Woche der Entscheidung: Wann kommen Ausnahmen für Geimpfte – und wie weit gehen sie?
In der Politik wird laviert und abgewogen. Aber eine Verfassungsjuristin mahnt: Gerechtigkeitserwägungen reichen für längere Einschränkungen nicht aus.
Wenn sich am Montag das Corona-Kabinett trifft, in dem die mit der Pandemie direkt befassten Minister unter Leitung der Kanzlerin zusammenkommen, dann liegt ein Papier von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) auf dem Tisch: die „Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19“.
Eine solche Verordnung ist im Gesetz zur „Bundesnotbremse“ vorgesehen, ohne sie würden für Geimpfte und Genesene weiter alle Einschränkungen bei Inzidenzwerten über 100 gelten – mindesten bis 30. Juni.
Nach einem Verordnungsentwurf vom Wochenende, der dem Tagesspiegel vorliegt, sollen Geimpfte nicht nur mit Getesteten gleichgestellt werden (was für Inzidenzen unter 100 schon in fast allen Bundesländern verordnet wurde).
Für sie sollen zusätzlich die Einschränkungen bei privaten Zusammenkünften entfallen, auch Ausgangssperren gelten dann nicht mehr für Geimpfte. Zudem – und das ist neu gegenüber früheren Entwürfen – sollen auch die Beschränkungen bei kontaktlosen Individualsportarten aufgehoben werden.
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SPD macht Druck
Unklar war bis Sonntagabend, von wann an das gelten soll. Der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner sagte dem Tagesspiegel: „Die Verordnung muss jetzt schnell kommen. Den Menschen werden viele Einschränkungen zugemutet. Sie haben jetzt das Recht auf einen klaren Fahrplan zu möglichen Lockerungen.“
Wenn die Union mitmache, könne das Kabinett an diesem Montag die neuen Regelungen beschließen. Im Bundestag könnten dann am Mittwoch die Ausschüsse beraten, am Donnerstag könnte die Verordnung verabschiedet werden. Und am Freitag könne der Bundesrat zustimmen. „Dann könnten die neuen Regeln am Samstag in Kraft treten“, sagte Fechner. „Wir haben in schnellen Verfahren die Grundrechte eingeschränkt, genauso so schnell müssen nicht mehr notwendige Beschränkungen aufgehoben werden.“
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ an, er halte es für realistisch, dass der Entwurf Ende der Woche die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erhalten könne. „Wir haben den Ehrgeiz, dass wir diese Zustimmung bekommen und für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger wäre das auch richtig.“
Auch Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans dringt auf eine schnelle Einigung. „Die weitgehenden Grundrechtseinschränkungen dürfen kein Dauerzustand werden“, sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Es sei gut, dass „jetzt auch Bundes-Pläne auf dem Tisch liegen“.
Der Entzug von Grundrechten muss verhältnismäßig sein. Gerichte achten darauf. Zuletzt hat etwa das Oberverwaltungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern entschieden, dass das von der Landesregierung verfügte Einreiseverbot und Ausreisegebot für Geimpfte und Genesene nicht gelten darf und eine Neufassung der entsprechenden Landesverordnung verlangt.
Begründung: Es werde nicht zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften unterschieden. Das sei willkürlich, weil Geimpfte beim Pandemiegeschehen „keine wesentliche Rolle mehr spielten“.
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Das Gericht (das in dem Fall über die Einreise eines Zweitwohnungsbesitzers entschied) bezog sich auf die Erkenntnisse des Robert-Koch-Instituts (RKI) von Ende März. Die gelten weiterhin, auch wenn RKI-Chef Wieler vorige Woche nochmals darauf hinwies, dass eine Impfung natürlich keine hundertprozentige Sicherheit biete.
Aber auf die muss es auch nicht ankommen. Der Lambrecht-Verordnung liegt unter anderem die Einschätzung zugrunde, dass das „Restrisiko“ einer Weiterübertragung des Virus durch Geimpfte „ganz erheblich, auf ein auch in anderen Zusammenhängen toleriertes Maß gemindert ist“.
Spaltung der Gesellschaft?
Zwei Fragen werden in den kommenden Tagen eine Rolle spielen. Einerseits geht es darum, ob der Entwurf nicht zu weit hinter dem rechtlich Gebotenen zurückbleibt. Andererseits wird zu bedenken gegeben, dass die Befreiungen für Geimpfte zu Ungerechtigkeiten für Nicht-Geimpfte führen. Doch sind die zumutbar? Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, warnt am Sonntag abermals vor einer Spaltung der Gesellschaft.
Anna-Bettina Kaiser, Professorin für Verfassungsrecht an der Berliner Humboldt-Universität, verweist auf die komplexen Abwägungsprobleme. In der Debatte spielten Argumente aus dem Ethikrat eine große Rolle, wonach bei den Ausnahmen für Geimpfte auch „Gerechtigkeit“ und „gesellschaftliche Solidarität“ eine Rolle spielen sollten, sagte sie dem Tagesspiegel. Wenn nun vor allem Ältere Vorteile hätten, Jüngere aber noch warten müssten, dann könne es zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommen, so die Argumentation.
"Wo liegen nachteilige Folgen?"
„Diese Gerechtigkeitserwägungen des Ethikrats sind juristisch betrachtet für eine fortdauernde Beschränkung der Grundrechte für Geimpfte jedoch nicht ausreichend“, sagte Kaiser. „Denn wo sollten die möglichen nachteiligen Folgen einer zügigen und breiten Ausnahmeregelung für Geimpfte liegen? Würde sich eine Situation ergeben, in der Nicht-Geimpfte die für sie weiterhin geltenden Einschränkungen nicht mehr akzeptierten und damit der Gesundheitsschutz leiden würde?“
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Laut Kaiser müsste die Regierung, wenn sie tatsächlich derartige soziale Zerwürfnisse befürchte, auch Argumente und Nachweise vorlegen, die das nahelegten. „Sie trifft hier eine Darlegungspflicht, die wohl nicht ganz einfach zu erfüllen ist“, betont die Grundrechtsexpertin.
„Es könnte ja auch anders kommen: Jüngere freuen sich oder akzeptieren es, wenn Ältere zum Beispiel schon mal in ein Theater gehen können. Oder sich in ein Restaurant setzen dürfen. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive wäre es im Übrigen nur vorteilhaft, wenn in der Gastronomie wieder Umsatz gemacht werden kann.“ Ähnlich sei es beim Beherbergungsverbot.
Nach Kaisers Einschätzung ist aber auch klar: „Die AHA-Regelungen sind auch für Geimpfte weiterhin gerechtfertigt.“
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