Ringen um den Brexit: Lasst Johnson wie den Gewinner aussehen
Die Verhandlungsführer der EU müssen im Brexit-Streit ihren persönlichen Stolz hintan stellen. Das Wohl der Bürger sollte Vorrang haben. Ein Gastbeitrag.
Der Wirtschaftswissenschaftler Dennis Snower ist Gründer und Präsident der Global Solutions Initiative. Zuvor leitete er das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Übersetzung: Tilman Schröter.
In den Brexit-Verhandlungen sind sowohl die EU als auch Großbritannien zu Gefangenen ihrer roten Linien geworden. Es gibt keinen Spielraum mehr für eine Strategie, die wirklich im Interesse der Bürger ist. Stattdessen folgen die Verhandlungspartner wie Schlafwandler ihren jeweiligen Drehbüchern und stolpern so scheinbar unausweichlich auf ein dramatisches und böses Ende zu: Den No-Deal-Brexit.
Boris Johnson will, dass die EU auf den Backstop verzichtet – also auf jene Regelung im bereits ausgehandelten Austrittsvertrag, die verhindern soll, dass zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zu Großbritannien gehörigen Nordirland eine harte Grenze entsteht. Im Falle des Backstop würden Nordirland und Großbritannien in einer engen Partnerschaft mit der EU verbleiben, sollte es am Ende der zweijährigen Übergangsfrist keine endgültige Regelung für das Problem geben. Die EU-Verhandler bestehen darauf, dass diese Regelung bestehen bleibt. Diese Hängepartie kann auch in den derzeitigen innenpolitischen Kämpfen in Großbritannien nicht gelöst werden.
Es gibt aber einen Weg, den alle Parteien bisher übersehen haben, da sie mehr um ihren eigenen Ruf besorgt sind als um das Wohl ihrer Bürger. Diese Lösung widerstrebt der DNA der derzeitigen Politik zutiefst, einer Politik, die vom Sieg der einen Seite über die andere getrieben ist: Die EU könnte den Backstop aus dem Austrittsabkommen einfach auskoppeln und die Lösung des Nordirland-Problems vertagen.
Sollten die Schlafwandler an ihrem Skript festhalten, scheinen alle plausiblen Szenarien in einen No-Deal-Brexit zu münden. Die EU besteht darauf, dass es eine Grenze zwischen dem europäischen Binnenmarkt und Großbritannien geben muss – am besten zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens. Boris Johnsons Regierung hat das entschieden zurückgewiesen. Sollte keine Seite in den Brexit-Verhandlungen nachgeben, wird das Resultat ein No-Deal-Brexit sein.
No-Deal-Brexit schadet beiden Seiten
Auch nach den turbulenten Ereignisse der vergangenen Tage ist es noch denkbar, dass es vor dem 31. Oktober Neuwahlen in Großbritannien geben wird, vor jenem Datum also, an dem der No-Deal-Brexit stattfinden würde. Am Montag will das britische Parlament zum zweiten Mal in wenigen Tagen über Neuwahlen abstimmen. Diese Parlamentswahl – so ihr die Labour-Partei denn zustimmt – würde Boris Johnson höchstwahrscheinlich gewinnen. Die Labour-Partei (unter dem extrem unbeliebten Jeremy Corbyn) und die Liberaldemokraten (die noch nie eine führende Kraft in Britanniens Politik waren) haben keine Mehrheit. Es gibt viele sowohl in Festlandeuropa als auch in Großbritannien, die auf eine Regierung der nationalen Einheit hoffen, in der Labour und die Liberaldemokraten die Macht teilen. Aber das ist müßige Träumerei.
Die Liberaldemokraten unter der Führung von Jo Swinson, haben klar gemacht, dass sie keine Übergangsregierung unter Corbyn unterstützen würden. Corbyn wiederum würde keiner Regierung beitreten, die von jemand anderem als ihm selbst geführt wird. Boris Johnson würde die Wahl gewinnen. Die Stärke der Brexiteers ist ungebrochen, die Liberalen sind schwach, Corbyns Ansichten sind zu links für die meisten Briten und sein designierter Schatzkanzler, John McDonnell, ist ein Marxist. Wenn Boris Johnson aber gewinnt, bekommen wir einen No-Deal-Brexit.
Ein Brexit würde den Volkswirtschaften Großbritanniens und der EU massiven Schaden zufügen, der ersteren wohl ungleich mehr. Man sollte sich also folgende wichtige Frage stellen: Nur einmal angenommen, eine oder beide Seiten in den Brexit-Verhandlungen würden aus ihrer Schlafwandelei erwachen und sich plötzlich wirklich Gedanken darüber machen, was im Interesse der europäischen und britischen Bürger ist, unabhängig von nationalem Stolz und persönlichen Eitelkeiten: Was wäre das erste, das die Verhandler tun müssten? Die Antwort ist offensichtlich: Sie muss die Nordirland-Lösung vertagen.
