Flüchtlingsdrama an der EU-Außengrenze: „Ja, hier hört Europa auf“
Tränengas und Stacheldraht: Darauf hat sich Europa schnell geeinigt. Beobachtungen aus dem Krisengebiet an der türkisch-griechischen Grenze.
Im ersten Sonnenlicht des Tages drängt sich eine Gruppe von Frauen auf dem Marktplatz der Ortschaft Nea Vyssa um die Kamera eines Regionalsenders. Es ist eine Live-Sendung. Die Frauen frösteln in der morgendlichen Kälte. Auf das Zeichen eines Fernsehmitarbeiters hin sagt eine der älteren Damen, dass die Mütter im Land sich nicht um ihre Söhne zu sorgen brauchten, die hierherbeordert werden – zum Evros, zur Grenze mit der Türkei. Aus ganz Griechenland werden Polizei- und Militäreinheiten in der Region zusammengezogen. „Wir sind jetzt ihre Mütter“, sagt sie bestimmt.
Die Mutter gehört zu einer Dorfinitiative von Frauen, die Kuchen backen und Essen kochen, um die Soldaten im Feld zu versorgen. „Mit allem, was wir haben“, sagt Chrisie Baharidou, 52 Jahre alt, rotblonde Strähnen im Haar, die ebenfalls zu den neuen Müttern gehört. Und es sind viele Soldaten, die das unweit des Flusses gelegene Dorf in diesen frühen Morgenstunden in Militärjeeps durchfahren. Das bedeutet: viele Kuchen.
Mütterliche Gesten wie diese stehen für das, was Baharidou unter griechischer Herzlichkeit versteht. Leider, sagt sie, beruhe das nicht auf Gegenseitigkeit. „Nur wenn hier etwas wie jetzt an der Grenze passiert“, meint sie erregt, „wendet sich Europa uns zu, sonst vergisst man uns hier. Warum halten wir nicht besser zusammen?“
Wo Europa aufhört, ist eine oft diskutierte Frage. Gerade wird sie wieder mit Vehemenz aufgeworfen. Praktisch in Sichtweite von Chrisie Baharidous Heimatort sind seit Tagen Tausende Flüchtlinge gestrandet. Die Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Grenzen einseitig zu öffnen, hat sie hergeführt. Doch ihre Hoffnung, über den Grenzübergang Pazarkule nach Europa zu gelangen, hat sich nicht erfüllt.
„Ja, hier hört Europa auf“, sagt Chrisie Baharidou.
"Wir sind Menschen, die ein großes Herz haben"
Sie meint damit nicht nur, dass sie von ihrem Haus aus über Felder hinweg die europäische Außengrenze zur Türkei erblicken kann. Europa, das ist etwas anderes. Vor allem: Anerkennung. Baharidou sagt: „Wir sind Menschen, die ein großes Herz haben. Warum kann man uns nicht ebenso lieben?“
Europäer wollen geliebt werden, heißt das. Am liebsten von anderen Europäern. Das macht die Lage in der Grenzregion des Evros so brisant, wo einer von zwei offiziellen Übergängen derzeit in einer Sackgasse endet – und die Griechen tun viel dafür, dass es so bleibt. Einerseits aus verletztem Stolz: Die Erdogan-Regierung pflegt sich seit Jahren über griechische Hoheitsrechte am Evros sowie im Mittelmeer hinwegzusetzen. Andererseits aus dem Gefühl heraus, Teil einer größeren Sache zu sein.
Die Grenzsicherung am Evros stellt seit Jahren ein Problem dar. Der Fluss schlängelt sich in vielen Windungen nach Süden, bevor er in unübersichtlichem Marschland mündet. Obwohl alte Bunkeranlagen, Wachtürme und militärische Horchposten von der langen Tradition gegenseitigen Misstrauens entlang dieser Grenze zeugen, sind nicht alle 200 Kilometer gleich gut zu schützen.
Sie seien es gewohnt, dass Migranten über den Fluss kämen, sagt Georgio Meacharide in Nea Vyssa. Er hat die Frauen auf den Markplatz begleitet, hält sich im Hintergrund. Der 60-Jährige hat lange in Darmstadt gelebt, wo sein Bruder noch immer zu Hause ist. Meacharide, der als Kellner arbeitet, hebt grüßend die Hand, wenn ein Dorfbewohner vorbeifährt. Silberner Ohrring, getönte Brille, senffarbenes Jackett.
Während die Frauen sich Zigaretten anstecken, erzählt Meacharide: „Früher waren es viele Flüchtlinge, sie hatten Kinder dabei. Aber das ebbte ab. Wenn sie es heute schaffen, sind sie alleine und warten morgens an der Bahnlinie auf den Zug.“
Auch hier sind viele Menschen vor der Armut weggelaufen
Er kann die Beweggründe der Leute verstehen. „Viele kommen nur auf der Suche nach einem besseren Leben“, sagt Meacharide. „Wer kann es ihnen verübeln?“ Und er blickt sich um. Aus dieser Gegend seien auch viele Menschen vor der Armut weggelaufen.
