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Die Tatsachen interessieren ihn null Prozent.
© Gerald Herbert/AP/dpa

Donald Trump und seine Lügen: Wahr? Falsch? – Das kann ihm egal sein

Donald Trump könnte als Präsident wiedergewählt werden – trotz allem. Seinen Anhängern ist Loyalität wichtiger als Wahrheitsliebe. Das ist durchaus menschlich.

Donald Trump lügt. Laut „Washington Post“ hat der US-Präsident bis zum 9. Oktober genau 13.435 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt. Das kann man notorisch nennen. Derart skrupellos wie er hat sich jedenfalls seit dem Zweiten Weltkrieg kein demokratisch gewählter Staatschef über Tatsachen hinweggesetzt. Trotzdem kann Trump wiedergewählt werden. Seine Republikaner halten zu ihm. Woran liegt das?

An Trumps Charakter wohl nicht. Auch Republikaner lehnen Lügen in der Politik mehrheitlich ab, sie sind gegen eine hohe Staatsverschuldung, gegen Sexismus und Rassismus. Eine reine Güterabwägung ist es nicht, die ihre Loyalität zu Trump erklärt. Ginge es nach den gängigen Regeln der politischen Vernunft müssten sie in Scharen desertieren. Das tun sie aber nicht. Vielleicht hilft zur Erklärung ein kleiner Ausflug in die kognitive Psychologie. In jene psychischen Vorgänge also, die Wahrnehmung, Wissen und Erkenntnis verstehen lassen.

Trumps Methode, sich die Dinge nach Belieben zurechtzubiegen, zeigt sich früh. Legendär ist ein Telefon-Interview, das er am 29. Mai 2012 von Las Vegas aus mit dem CNN-Moderator Wolf Blitzer führte. Das war mitten im Präsidentschaftswahlkampf. Für die Republikaner kandidierte damals Mitt Romney.

Trump saß in der Klemme

Trump bestritt energisch, dass Präsident Barack Obama in den USA geboren worden war, mithin ein legitimer Präsident sei. Daraufhin präsentierte Blitzer sowohl die Geburtsurkunde Obamas, bestätigt vom Gouverneur von Hawaii, als auch eine Geburtsanzeige von damals in einer Lokalzeitung von Hawaii. Außerdem zitierte er Romney, der alle Zweifel an der Nationalität Obamas zurückwies.

Trump saß in der Klemme. Was tun? „Nun“, sagte er, „Romney hat seine Meinung, das ist schön, ich habe meine Meinung, das ist auch schön.“ Blitzer entgegnete: „Aber wir reden über Tatsachen, nicht über Meinungen.“ Daraufhin Trump: „Was heißt hier Tatsachen? Es gibt viele Menschen, deren Namen ich nicht nenne, die diese Geburtsurkunde für nicht authentisch halten.“

In ihrem Essay „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (1963) hat Hannah Arendt den Prozess der Verwandlung einer Tatsachenwahrheit in eine Meinung analysiert. Sie schreibt: „Da der Lügner ,Tatsachen’ frei erfinden oder umgestalten kann, hat er die Möglichkeit, sich nach dem zu richten, was seinem Publikum gerade gelegen kommt oder zu erwarten steht.“ Indem Tatsachen als Ansichtssachen diskreditiert werden, zu denen man sich auf unterschiedliche Weise verhalten kann, wird aus ihnen eine bloße Meinung, die subjektiv und wandelbar ist.

Das Denken hat eine soziale Funktion

Warum nun wankt Trumps Lügengebäude nicht? Warum können ihm sämtliche Entlarvungen nichts anhaben? Vor zwei Jahren veröffentlichten die Kognitionspsychologen Hugo Mercier und Dan Sperber ein Buch mit dem Titel „The Enigma of Reason“ (Das Geheimnis der Vernunft). Ihre These: Menschen denken nicht, um klüger zu werden, mehr zu wissen und mehr zu verstehen, sondern um den Zusammenhalt in ihrer jeweiligen Gruppe zu fördern.

Das Denken hat eine soziale Funktion. Es soll Identität stiften und den eigenen Rang innerhalb der Gruppe dokumentieren. Das kann eine Nation sein, eine Partei, ein Stamm, eine Religionsgemeinschaft. Die Loyalität der Gruppenmitglieder ist wichtiger als deren Wahrheitsliebe oder die Widerspruchsfreiheit.

Folglich wird die Frage „Was ist wahr?“ dem Bekenntnis „Bist du für oder gegen uns?“ untergeordnet. Dan Kahan von der Yale Law School nennt das die „identity-protective cognition“ (identitätsbeschützende Wahrnehmung). Intuitiv suchen wir nach Informationen, die unser Weltbild bestätigen, und meiden solche, die es in Frage stellen.

Nach der US-Präsidentschaftswahl 2012 wurden Anhänger von Obama und Romney einem Test unterzogen. Sie sollten sich die wichtigsten Argumente der jeweiligen Gegenseite anhören. Für mehr als ein Drittel der Obama-Wähler und mehr als die Hälfte der Romney-Wähler kam diese Erfahrung den Schmerzen einer Zahnoperation gleich.

Widerspruch wird als Verrat ausgelegt

Wir wollen, dass unsere Ansichten mit den Gruppen übereinstimmen, denen wir uns nahe fühlen. Wir verteidigen die Ansichten dieser Gruppen, weil unsere eigene Identität davon abhängt. Hannah Arendt schreibt: „Dass Menschen Tatsachen, die ihnen wohlbekannt sind, nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihrem Vorteil oder Gefallen widersprechen, ist ein so allgemeines Phänomen, dass man auf den Gedanken kommen kann, dass es vielleicht im Wesen der menschlichen Angelegenheiten liegt, mit der Wahrheit auf Kriegsfuß zu stehen.“

Trump schweißt die Seinen zusammen. Widerspruch wird als Verrat ausgelegt. Loyalität hat Vorrang vor Ideologie, Charakter oder faktenbasierter Argumentation. Seine Unterstützer halten zu ihm, obwohl sie seinen Lügen nicht glauben: Das sei der Kern des „lying-politician paradox“ (Paradox des lügenden Politikers), wie das britische Magazin „Economist“ das Phänomen beschreibt.

Kein Vergleich, kein Abwägen, kein Diskurs

In den USA leben Republikaner und Demokraten in parallelen Wahrnehmungswelten, die sich kaum je berühren. Der Begriff dafür heißt „cocooning“. Die Medien sind ein Teil der Polarisierung, auch weil es kein starkes öffentlich-rechtliches Rundfunksystem gibt. Doch wer im Kokon lebt, sieht das Andere nicht. Kein Vergleich, kein Abwägen, kein Diskurs. Das erhöht den Gruppendruck und vermindert die Bereitschaft, sich ein eigenes, unabhängiges Urteil zu bilden.

Vom französischen Philosophen Hippolyte Taine stammt das Bonmot: „Vergeblich beklagt sich die Vernunft, dass das Vorurteil die Welt regiert; denn wenn sie selbst die Welt regieren will, muss sie sich ebenfalls in ein Vorurteil verwandeln.“ Leichter gesagt als getan.

Malte Lehming

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