Magna Carta: Fundament aller Bürgerrechte und Verfassungen
In Großbritannien wird die Magna Carta in ihrem Jubliäumsjahr groß gefeiert. 1215 trotzten Englands Ritter sie dem König ab und beendeten Willkür. Eine Reise zu den Schauplätzen.
Noch sind es nur ein paar weiße Linien, in die feuchte Wiese gekalkt, die auf das Ereignis nächste Woche hinweisen. Dann wird hier am Ufer der Themse – von deren Existenz man freilich nur etwas erahnt, wenn zwischen den Bäumen am Ufer die Silhouetten vorbeifahrender Boote auftauchen – Queen Elizabeth II. erwartet. Sie hat es nicht weit. Die Wiese ist kaum acht Kilometer von ihrem Wochenendwohnsitz Windsor Castle entfernt.
Der 15. Juni 2015 markiert hier den vorläufigen Höhepunkt der Feierlichkeiten, die seit Beginn des Jahres das britische Inselreich erfasst haben. An diesem Ort setzte nämlich King John, ein früher Vorgänger von Queen Elizabeth, vor exakt 800 Jahren sein Siegel unter die Magna Carta. Aus Sicht des Monarchen eine Niederlage, seine Herrschaft war fortan nicht mehr nur Gottes Gnaden, sondern einklagbaren Rechten unterworfen.
Natürlich wird das Ereignis im Fernsehen übertragen, kaum einem Briten dürfte danach noch jener Patzer unterlaufen, den der britische Premier David Cameron 2012 in einer Fernsehshow bei David Letterman hinnehmen musste. Ihm fiel auf Anhieb weder der Name der Wiese noch die wörtliche Übersetzung von Magna Carta ein: Der Platz heißt Runnymede, Magna Carta steht für große Urkunde.
Der Lapsus war umso ärgerlicher, als die Magna Carta nicht nur in der englischsprachigen Welt als die Mutter aller Verfassungen gilt. Die derzeitige große Ausstellung in Londons British Library dokumentiert das große Interesse des Publikums. Zur Eröffnung im Februar waren für einen Tag alle erhaltenen vier Urschriften der Carta – ursprünglich soll es mindestens 13 Kopien gegeben haben – nebeneinander zu sehen, zwei aus dem Besitz der British Library, eine aus Lincoln und eine aus Salisbury. Mehr als 40 000 bewarben sich um eine von nur 1215 Eintrittskarten, die dann verlost wurden. Und noch eine Zahl, die den nicht nur ideellen Wert der Urkunde belegt: Vor acht Jahren war eine Kopie aus dem Jahre 1297 auf dem Markt. Sie wurde in New York für 21 Millionen Dollar versteigert, der höchste Preis, den je ein Dokument in einer Auktion erzielte.
Am 10. Juni des Jahres 1215, einem Mittwoch, trafen zwei Delegationen in Runnymede aufeinander. Von Windsor aus, damals noch eine Holzfestung, um ein paar Steinhäuser ergänzt, kam King John mit vergleichsweise kleinem Gefolge. Von der anderen Seite, aus Richtung London, rückten die Vertreter des britischen Adels an.
Man misstraute einander. Die Adeligen erschienen schwer bewaffnet, jeder von einer kleinen Armee begleitet. Das Terrain schirmte nach der einen Seite die Themse ab, die hier freilich kaum mehr als 30 Meter breit ist, nach der anderen ein aufsteigender Hügelkamm. Die einzige Straße ist die von Windsor in Richtung London. So ist es bis heute, neu ist der Lärm vom nahen Flughafen Heathrow.
Kein Zufall, dass John nicht John I. ist. Es gab nie einen weiteren englischen König dieses Namens. King John ist der englische König mit dem schlechtesten Ruf überhaupt. Theatergänger kennen ihn vielleicht als Hauptfigur im Drama „König Johann“, eine Art „Game of Thrones“ von William Shakespeare, gesättigt mit Mord und Intrige. Kinozuschauer haben möglicherweise Ridley Scotts „Robin Hood“ gesehen, dort ist John der schwache Nachfolger von Richard Löwenherz.
