Der Fall Boris Johnson: Vom britischen Parlament lernen, wie man mit Populisten umgeht
Großbritannien zeigt, dass Demokratien mehr sind als ihre Verfassungen. Was das für den Umgang mit Populisten heißen könnte. Ein Essay.
Boris Johnsons Entscheidung, das britische Parlament in eine fünfwöchige Pause zu schicken, ist legal. Das hat am Freitag nach einem schottischen Gericht nun auch der High Court in London entschieden. Der Anwalt der Klägerin Gina Miller, eine britische Geschäftsfrau und Aktivistin, hatte argumentiert, der Schachzug Boris Johnsons stelle einen „unrechtmäßigen Machtmissbrauch“ dar.
Das Gericht sah das anders. Die Klägerin will nun das Verfassungsgericht anrufen. Das britische Parlament hatte da schon längst entschieden, den Angriff nicht hinzunehmen. Zuerst hatte am Dienstag der Tory-Abgeordnete Phillip Lee seine Fraktion verlassen – was Johnson seine Mehrheit kostete. Weitere Tory-Rebellen lehnten sich im Laufe der Woche gegen Johnsons Kurs auf – insgesamt 21 bezahlten die Rebellion mit dem Ausschluss aus ihrer Partei.
Wie gut sind Europas Demokratien gegen Populisten gewappnet und mit welchen Mitteln lassen sie sich stoppen? Die Ereignisse in Großbritannien zeigen erneut, dass Gesetze, Verfassungen und institutionelle Regeln den Wesenskern der liberalen Demokratie nur bedingt schützen können.
Mindestens ebenso wichtig ist die politische Kultur, sind Politikerinnen und Politiker, Aktivisten und Bürger, die das Gerüst institutioneller Regeln mit Leben füllen, die ihre Essenz verstehen und verteidigen – in Großbritannien, aber auch in Deutschland, Italien und den USA. Wo Populisten erstarken oder an der Macht sind, drohen das Legale und das Wesentliche auseinanderzufallen.
Was Boris Johnson in dieser Woche gemacht hat, könnte man als Fall von „constitutional hardball“ betrachten – als das Ausnutzen geschriebener Regeln zur Erlangung politischer Ziele, das allerdings ungeschriebenen Regeln oder auch dem „Wesen“ einer Demokratie zuwiderläuft.
Boris Johnson spielt „constituional hardball“. Darf man darauf mit harten Bandagen antworten?
Darauf haben Max Fisher und Amanda Taub in dieser Woche in der „New York Times“ hingewiesen und den Fall Johnson mit einem US-amerikanischen Fall verglichen: Der republikanische Mehrheitsführer im US-Senat, Mitch McConnell, hatte während der Präsidentschaft von Barack Obama die Nominierung eines liberalen Richters für den Supreme Court gezielt im Kongress verschleppt – so dass es dann Donald Trump war, der dann gleich zwei Richter bestimmen konnte und für eine konservative Mehrheit im höchsten US-Gericht sorgte. Politikwissenschaftler wie der Amerikaner Daniel Ziblatt (zurzeit zu Gast an der American Academy in Berlin) argumentieren, dass diese Art des legalen Spiels mit harten Bandagen Demokratien aushöhlen und bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen könne.
Aber auch auf weichere Art und Weise unterlaufen und beschädigen Populisten – im Rahmen des Legalen – das Wesen von Demokratien und ihre politischen Tabus. Donald Trump etwa hat mehrfach verweigert, sich klar gegen Rassismus zu positionieren. Als in Charlottesville 2017 Rassisten demonstrierten und eine Gegendemonstrantin gezielt überfahren wurde, sagte er, es gäbe „auf beiden Seiten gute Leute“.
Zuletzt stellte er selbst die Gleichwertigkeit und Zugehörigkeit aller Amerikaner zur Nation in Frage, als er die vier Kongressabgeordneten Ayanna Pressley, Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar und Rashida Tlaib aufforderte, „dahin zurückzugehen, wo sie hergekommen sind“. Er versucht praktisch täglich, das Vertrauen in die Medien zu untergraben und durch Lügen der politischen Debatte die faktische Grundlage zu entziehen.
Auch die AfD legt die Axt an politische Tabus, die zur politischen Kultur in Deutschland gehören, nicht zuletzt an die deutsche Erinnerungskultur. Zwar sind schon eine ganze Reihe von AfD-Politikern wegen Volksverhetzung verurteilt worden – in vielen Fällen aber gehen menschenverachtende Äußerungen wie die des brandenburgischen AfD-Spitzenkandidaten Andreas Kalbitz, der von den „Kopftuchgeschwadern“ sprach, bislang als von der Meinungsfreiheit gedeckt durch. Ebenso wie der „constitutional hardball“ bewegt sich vieles, was Populisten tun, im Rahmen des Rechts, wenn auch außerhalb des Rahmens der politischen Kultur.