Nicht die Fremden selbst, sagt er, würden den Dörflern Angst machen. Wenn die Fremden aus dem Fluss stiegen, seien sie durchnässt und frören, erzählt Meacharide. Sie suchten sich eines der verlassenen Häuser und kletterten durch die Fenster hinein. „Manchmal machen sie ein Feuer, um sich aufzuwärmen und die Klamotten zu trocknen. Und plötzlich brennt das ganze Haus. Davor haben wir Angst. Dass sie hier durchkommen, stört uns ansonsten nicht. Hallo, und fertig.“
In Kastanies wollen die griechischen Behörden genau das verhindern. Da ist das schwere Metalltor, das den Weg versperrt, der durch das Dorf führt und über eine schmale Zufahrt hinaus auf die türkische Seite führt. Ins offene Gelände, über das sich Edirne erhebt, die weiße Stadt, die wie ein schlafender, marmorner Leguan auf einem Hügel liegt.
An normalen Tagen fahren Griechen zum Einkaufen nach Edirne, die türkische Lira hat seit Erdogans Machtantritt gegenüber dem Euro stark an Wert verloren. Und türkische Familien, so erzählen es Einheimische, unternähmen Ausflüge in die griechischen Lokale der Region, wo es Ouzo gibt und große Baldachine, die den Alkoholgenuss vor den Augen Allahs verbergen.
Die Botschaft aus dem Lautsprecher: "The border is closed!"
Nun aber gibt es diesen Austausch nicht mehr. Stattdessen hört man von jenseits des Zauns das schrille Getöse einer aufgebrachten Menschenmenge, die Einlass begehrt. Dann durchbrechen Feuerstöße automatischer Waffen den Lärm aus Pfiffen und Geschrei, und kurz darauf ziehen sich die Menschen von den Feldern in ein Waldstück entlang der Straße zurück. Ihr Drängen wird mit der monotonen, scharfen Botschaft aus einem Lautsprecherwagen der Armee beantwortet: „The border is closed!“
Auf diese Antwort, auf Stacheldraht und Tränengas, hat sich Europa diesmal sehr schnell geeinigt. Ursula von der Leyen sprach als neue Kommissionspräsidentin bei einer Stippvisite an dieser Grenze am Dienstag von einem „Schild“.
Die Geschehnisse des Jahres 2015 dürften sich nicht wiederholen, ist ein oft wiederholter Satz. Als Konsens gilt, dass es nicht wieder zu einer Balkanroute kommen dürfe, auf der weitgehend sich selbst überlassene Geflüchtete Richtung Deutschland ziehen würden. Dafür ist man offenbar bereit, eine Belagerung der Festung Europa in Kauf zu nehmen. Soll Erdogan doch sehen, wohin sein Erpressungsversuch führt. Nun hat er eine weitere humanitäre Katastrophe auf seinem Gebiet zu bewältigen.
Europäisches Krisenmanagement?
Journalisten und Fernsehteams beobachten das Geschehen von einem Bahndamm aus, der einen halben Kilometer vom Zaun entfernt ist. Die Presse darf später am Tag näher heran. Doch die Art, wie hier gleichzeitig auf Ordnung und Distanz geachtet wird, sagt viel aus über das neue europäische Krisenmanagement.
Einer schafft es an diesem Mittwoch dennoch, für Nähe zu sorgen. Aus Athen reist der Erzbischof Hieronymos II. an, Oberhaupt der orthodoxen griechischen Kirche. Gegen Mittag entsteigt „Seine Seligkeit“ einer schmucklosen Limousine, ordnet ungelenk sein im Wind flatterndes schwarzes Seidengewand und herbei eilen die Befehlshaber von Polizei und Armee, um dem greisen geistlichen Oberhaupt die Hand zu küssen. Der regionale Polizeichef hat noch Reste dunkler Tarnfarbe im Gesicht. Eng drängen sich die Militärs um den Patriarchen.
Die Griechen sind stolz auf ihre Grenzschützer
Er ist gekommen, um den Truppen seinen Segen zu geben. Obwohl er mit jenen fühle, sagt er in der Kirche von Kastanies, die zurückgewiesen würden, könne Europa doch die Augen nicht davor verschließen, dass ihre Not von der Türkei missbraucht werde. Der Stolz der Griechen auf ihre Grenzschützer werde nicht dadurch gemildert, dass es zu tragischen Szenen komme.
Nach dieser kurzen Ansprache und einem Abstecher an die Grenze rauscht die Wagenkolonne des Bischofs wieder von dannen. Wie lange lässt sich dieses Prinzip mitfühlender Härte wohl aufrechterhalten?
