Die Schwäche der SPD-Chefs: Vorsitzende als Statisten? „Olaf muss alleine laufen“
Mühevoll wird die Harmonie aufrecht erhalten, aber Saskia Esken und Norbert-Walter-Borjans wirken strategisch überfordert, ein Nachteil auch für Olaf Scholz.
Früher hatte hier oben Egon Bahr sein Arbeitszimmer und verschwand hinter Rauchschwaden, jedes Treffen mit ihm ein Erlebnis. Die Säle tragen die Namen großer Sozialdemokraten, vor dem Helmut-Schmidt-Saal steht eine Skulptur des früheren Kanzlers, mit Zigarette natürlich in der Hand. „Willen braucht man. Und Zigaretten“, sagte er mal.
Das Willy-Brandt-Haus atmet Historie, in Pandemiezeiten ist es ein seltsam lebloser Ort. Nun sitzen in dem Saal Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Und haben keine klare Botschaft. Es ist der Mittwoch vor dem Parteitag, bei dem Olaf Scholz auch offiziell zum Kanzlerkandidaten gekürt wird. Sie könnten jetzt im Interview mit dem „Tagesspiegel“ knackig formulierte Angebote an die Bürger, neue Aufbruchsideen ventilieren, oder Annalena Baerbocks Schwächen sezieren. Aber stattdessen Lavieren, Allgemeinplätze, Scheuen klarer Aussagen. Einflussreiche Sozialdemokraten sagen, die beiden seien nur noch in einer "Statistenrolle", was aber auch für alle das Beste sei.
Sie ordnen sich dem Kandidaten Olaf Scholz, der ihnen beim Mitgliederentscheid um den Vorsitz noch unterlegen war, unter.
Im Vergleich zu früheren Zeiten eigentlich eine gute Voraussetzung für einen Wahlkampf aus einem Guss. Aber noch nie wurde die Führung der SPD so wenig öffentlich wahrgenommen, es gibt selten eine Einladung in Talkshows, von Sprecherin Ingrid Herden unterbreitete Interviewangebote mit den Vorsitzenden werden mitunter von Medien abgelehnt, auch angebotene Exklusiv-Aussagen.
Das kann sich in Sachen Arbeitsteilung im Wahlkampf und bei der "Verkaufe" des Wahlprogramms für Olaf Scholz zum strategischen Problem auswachsen. „Scholz wird überfordert, weil er alleine laufen muss“, sagt ein Wahlkampfkenner der Partei.
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Die Angst: Eine schleichende Implosion
Mehrere für diesen Bericht kontaktierte Sozialdemokraten wollen nicht öffentlich zitiert werden, denn Ruhe sei die oberste Bürgerpflicht.
Aber immer wieder wird Verdruss über das von einigen als amateurhaft empfundene Führungsduo geäußert, doch sie sind nun einmal von den Mitgliedern bestimmt worden.
Ein früherer Vorsitzender hat die Sorge, dass die Partei mit ihren - laut Umfragen - Glaubwürdigkeits- und Personaldefiziten langsam implodieren kann, kein lauter Knall, sondern Siechtum.
Die Angst ist greifbar, aber keiner will die unter Schmerzen aufrechterhaltene Harmonie vor dem Wahltag gefährden.
Dafür werden auch teils seltsame Vorstöße der Vorsitzenden versucht, intern frühzeitig auszubremsen.
Walter-Borjans patzt beim heiklen Thema Israel
Das gelingt nicht immerd frühere NRW-Finanzminister, Walter-Borjans macht nun zwar zumindest wieder mal Schlagzeilen für die SPD, aber wieder keine vorteilhaften: Er forderte nach der jüngsten Vorstandssitzung deutsche Mitsprache in Israel, als Gegenleistung für Rüstungsexporte. "Wir haben den Anspruch, ein Stück gehört zu werden, wenn es darum geht, deeskalierend zu wirken, sich einer Zwei-Staaten-Lösung zu öffnen, Verhandlungen zu führen."
Mit Blick auf die besondere Rolle Deutschlands gegenüber Israel erntet er dafür Kopfschütteln. Und intern ist der Ärger groß, in der Vorstandssitzung vor dem Statement Walter-Borjans war nie die Rede von solchen Bedingungen, immer wieder sorgen solche unbedachten, ungelenken Äußerungen für Verwirrung, statt die Kernthemen des Wahlprogramms in den Fokus zu rücken.
Sprecherin Herden will von zunehmendem Verdruss nichts wissen: "Die Parteivorsitzenden führen die SPD als mitgliederstärkste Partei Deutschlands sehr erfolgreich und mit einem großen Zusammenhalt".
Doch die Wirkung in Umfragen und die Innenwahrnehmung vieler Genossen spricht bisher nicht für den großen Erfolg, den die Sprecherin in der Amtsführung der Vorsitzenden sieht.