King John ließ seine Gegner verhungern
Frage an Julian Harrison, Kurator der Magna-Carta-Ausstellung in London: Gibt es denn gar nichts Gutes über John zu sagen? Harrison lacht.
Mehrere Historiker hätten es versucht, ohne zu überzeugen. Schon zu Lebzeiten wurden John die Beinamen „Lackland“ und „Softsword verpasst. Lackland steht für Ohneland. John musste sich als viertgeborener Sohn des alten Königs zunächst mit wenig Grundbesitz bescheiden. Später wurde der Name so interpretiert, dass John ihn sich verdiente, weil er fast alle Ländereien in der französischen Heimat seines normannischen Geschlechts der Plantagenets in verkorksten Kriegszügen verlor. Wofür er als „Softsword“, also Weichschwert, verspottet wurde. Während sein älterer Bruder und Vorgänger den Namen Löwenherz bekam.
John intrigierte gegen diesen Bruder nach Kräften, vor allem, als der auf Kreuzzug nach Palästina ging. Dafür wurde John vom Papst exkommuniziert, denn Kreuzritter galten als unantastbar. Richard aber sagte nach seiner Rückkehr, der kleine Bruder, inzwischen 27, sei doch noch ein Kind, verzieh ihm und zog ins nächste Abenteuer. Sein letztes, bei der Belagerung einer französischen Burg traf ihn ein Armbrustbolzen tödlich.
Jetzt legte John erst richtig los. Gegner ließ er in den Kerkern seiner Burgen verhungern. Der Neffe, Arthur von der Bretagne, eigentlich als neuer König vorgesehen, starb angeblich auf der Flucht vor John beim Sturz von einer Burgmauer. Wahrscheinlich wurde er ermordet, und zwar von Johns eigener Hand, wie die Chronisten nahelegen. Sie beschreiben ihn als arrogant, krankhaft misstrauisch, unberechenbar. Am liebsten umgab sich John mit mittellosen Rittern, die jeden seiner Scherze beklatschten. Die Gesellschaft von Rittern wie William Marschall, in Liedern als Star aller Turniere besungen, oder William „Langschwert“ Longspee, Johns Halbbruder, hasste er.
John vergriff sich an Longspees Gemahlin, Ela, Gräfin von Salisbury, während der Ritter sich wegen seiner im Kampf erlittenen Verletzungen zur Kur begeben hatte. Danach durfte John auch den Halbbruder zu seinen Gegnern zählen. Hugh, Bischof von Lincoln, unterbrach er während der Ostermesse, der möge sich beeilen, man wolle endlich essen. Die Ehefrau verjagte er, um Isabella von Angoulême, eine Zwölfjährige mit deutlich höherer Mitgift, zu heiraten, obwohl die schon einem anderen versprochen war.
Von der dann bereits 20-Jährigen ist ein äußerst sarkastischer Dialog durch einen zeitgenössischen Hofschreiber namens Anonymous von Bethune überliefert. John: „My Lady, macht Euch keine Sorgen, ich kenne eine Ecke, da wird Euch der König von Frankreich trotz all seiner Macht nie finden.“ Isabella: „My Lord, ich bin sicher, Ihr seid ein König, der ganz groß darin ist, sich in solchen Ecken auszukennen.“ Bethune tat gut daran, anonym zu bleiben.
John geriet schwer in Bedrängnis. Den Papst besänftigte er, indem er ihn als seinen Oberhirten und Lehnsherrn anerkannte. Die Loyalität seiner Ritter versuchte er zu sichern, indem er deren Angehörige als Geiseln nahm. Und um in Frankreich mit neuen Feldzügen zu retten, was nicht mehr zu retten war, erließ er neue Steuern.
Der Adel war es dann, der ihn stoppte, eigene Forderungen artikulierte, vorgetragen durch 25 der Ihren. Die Liste der 25 Barone wurde zum Gegenstand der Verhandlungen in Runnymede. Nach knapp einer Woche einigte man sich auf 63 Artikel. Die ganze Urkunde ist nicht größer als ein Computerbildschirm.
