Erdogan verhandelt über Flüchtlingsdrama: Europa schuldet der Türkei mehr als nur Geld
Die Türkei muss aufhören, die EU zu erpressen. Dafür muss die EU sich an echten Lösungen im Syrien-Konflikt beteiligen. Ein Kommentar
Wenn die Gespräche des türkischen Staatspräsidenten Erdogan mit der neuen EU-Führung an diesem Montag in Brüssel eine Chance auf Erfolg haben sollen, dann müssen sich beide Seiten von ihren Illusionen verabschieden. Ankara muss einsehen, dass es falsch und nutzlos ist, verzweifelte Flüchtlinge als Instrumente im Streit mit Europa einzusetzen. Und Brüssel sollte die Vorstellung aufgeben, dass sich die Folgen des Syrien-Kriegs mit ein paar Milliarden Euro von Europas Grenzen fernhalten lassen.
Nach ihren öffentlichen Stellungnahmen zu urteilen, hat die türkische Regierung weiterhin kein Problem damit, Flüchtlinge als Rammböcke zu benutzen, um die Festung Europa zu stürmen. Auch Griechenland solle seine Grenztore in Richtung Westeuropa – das heißt in Richtung der wohlhabenden Staaten wie Deutschland – öffnen, sagte Erdogan am Sonntag. Sein Innenminister Soylu verspricht den Flüchtlingen für die kommenden Monate einen leichten Grenzübertritt nach Griechenland, weil dann der Grenzfluss Maritza weniger Wasser führen wird.
Überrascht von der Reaktion Griechenlands
Doch offenbar gibt es in Ankara langsam Zweifel an dieser Haltung. So hindert die türkische Küstenwache die Bootsflüchtlinge inzwischen wieder an der lebensgefährlichen Überfahrt über die Ägäis nach Griechenland, wie es der von Erdogan kritisierte Flüchtlingspakt von 2016 vorsieht.
Außerdem wurde die Türkei offenbar von der entschiedenen – um nicht zu sagen brutalen – Abwehrhaltung Griechenlands überrascht. Unter den Flüchtlingen spricht sich herum, dass der Weg nach Griechenland doch nicht offen ist. Politisch hat die Türkei viel Kapital verspielt, das sie sich in den vergangenen Jahren mit der großzügigen Aufnahme von 3,6 Millionen Syrern erworben hatte.
Wenn die Regierung zuerst zehntausende Flüchtlinge – darunter viele Frauen und Kinder – zum Marsch an die Grenze ermuntert, um anschließend das Vorgehen der griechischen Grenztruppen anzuprangern, macht sie sich keine Freunde. Europa sollte sich moralische Entrüstung aber sparen.
Entgegenkommen beider Seiten ist gefragt
Die EU will schließlich weder selbst die Flüchtlinge aufnehmen noch mit einem eigenen Engagement im Syrien-Konflikt die in Sonntagsreden so gern erwähnten Fluchtursachen angehen. So wie Erdogan mit dem Versuch gescheitert ist, Europa mit dem Flüchtlingsansturm zu erpressen, hat die EU mit dem Plan Schiffbruch erlitten, sich das Flüchtlingsproblem mit der Zahlung von sechs Milliarden Euro vom Leib zu halten.
Beide Seiten sollten deshalb umdenken. Die Türkei muss einsehen, dass sie die Mitarbeit der EU nicht mit Erpressung erzwingen kann. Gerade in einer Zeit, in der das türkische Bündnis mit Russland in Syrien wackelt, braucht Ankara seine Partner im Westen. Da ist es unklug, Europa vor den Kopf zu stoßen.
Europa sollte Verständnis für die türkischen Interessen in Syrien aufbringen. Die Abneigung gegen Erdogan, die in vielen EU-Hauptstädten die Türkei-Politik prägt, ist keine gute Ratgeberin für einen rationalen Umgang mit dem Land.
Die Türkei hat eine 900 Kilometer lange Grenze mit Syrien und blickt ganz anders auf den Konflikt beim südlichen Nachbarn als Politiker in Berlin oder Paris. Die EU sollte lieber versuchen, an der Suche nach einer Lösung für den Syrien-Konflikt aktiver mitzuarbeiten als bisher. Wenn Erdogans Besuch in Brüssel dazu beitragen kann, dann hat er sich gelohnt.