Die Hauptstadt nach Corona: Warum die Krise für Berlin eine historische Chance ist
Verschwende niemals eine Krise! Das gilt für die aufstrebende Medizinmetropole Berlin jetzt ganz besonders. Ein Kommentar.
Wovon wollen wir nach der Coronakrise leben? Je schneller diese Frage beantwortet wird, desto sinnvoller und zielgerichteter können die gewaltigen Summen wirken, die erst unsere Rettung und dann unsere Schulden sind.
Für Berlin eröffnet sich in dieser Lage eine historische Chance. Verschwende niemals eine Krise! Diese Winston Churchill zugeschriebene Einsicht gilt jetzt für die aufkommende Medizinmetropole Berlin mit ihren vielen Akteuren rund um Charité, BIH, Max Delbrück, Bayer, Sanofi, Pfizer und World Health Summit.
Die Coronakrise zeigt, welche großen medizinischen Aufgaben ungelöst sind, wie sie jeden Einzelnen und die ganze Welt gefährden und welchen immensen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wert es hat, diese Gesundheitsgefahren besser abzuwehren.
In diesem Licht lässt die Krise drei Merkmale von Berlin als weltweit einzigartig attraktive Mischung erscheinen. Im internationalen Vergleich erscheint erstens unser Regierungssystem zwischen dem totalitären Peking und dem trumpen Washington als Heimat von Vernunft und Handlungsfähigkeit.
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Zweitens: Unser Gesundheitssystem ist weder elitär noch kollabiert, es funktioniert.
Und drittens ist Berlin bei der Erforschung der Menschheitsplage Covid-19 weltweit anerkannt als führendes Zentrum. Manches davon mag mehr scheinen als sein – aber das Fenster ist offen. Kein Ort auf der Erde kann in diesen Wochen mit größerer Überzeugungskraft zu einer großen Anstrengung in der Gesundheitsforschung aufrufen und sich selbst als Zentrum dafür empfehlen.
Dafür braucht es allerdings mehr als nur eine günstige Gelegenheit – ein Plan von der Zukunft der Medizin ist gefragt, der nicht nur Forscher überzeugt, sondern auch um Mehrheiten und Budgets kämpfende Politiker in Berlin und Brüssel.
Dafür muss dieser Plan aus Berlin den Menschen Hoffnung spenden, die sich um ihre Gesundheit und ihren künftigen Wohlstand sorgen.
Der Berliner Medizinforscher Nikolaus Rajewsky hat die Zukunftsvision angelehnt an Berlins große Tradition „Virchow 2.0“ benannt. Jetzt muss der Inhalt folgen.
Was hat virchowsche Wucht, was kann eine Menschheitshoffnung erfüllen? Das Verstehen der einzelnen Zelle, die Zellklinik, wie Rajewsky im Tagesspiegel schrieb? Die personalisierte Medizin? Die „Translation“ vom Labor ans Krankenbett? Die digitale Medizin? Die voraussagende („predictive“) Medizin, die Krankheiten vorwegnimmt?
Ein Gesundheits-Cern für Berlin?
Die in Revierkämpfen erprobten Spezialisten müssen sich einigen: Was ist am vielversprechendsten und in welcher Form?
Vielleicht als Gesundheits-Cern mit Partnern und Geldgebern weltweit, wie das globale Physikforschungszentrum bei Genf? Dieser Plan braucht dann breite Unterstützung über alle Institutionen hinweg bis zur Pharmawirtschaft, den Kliniken und Kassen.
Wichtig sind erste, glaubwürdige Vorleistungen aus Berlin, um in der Welt Talente und Geld anzuziehen. Das kann ganz sparsam erst einmal nur ein durchdachtes Studienangebot sein, das nicht Laborverwalter, sondern Medizinentrepreneure hervorbringt und weniger kostet als ein Medizinstudium. Das wäre eine günstig zu schließende Lücke im Berliner Medizin-Ökosystem.
Berlin hat es mit diesem Ansatz bei den Digital-Start-ups an die europäische Spitze geschafft und liegt doch mit weitem Abstand hinter dem globalen Schrittmacher Silicon Valley. Bei der Medizin darf der Ehrgeiz durchaus etwas größer sein. Corona kann der Anstoß für Berlin sein, aus der Europaliga auf Augenhöhe mit dem biomedizinischen Weltzentrum Boston zu gelangen.
Dort ist die Gesundheitswirtschaft der Motor des Wohlstandes und selbst in der Krise stabil. Die Anstrengung wäre für Berlin gewaltig. Das passt zur Dimension der Krise und zu den Schmerzen, die Berlin so oder so vor sich hat. Die Rettung einer Airline kostet zehn Milliarden Euro. Was ist dann unsere gesunde Zukunft wert?
Sebastian Turner
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