Manche Artikel muten inzwischen äußerst seltsam an, etwa der, wonach die Aussage einer Frau in Mordprozessen ohne Belang ist, es sei denn, es handelt sich um den Mord am Ehemann. In ziemlich vielen Artikeln geht es ums Geld, von wem in welcher Höhe Steuern einzutreiben zulässig ist, wer darüber bestimmen soll und welche Abgaben zu unterbleiben haben. Witwen dürften nicht mehr zur Hochzeit gezwungen, Söhnen das Erbe nicht vorenthalten werden. Natürlich stehen die Privilegien des Adels im Zentrum. Doch es gibt vier Artikel, die heute noch, 800 Jahre nach ihrer Besiegelung, Bestand haben.
Der erste garantiert der englischen Kirche, in ihren Rechten und Freiheiten unverletzlich zu bleiben. Artikel 13 versichert der City of London ihre besonderen Rechte zu Lande und zu Wasser.
Als Sprengstoff sollten sich zwei weitere Paragrafen erweisen, die ebenfalls bis heute gelten. 39: „Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden, noch werden wir ihm anders etwas zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen lassen als durch das gesetzliche Urteil durch seinesgleichen oder durch Landesgesetz begründet.“ Das Prinzip der Geschworenenprozesse in der englischsprachigen Welt ging aus diesem Artikel hervor. Er sollte einen fairen Prozess garantieren, polizeiliche Willkür ausschließen. Im folgenden Artikel 40 wurde festgelegt, dass Recht weder käuflich noch verkäuflich sei, nicht verweigert und nicht verzögert werden dürfe.
Sechs Wochen nach Runnymede machte King John beim Papst geltend, zur Besiegelung – unterschrieben hat er nie – gezwungen worden zu sein, und forderte seinen Oberhirten auf, das Dokument zu annullieren. Papst Innozenz III. tat ihm den Gefallen, was einen Bürgerkrieg nach sich zog, den John nicht überlebte. Starke Indizien sprechen dafür, dass es ein Mönch war, der ihn nur ein Jahr nach Runnymede vergiftete.
Seine Frau Isabella zog zurück nach Frankreich, ihren Gatten erwähnte sie in den von ihr überlieferten Dokumenten nie mehr. Johns Halbbruder, William Longspee, starb ebenfalls bald, möglicherweise auch an Gift. Seiner Gattin, Ela von Salisbury, wurde aufgetragen, erneut zu heiraten. Sie lehnte ab, mit Verweis auf die Magna Carta. Trotzdem war es wohl nur ein Zufall, dass die heute prächtig erhaltene, gotische Kathedrale von Salisbury, mit deren Bau 1220 begonnen wurde, gewissermaßen um eines der vier ältesten erhaltenen Exemplare der Magna Carta herum errichtet wurde.
Der Schlachtruf: Keine Steuer ohne Regierungsbeteiligung
Wenigstens für die Gräfin entfaltete die Magna Carta damit schon früh ihre Wirkung. Ansonsten hielt das Gerangel um die Urkunde an. Zwar setzte Johns Nachfolger sie wieder in Kraft, doch Artikel entfielen, andere wurden hinzugefügt, immer neue Kopien zirkulierten. Aber einmal in der Welt, war die Carta nicht totzukriegen, und 400 Jahre nach dem Tag von Runnymede entfaltete sie neue Wirkungsmacht.
Im 17. Jahrhundert waren es Englands katholische Könige aus dem schottischen Haus der Stuarts, die im Streit mit dem inzwischen gestärkten Parlament versuchten, ihre Macht zur absoluten Herrschaft auszudehnen. Doch die mittlerweile 400 Jahre alte Idee einer Carta, die Freiheitsrechte gegen den Herrschaftsanspruch des Königs garantierte, hatte einen Symbolwert erlangt, der nun zur Waffe wurde.