Die SPD habe sich bewusst für eine Aufteilung der Parteispitze als Doppelspitze und einem Kanzlerkandidaten entschieden. "Die Parteispitze nutzt damit den Vorteil, dass damit noch mehr Kapazitäten für die Kommunikation mit Zielgruppen, Mitgliedern und Medien vorhanden sind", so Herden.
Aber wenn schon die eigenen Führungsleute nicht überzeugt sind, sondern oft eher fassungslos sind, wie soll nach draußen ein Aufbruch gelingen? Und haben beide Vorsitzenden das strategische Rüstzeug für ihre Aufgabe?
„Hauptgegner der SPD bleiben die Konservativen“, sagt Esken in jenem Interview. Aber ist die These nicht falsch? Als es 2017 den Höhenflug mit Martin Schulz gab, fiel die Union nie unter 30 Prozent, die SPD mobilisierte bei dem Umfragehoch vor allem frühere SPD-Wähler und wilderte bei den Grünen. Hier gibt es weit mehr Wanderbewegung, also zwischen rotem und grünem Lager. Doch anstatt den Grünen etwas entgegenzusetzen, wird versucht, beim Klimaschutz die Grünen zu kopieren.
Den Grünen hinterherlaufen?
Der SPD war es sehr wichtig, das vom Verfassungsgericht beanstandete Klimaschutzgesetz möglichst ehrgeizig zu verschärfen. Zwar wurde eine hälftige Beteiligung von Vermietern bei gestiegen Nebenkosten durch einen höheren CO2-Preis durchgesetzt. Aber höhere Benzinpreise treffen gerade Menschen, die sich kein neues Auto leisten können und Pendler - und höhere Strom- und Heizkosten Menschen mit schlecht gedämmten Wohnungen, kümmert man sich genug um de Seite? „Ziele raufsetzen ist einfach“, betont Ex-Parteichef Sigmar Gabriel. Wo bleibe die soziale Klimawende? „Wie schützen wir die, deren Mieten zu hoch und deren Renten zu klein sind?“ Und bei den Verhandlungen über ein Corona-Konjunkturpaket kam es zum Bruch mit Gewerkschaftern, als sich die neue SPD-Spitze strikt gegen Prämienmodelle für spritsparende Autos mit Verbrennungsmotor stellte. Sie vermissen die SPD, die für Industriepolitik mit Augenmaß steht.
Parteitag wie "im Legoland"
Interne Kritik entzündet sich nun auch an der Choreographie des jüngsten Parteitags, das zielt auch auf SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Bei der CDU liefen im Hintergrund Bilder der Delegierten über eine große Videowand, es war eine perfekte, schmissige Online-Inszenierung, Armin Laschet wanderte umher, hielt mit der Bergmannsmarke seines Vaters in der Hand eine emotionale Rede und wurde zum CDU-Chef gewählt. Die SPD-Anordnung in der Messe Berlin habe dagegen wie ein „Legoland“ gewirkt, zudem habe Scholz die ganze Zeit sein Mikrofon umklammert und sein Ablesen vom Teleprompter wie ein Blick ins Nichts gewirkt. Auch hier waren die Chefs eher Statisten. Aber je mehr sie schweigen, desto besser, ätzt ein Sozialdemokrat. Wenn Esken Redebeiträge von Karteikarten abliest, wirkt sie auf einige wie eine Moderatorin im Frühstücksfernsehen.
Sie sind ins Amt gekommen, weil die Jusos für sie Wahlkampf gemacht haben, sie sind keine Kandidaten des Establishments. Walter-Borjans versprach, er wolle den Bus rausfahren aus der „neoliberalen Pampa“. Es gibt nun so viele junge Genossen auf den Bundestagswahllisten wie selten, allerdings fehlen einigen mehr Sozialdemokraten, die schon Lebenserfahrungen aus der Arbeitswelt mitbringen. Der Moralphilosoph Michael Sandel vergleicht in seinem Buch "Vom Ende des Gemeinwohls" das Dilemma der SPD mit anderen Mitte-Links-Parteien, ihnen stünden oft das städtische Akademikermilieu heute näher, als das der Arbeiter. Zu selten würde der stark verringerte wirtschaftliche und kulturelle Status vieler arbeitender Menschen berücksichtigt. Scholz hat das Buch gelesen und will das Thema „Respekt“ in den Fokus rücken. Zentral wird sein, dieses in Zeiten, wo Generationen heranwachsen, denen es schlechter als ihren Eltern gehen könnte, glaubwürdig mit Leben zu füllen.
