchtlingskrise reden. Am kommenden Dienstag werde er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Istanbul zusammenkommen, sagte Erdogan auf dem Rückflug nach seinem Besuch in Brüssel am Montagabend.

Der britische Premierminister Boris Johnson werde möglicherweise auch teilnehmen. Eine Bestätigung aus Berlin und aus Paris für das Treffen mit Erdogan kommende Woche lag zunächst nicht vor

Bei dem Gipfel soll es um die Lastenverteilung in der Flüchtlingskrise und um die Lage in Syrien gehen. Erdogans Außenminister Mevlüt Cavusoglu signalisierte die Bereitschaft Ankaras, das Flüchtlingsabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 im Rekordtempo zu erneuern.

Bis zum nächsten EU-Gipfel am 26. März könnten die Grundzüge eines neuen Deals stehen, sagte Cavusoglu. Die Grenzöffnung für Flüchtlinge will Erdogan vorerst nicht zurücknehmen – um weiter Druck auf Europa machen zu können.

„Konstruktiv und positiv“ seien Erdogans Gespräche mit der neuen EU-Führung am Montag verlaufen, sagte Cavusoglu. In Brüssel hatte Erdogan zwei Stunden lang mit Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel konferiert.

Cavusoglu und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sollen nun klären, wie das Flüchtlingsabkommen von 2016 fortgeschrieben werden kann. Die Türkei will, dass die Europäische Union in Zukunft mehr Lasten übernimmt. Es könne nicht nur darum gehen, dass Europa die Türkei für die Aufnahme von Flüchtlingen bezahle, sagte Cavusoglu der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Gibt Europa mehr Geld?

Neue Finanzzusagen der EU gab es für die türkische Seite in Brüssel nicht, doch die Europäer hatten bereits vorher angedeutet, dass sie bereit sind, über den bisherigen Rahmen von sechs Milliarden Euro hinaus neues Geld in die Türkei zu schicken – wenn die Türkei die Grenze wieder schließt.

Das aber lehnt Erdogan zumindest derzeit ab. Vielmehr solle Griechenland die Flüchtlinge in den Rest der EU durchlassen, sagte der türkische Präsident vor mitreisenden türkischen Journalisten auf dem Rückflug von seinen Gesprächen in Brüssel. Allerdings hat Erdogans Regierung ihre Haltung in der Frage der Grenzöffnung relativiert.

Sie lässt keine Überfahrten von Flüchtlingen über die Ägäis nach Griechenland mehr zu, der Zustrom von Flüchtlingen an die Landgrenze mit Griechenland hat deutlich nachgelassen. Inzwischen würden den Flüchtlingen an der Grenze kostenlose Busreisen zurück in ihre Wohnorte in der Türkei angeboten, berichtete eine Delegation der Istanbuler Anwaltskammer nach einem Besuch in der Region am Wochenende.

Ankara verlangt Reisefreiheit für Türken

Trotzdem werden die anstehenden Verhandlungen nicht einfach. Erdogans Regierung verlangt unter anderem Reisefreiheit für ihre Bürger in der EU und eine Ausweitung der Zollunion zwischen der Türkei und Europa.

Beides hatte die EU bereits beim Abkommen von 2016 zugesagt, aber dann nicht umgesetzt, weil Ankara aus EU-Sicht die erforderlichen Kriterien nicht erfüllt hat. Cavusoglu betonte, die Europäische Union müsse erkennen, dass ihre Außengrenze nicht an der Türkei, sondern an der türkischen Grenze zu Syrien liege.

Die Grenze zu Griechenland will Ankara vorerst offen halten, um Druck auf Brüssel auszuüben.
Die Grenze zu Griechenland will Ankara vorerst offen halten, um Druck auf Brüssel auszuüben.
© Murad Sezer/Reuters

Bei den Gesprächen in den kommenden Wochen werden diese Themen zentrale Rollen spielen. Solange Erdogan die Flüchtlinge weiter an die Grenze lässt, wird das EU-Mitglied Griechenland keinen Zugeständnissen an die Türkei zustimmen.

Dass der türkische Präsident sich ausgerechnet jetzt auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit Europa besinnt, hat mehrere Gründe. Zum einen hat sich Erdogan schlicht verzockt. Die Öffnung der Grenze hat nicht die von ihm erhoffte Wirkung gehabt, weil Griechenland die allermeisten Flüchtlinge abfangen konnte und die volle Unterstützung der EU für diese harte Linie erhielt. Athen erklärte am Dienstag, innerhalb von 24 Stunden seien fast 1000 Flüchtlinge am Grenzübertritt gehindert worden.

Russland zeigt der Türkei ihre Grenzen auf

Zum anderen führte Erdogans Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vergangene Woche der türkischen Führung vor Augen, dass der Kremlchef im Syrien-Konflikt weniger Rücksicht auf Ankara nimmt als früher.

Verärgert äußerte sich Erdogan über ein Video, das im russischen Staatsfernsehen ausgestrahlt wurde: Der Clip zeigt, wie Erdogan und seine Delegation vor dem Treffen mit Putin in einem Vorzimmer im Kreml warten mussten. Das Warten und die Aufnahmen waren ganz offensichtlich als Demütigung Erdogans gedacht – und wurden auch so verstanden.

Erdogan braucht deshalb wieder mehr Unterstützung aus dem Westen. Mit Merkel und Macron will er unter anderem über den Bau fester Unterkünfte für Flüchtlinge in der syrischen Provinz Idlib sprechen.

Eine „neue Ära“ in den Beziehungen zur EU sei möglich, sagte der türkische Präsident. Doch dafür werden sich beide Seiten bewegen müssen.

Zur Startseite