Diesmal waren es Juristen, die den Widerstand gegen den König anführten. Der Vorwurf lautete, der König habe sich nicht an die Magna Carta gehalten. Die Forderungen: Es dürfe keine willkürlichen Festnahmen geben, keine Verletzungen des Eigentumsrechts, keine Steuern ohne Anhörung des Parlaments. Sie wurden in der Petition of Rights verankert. König Karl I. unterschrieb, widerrief aber wie sein Ahne King John. Im folgenden Bürgerkrieg verlor er nach einem Hochverratsprozess den Kopf unter dem Beil des Henkers.
Inzwischen strahlte die Magna Carta über das Mutterland hinaus. Die ersten englischen Siedler nahmen den Grundsatz, dass niemand über dem Gesetz steht, 1607 mit nach Jamestown, ihrer Siedlung im neu gegründeten Virginia. Die Kolonien in Maryland, Connecticut, Massachusetts, Rhode Island, den beiden Carolinas und Pennsylvania taten es ihnen gleich. Der Satz „No taxation without representation“, keine Steuer ohne Regierungsbeteiligung, geriet zum Schlachtruf, der direkt in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führte. Und auch die Verfassung der neu gegründeten Vereinigten Staaten berief sich auf die Magna Carta. Bis heute schmückt diese die bronzene Tür zum US-Supreme-Court.
Lord Bingham, der 2010 verstorbene oberste Richter für England und Wales, sagte einmal: „Die Bedeutung der Magna Carta liegt nicht in dem, was sie eigentlich ausgesagt hat, sondern in dem, was spätere Generationen glaubten, was sie aussagen würde.“ Dieser symbolische Wert ist es, der die Urkunde von 1215 zu Englands zweitwichtigstem Exportartikel, gleich nach der Landessprache, machte, wie es am Ausgang der Londoner Ausstellung heißt. Über 100 Verfassungen in aller Welt verweisen mehr oder weniger direkt auf das Pergament der Barone.
Erstaunlich, wie geduldig sich in der Londoner Library die Menge an einem Freitagvormittag in einer langen Schlange an den Schaukästen vorbeischiebt. Das Publikum sieht unter anderem zwei Zähne King Johns und einen seiner Daumenknochen. Doch die meisten Ausstellungsstücke sind alte Texte – darunter Raritäten wie Thomas Jeffersons Kopie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Es heißt, die Briten selbst hätten keine geschriebene Verfassung. Tatsächlich speisen sich ihre Grundrechte nicht aus einer Quelle, wie in Deutschland aus dem Grundgesetz, sondern aus vielen Dokumenten, von denen die Magna Carta eben nur noch eines ist, wenn auch das älteste. Doch schwer vorstellbar, dass sich in Deutschland ein vergleichbar großes Publikum für die Entstehung des Grundgesetzes interessieren würde.
Die Londoner Ausstellung weist bis ins 20. Jahrhundert, etwa zu der britischen Idee von 1941, die Amerikaner zur Kriegserklärung gegen Hitler zu bewegen, indem man ihnen ein Original der von ihnen so hochgeschätzten Carta von 1215 schenkt. Schließlich müsse der Ernst der Lage ein Stück beschriebenes Schafsleder aufwiegen. Doch es setzte sich die Haltung durch, das Pergament sei unveräußerlich. Eleanor Roosevelt wird zitiert, die die Bedeutung der Magna Carta für die Erklärung der Menschenrechte 1948 hervorhob. Und Nelson Mandela, der – angeklagt vom südafrikanischen Apartheidsregime – 1964 in seinem Prozess auf die Magna Carta als bewundernswerten Rechtsgrundsatz verweist.
Im englischen Salisbury, wo man in der Kathedrale rund um das eigene Exemplar ebenfalls eine Ausstellung arrangiert hat, geht man noch ein bisschen weiter. Im Eingangsvideo wird auf die Frage verwiesen, ob die Magna Carta nicht auch für Guantanamo-Häftlinge gilt – vor allem natürlich Artikel 39 und 40. Und am Ausgang dürfen die Besucher Forderungen formulieren, die sich die Barone heute an ihre Banner heften sollten. Lebensrecht für Tiere steht auf den ausliegenden Karten ziemlich weit oben. Und: Vertreibt Sepp Blatter aus dem Amt. Das hat sich ja inzwischen erledigt.