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Auch Vize-SPD-Chefin Geywitz fällt kaum auf
Früher gab es dafür ein starkes Team, auch wenn selten das Zusammenspiel zwischen Führung und Kanzlerkandidat im Wahlkampf gut klappte. Stellvertretende SPD-Chefin ist Klara Geywitz, die 2019 mit Scholz im Rennen um den Vorsitz angetreten war. Auch sie vermag es bisher kaum, Themen zu setzen, da ist bei Grünen und CDU/CSU das Wahrnehmungsspektrum größer. Die letzte Nachricht, die im direkten Kontext mit Geywitz über die Nachrichtenagenturen lief, war eine im August 2020 im dpa-Landesdienst Brandenburg: „Ex-SPD-Abgeordnete Geywitz arbeitet beim Landesrechnungshof.“ Eine Anfrage an die SPD-Pressestelle, welche Schwerpunkte Geywitz im Wahljahr setzen wolle, bleibt unbeantwortet.
Einer der Esken und Walter-Borjans die Stimme gegeben hat, ist Helmut Schmidt, Namensvetter des früheren Kanzlers. Schmidt ist seit über 50 Jahren in der Partei und war mal Oberbürgermeister von Brandenburg. „Meine Hoffnungen, die ich mit der Wahl des Duos im Vorsitz verbinde, können noch nicht erfüllt sein“, sagt Schmidt. „Schon vor ihrer Wahl habe ich auf den langen Weg verwiesen, den die SPD nach Jahren des Niedergangs vor sich hat." Dazu müsse zu allererst das Parteileben, aus dem sich sehr viele Mitglieder zurückgezogen haben, wieder von der Basis her gestaltet werden. Aber die ersten Schritte seien gemacht, die Pandemie habe dazu beigetragen, dass digitale Angebote zur Mitwirkung geschaffen wurden. Noch wichtiger sei, die weiter aufgehende Schere wahrzunehmen und wieder mehr dort zu sein, wo die Folgen am deutlichsten sind.
Die FDP macht der SPD Platz 3 streitig
Sie gewannen auch, weil sie eigentlich einen Bruch mit der großen Koalition wollten, das war aber schnell kein Thema mehr. Sie haben die Partei nach links gerückt, besonders Esken legt viel Wert auf Identitätspolitik. Am Montag hisste sie mit Walter-Borjans und anderen SPD-Politikern feierlich die Regenbogenfahne zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Gemeinsam wird das Zukunftsprogramm gelobt, das Überwinden von Hartz-IV, aber die Bürger honorieren das bisher kaum.
Immer wieder wird in Gesprächen positiv betont, dass beide Vorsitzende sich hier beim 66-seitigen Wahlprogramm, dem sogenannten Zukunftsprogramm stark eingebracht haben. Aber jetzt ist halt die „Verkaufszeit“, damit es jenseits der eigenen Parteiblase auch die Pandemiegestressten Bürger da draußen wahrnehmen.
In Umfragen macht die FDP bereits der stolzen SPD Platz drei streitig.
Sicher zu Zeiten eines Sigmar Gabriel gab es zu viel Streit und Kakophonie Er hatte immer eine Idee, trieb die Leute damit aber auch zum Wahnsinn. Doch er schaffte es damit in die Nachrichten, hielt die SPD im Gespräch. Und das Sozialstaatskonzept zur Überwindung des Hartz-IV-Traumas wurde unter SPD-Chefin Andrea Nahles erarbeitet. Fragt man nach angestoßenen Debatten der beiden Vorsitzenden, kommt oft Schweigen. Und manche Entscheidungen, wie bei der Blockade der Beschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr gibt es bis in die eigenen Reihen Kritik.
Scholz hat sich insbesondere mit Esken arrangiert, Walter-Borjans wirkt mitunter fahrig und aus Sicht vieler Genossen überfordert. Er war zuvor quasi schon Polit-Rentner.
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Helmut Schmidt: SPD hat sich von Problemen der Menschen entfernt
Aus Sicht von Helmut Schmidt ist die Wahl eben ein Ergebnis der vielen Enttäuschungen davor. „Die SPD hat sich erst personell und dann inhaltlich von den Problemen entfernt, die viele Menschen mit der new economy haben: Stress, geringes Einkommen, Unsicherheit am Arbeitsplatz, explodierende Wohnkosten“, sagt er. Staatliche Infrastruktur sei in private Hand gelegt worden, auf Gewinn orientiert statt an den Bedürfnissen der Menschen. „Die Pandemie hat noch viel mehr davon offengelegt, auch die Frage der Altersvorsorge“, sagt Schmidt. „Jetzt müssen die SPD-Busse bundesweit aus der Pampa gelenkt werden.“
Doch mit wem am Steuer? Geht die Wahl schlecht aus am 26. September, dürfte es mit der Harmonie schnell vorbei sein, Ende des Jahres läuft die erste zweijährige Amtszeit von Esken und Walter-Borjans regulär ab. Intern wird schon auf den Niedergang der französischen Sozialisten verwiesen, die ihre Parteizentrale verkaufen mussten. Als der Aufzug im Willy-Brandt-Haus nach Verlassen des Helmut-Schmidt-Saals die sechs Stockwerke wieder herunterfährt, ist es ganz still und leer.
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