Das Nordirland-Problem wird erst dann kritisch, wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt. Das aber passiert erst zwei Jahre nachdem das Austrittsabkommen unterzeichnet ist. In diesen zwei Jahren Übergangszeit bleibt das Vereinigte Königreich Teil der Zollunion. Man könnte also die Backstop-Regelung vom Austrittsvertrag abkoppeln und später darüber beraten.
Sollte das Vereinigte Königreich das Nordirland-Problem nach dem Ende der zweijährigen Übergangszeit nicht gelöst haben, wäre ein No-Deal-Brexit unvermeidlich. Beide Parteien hätten aber zwei Jahre mehr Zeit, genau das zu vermeiden. Innerhalb dieser nächsten zwei Jahre wird das Vereinigte Königreich eine Wahl abhalten und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die nordirische DUP danach die britische Regierung weiterhin im Schwitzkasten haben wird. Scheidet die DUP aus der Regierung aus, würde das eine Lösung des Nordirland-Problems deutlich vereinfachen.
Zum einen würde der No-Deal bei Snowers Vorschlag nur um zwei Jahre aufgeschoben, mit den gleichen negativen Folgen, und zum anderen könnten aber gerade die kleineren EU-Mitgliedsländer das Vertrauen in die Solidarität der EU verlieren. Das hat sehr wohl praktische Relevanz.
schreibt NutzerIn derverwalter
Vertagen des Nordirland-Problems
Ein Vertagen des Nordirland-Problems würde der EU einen Vorteil und einen Nachteil bescheren. Der Vorteil: Die akute Gefahr für den EU-Haushalt wäre gebannt. Boris Johnson hat damit gedroht, die Gelder nicht zu zahlen, die Großbritannien der EU unter anderem für Pensionszahlungen an britische EU-Beamte schuldet. Würde der Backstop vertagt, würde das Vereinigte Königreich zahlen, was es der EU laut Austrittsvertrag zugesichert hat. Im Falle eines No-Deal-Brexit, würde das Vereinigte Königreich sich nicht an dieses Versprechen gebunden fühlen.
Der Nachteil ist, dass die EU ihre Verhandlungsposition in den Austrittsverhandlungen schwächen würde. Das Vereinigte Königreich könnte nun die Zahlungen als Druckmittel einsetzen. Dieser Nachteil ist allerdings geringfügig, da das Vereinigte Königreich weniger wichtig für EU-Wirtschaft ist als umgekehrt. Aus EU-Perspektive wäre ein No-Deal-Brexit viel gravierender. Genau darauf aber steuern wir derzeit zu.
Kurz gesagt: Könnten die Verhandlungsführer ihren persönlichen Stolz hintanstellen und sich allein an den Interessen ihrer Bürger orientieren, müssten sie den Backstop auskoppeln und vertagen. Großbritannien müsste das Austrittsabkommen unterzeichnen und beide Seiten hätten dann zwei Jahre Zeit, um über die irische Grenze nachzudenken, hoffentlich unter einer neuen britischen Regierung. Ja, es ist richtig: Es würde richtig schlecht aussehen für die EU, sollte sie das Nordirland-Problem vertagen und den Backstop vorerst auskoppeln.
Es würde aussehen, als hätte Boris Johnson gewonnen. Er hat schon verkündet, dass die EU einknicken würde, vorausgesetzt die britische Regierung zeige sich entschlossen, mit einem No-Deal auszutreten. Seinen Forderungen nachzugeben, würde bedeuten, den verantwortungslosesten Politiker des Vereinigten Königreichs zu belohnen, einen Mann, der mit unverschämten Lügen Stimmung für den Brexit machte, auf Kosten der EU. Es würde aussehen, als hätte die EU Irland im Stich gelassen – obwohl dieser Eindruck falsch wäre – und das würde Unbehagen in der sowieso schon angespannten Peripherie der EU auslösen. Außerdem würde es so aussehen, als ob die EU ihre Glaubhaftigkeit beschädigt hätte, da die EU-Verhandler immer darauf bestanden haben, dass das Nordirland-Problem sofort, mit dem Austrittsabkommen, gelöst werden muss.
All das aber hat zunächst keine praktische Relevanz, sondern fügt lediglich dem Stolz und der Ehre der Verhandelnden Schaden zu. Am Ende sollte aber das Wohl der Bürger Vorrang haben und alles getan werden, um einen No-Deal-Brexit abzuwenden. Es bräuchte jetzt große Politiker: Politiker, die zuerst an ihre Bürger denken und dann ans Gewinnen.