30 Kilometer flussabwärts bei Didymoteicho windet sich der Evros durch ein von sanften Hängen gesäumtes Delta. Hier, wo mittelalterliche Burgruinen über uralten Handelswegen wachen, hat es am Mittwochabend eine Gruppe von zwei Dutzend Männern über den Fluss fast bis zur Landstraße geschafft. Sie kauern dicht beisammen im Schutz einer Hecke, da werden sie von einer patrouillierenden Militärstreife entdeckt. Die beiden Soldaten haben keine Mühe, die Männer näherzurufen. Sie werden abtransportiert.
Die Türkei beschuldigt, Griechenland dementiert
Wohin, ist nicht ganz klar. Etwas außerhalb von Fylakio existiert ein berüchtigtes Auffanglager, das nach Recherchen des italienischen „Corriere della Sera“- Journalisten Lorenzo Cremonesi mittlerweile etwa 600 Personen beherbergen soll. Es gibt auch Berichte darüber, griechische Grenzschützer hätten Geflüchtete misshandelt. Und sie ohne Kleidung, Papiere und Handy zurück in die Türkei schwimmen lassen. Die Türkei erklärt sogar, griechische Sicherheitskräfte hätten am Mittwoch einen Flüchtling erschossen, was Griechenland dementiert.
In die vom Militär kontrollierte Sperrzone dürfen nur einheimische Bauern mit einer Sondergenehmigung, obwohl die Feldwirtschaft auf beiden Seiten der Grenze bis an den Fluss reicht. Der Uferbereich ist wie eine Membran, die einzelne Flüchtlinge immer wieder durchdringen. Doch weit kommen sie bei dem hohen Aufgebot an Militär selten. Man sieht sie oft am Straßenrand neben einem Jeep darauf warten, dass ein größerer Transporter sie abholt.
An Stellen, an denen der Flusslauf besonders dicht an der Schnellstraße entlangführt, kann es vorkommen, dass man junge Männer vom Ufer kommend über freies Feld hasten sieht, um sich im dichten Gehölz der Hügel zu verbergen.
Sandbänke erleichtern es, nach drüben zu kommen
„Die Leute schaffen es immer wieder rüber“, sagt ein Grenzpolizist, der neben seinem weißen Geländewagen am Dorfrand von Praggion steht. „So viele Polizisten kann man gar nicht an der Grenze verteilen, um das zu verhindern“, sagt der Mann mit den Rangabzeichen eines Wachtmeisters. Mit zwei Kollegen kontrolliert er an diesem Donnerstagmorgen ein Niemandsland. Praggion liegt in einem Evros-Bogen, in dem es zahlreiche Sandbänke gibt, was den Grenzübertritt erleichtert.
Ob die Flüchtlinge einen Plan haben oder auf Unterstützung hoffen? „Die folgen einfach den Bahngleisen nach Saloniki“, sagt der Wachtmeister. „Mehr wissen sie nicht. Dort hoffen sie Arbeit zu finden.“
Die Gleise verbanden die Provinz früher direkt mit Thessaloniki, in Betrieb ist aber nur noch eine lokale Bahn, die zweimal täglich entlang des Evros nach Norden und wieder nach Süden fährt. In Gebüschen an der Haltestelle von Kastanies finden sich zurückgelassene Kleider, Tragetaschen und Rucksäcke, überall sind leere Wasserflaschen verstreut. Ähnliche, zum Teil verkohlte Kleiderreste finden sich überall entlang der Strecke.
Eine der letzten Gelegenheiten, auf den Zug zu springen, bietet sich den Grenzgängern in Ferres. Hier, wo sich der Fluss in mehreren Nebenarmen seinen Weg durch eine weite Ebene zur Küste bahnt, gelangt man über eine einzige Zugangsstraße an die „Front“. Der Zugang wird an Checkpoints reguliert. Wem diese Straße gehört, machen die Einheimischen unmissverständlich klar. Ein Konvoi aus privaten Jeeps, Pick-up- Trucks und Pkws rollt in Richtung Grenze. Den Abschluss bildet ein gelber Jeep, der auf seiner Ladefläche eine überdimensionierte Griechenlandflagge im Fahrtwind wehen lässt.
Ein Polizist am Straßenrand beobachtet die Szene. Wer das sei? „Leute aus der Stadt.“ Haben die sich zu einer Bürgerwehr zusammengeschlossen? „Das sind normale Leute.“ Es sieht wie eine organisierte Kolonne aus, oder nicht? „Ich weiß nicht.“
Eine Grenze ist nur so viel wert, wie beide Seiten in ihre Sicherheit investieren. Sie zum Spielball politischer Interessen zu machen, ruft radikale Kräfte wach. Während der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis das Flüchtlingsabkommen für „tot“ erklärt, will Erdogan am Montag in Brüssel neu verhandeln. Sein Argument sind die Tränengaswolken über dem Grenzübergang von Kastanies.