Warum es in Ordnung ist, die AfD von Koalitionen auszuschließen
Dem zu begegnen, ist nicht leicht. In Großbritannien haben sich nun britische Abgeordnete mit ihren Karrieren zwischen Boris Johnson und die Kultur des Parlamentarismus geworfen – ob das auf Dauer Wirkung zeigt, ist offen. In den USA hingegen versagt ein großer Teil der politischen Klasse dabei, die politische Kultur des Landes zu verteidigen.
In der republikanischen Partei haben sich bislang nur sehr wenige gefunden, die dem Präsidenten offen entgegentreten. Die innerparteiliche Opposition im Kongress blieb auf wenige, meist außenpolitische Themen beschränkt – etwa die Russlandsanktionen. Gegen die rassistischen Ausfälle des Präsidenten erhoben sich kaum Stimmen.
Die Gegenstrategien bergen ihre eigene Problematik. Einerseits ist die Versuchung groß, auf die Herausforderung des Populismus ebenfalls mit „constitutional hardball“ zu reagieren, also ebenfalls innerhalb des institutionell und rechtlich Möglichen mit möglichst harten Bandagen zu spielen. Man könnte argumentieren, dass auch die AfD-Quarantäne-Strategie der deutschen Parteien darunter fällt, etwa die Nicht-Wahl eines Bundestagsvizepräsidenten der AfD oder auch die Weigerung, mit der zweitstärksten Partei bei den Sachsen- und Brandenburg-Wahlen auch nur Sondierungsgespräche zu führen.
Auch die Argumentation mit einer Art „Wesenskern“ der Demokratie, einer politischen Kultur, die sozusagen außerhalb oder sogar über dem Recht und den politischen Institutionen steht, ist problematisch, denn damit begibt man sich in den Argumentationsraum der Populisten.
Auch sie argumentieren ja mit einem extra-institutionellen Element von Demokratie, dem vermeintlich wahren Volkswillen (auf den sich auch Johnson immer wieder beruft). Sie behaupten, dieser könne sich (wegen verkrusteter Eliten, einseitiger medialer Berichterstattung, Verschwörung etc.) über die bestehenden rechtlichen und institutionellen Wege keine Geltung verschaffen. Die Folge ist eine Delegitimierung der Institutionen.
Im Zeitalter des Populismus ist eine legalistische Sichtweise auf Demokratie verheerend
Dennoch wäre eine rein legalistische Betrachtung von „Demokratie“ im Zeitalter des Populismus verheerend. Sich allein darauf zu verlassen, die Väter und Mütter der Verfassungen hätten schon genügend Sicherheitsnetze eingebaut, ist gefährlich (und gerade in Deutschland, das zu Recht stolz ist auf seine wehrhafte Verfassung, dennoch sehr verbreitet).
Zwischen der Annahme eines „Wesenskerns“ der Demokratie auf der einen Seite und dem Respekt vor ihren Institutionen, dem formalen Recht, auf der anderen Seite besteht am Ende aber auch kein unauflösbarer Widerspruch. „Reverse constitutional hardball“ oder die Berufung auf politische Tabus ist solange legitim, wie sich die politische Kultur, auf die man sich beruft, aus den Gesetzen, der Verfassung und den Grundwerten ableiten lässt oder diese akut gefährdet sind.
Im Falle Großbritanniens ist das das Primat der parlamentarischen Mitbestimmung (das in anderen Fällen vom Obersten Gericht auch schon verteidigt wurde – etwa 2017, ebenfalls auf Klage von Gina Miller, die erreichen konnte, dass die damalige Premierministerin Theresa May das Parlament befragen musste, bevor sie den Austrittsartikel 50 der Europäischen Verträge aufrufen konnte). Im Falle der deutschen AfD ist es der Grundsatz der Menschenwürde. Im Falle Donald Trumps wäre es der Gleichheitsgrundsatz (so denn irgendjemand in seiner Partei das Rückgrat hätte, diesen Grundsatz zu verteidigen).
Jede Demokratie ist mehr als die Buchstaben ihrer Verfassung und Gesetze, auch, wenn sich dieses Mehr aus ihrer Verfassung und ihren Gesetzen ableiten muss. Begegnet werden muss Angriffen auf diese Kultur mit den Mitteln des Rechts, aber auch mit den Mitteln der politischen Kultur. Verteidigt werden muss die politische Kultur einer Demokratie am Ende von Einzelnen, die Gewissen und Verantwortung über ihre persönlichen Karrieren stellen.
Anna Sauerbrey