Prozess wegen "Terrorpropaganda": Vertreter von Reporter ohne Grenzen in Istanbul freigesprochen
Weil er für eine Zeitung demonstrierte, war Erol Önderoglu angeklagt. Diesmal wurde er nicht verurteilt, doch ein weiterer Prozess steht bevor. Ein Porträt.
Seit mehr als 20 Jahren setzt sich Erol Önderoglu in der Türkei für die Pressefreiheit ein. Leicht war das nie. Er hat unzählige Strafprozesse gegen Journalisten-Kollegen begleitet, musste mit Drohanrufen leben und wurde auch vorübergehend festgenommen. Doch selbst die Zeiten, als die türkischen Militärs noch Druck auf die Presse ausübten, waren nicht so schlimm wie die Zustände von heute. Als Türkei-Repräsentant der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) stand Önderoglu nun erstmals selbst vor Gericht. Er musste mit einer Haftstrafe von bis zu siebeneinhalb Jahren rechnen, doch das Gericht sprach ihn am Mittwoch frei.
Die Anschuldigung gegen ihn: Zusammen mit der Menschenrechtlerin Sebnem Korur Financi und dem Intellektuellen Ahmet Nesin hat er im Jahr 2016 an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische – damals aber noch nicht verbotene – Tageszeitung „Özgür Gündem“ teilgenommen. Die Staatsanwaltschaft wertete das Engagement als Verbreitung von „Terrorpropaganda“. Mehrere weitere Aktivisten, die ebenfalls für „Özgür Gündem“ eintraten, sind bereits zu Haftstrafen verurteilt worden. Die Zeitung wurde kurz nach dem Putschversuch von 2016 zusammen mit mehr als 100 weiteren Medieneinrichtungen geschlossen.
155 Medienmitarbeiter sitzen in Haft
Önderoglu war ohne Illusionen, er rechnete mit einer Verurteilung und anschließendem Berufungsverfahren. Keine staatliche Institution sei in den vergangenen Jahren so beschädigt worden wie die Justiz, sagte der 50-jährige dem Tagesspiegel. Selbst in den 1990er Jahren seien Scherereien mit den Behörden „relativ milde im Vergleich mit dem feindseligen Klima heute“ abgelaufen.
Auf der ROG-Skala der Pressefreiheit rangiert die Türkei auf Platz 157 von 180 erfassten Ländern. Besonders seit dem Putschversuch gehen die Behörden rigoros gegen unliebsame Berichterstatter vor. Regierung und Justiz argumentieren, dass der Staat vor neuen Bedrohungen geschützt werden müsse. Laut einer Zählung der türkischen Journalisten-Gewerkschaft TGC sitzen derzeit 155 Medienmitarbeiter im Gefängnis.
Für Önderoglu könnte sich die Lage in absehbarer Zeit noch einmal zuspitzen. Im November beginnt ein weiterer Strafprozess, bei dem ihm ebenfalls Terror-Propaganda vorgeworfen wird. Önderoglus Bilanz ist bitter: Die Justiz im EU-Bewerberland Türkei sei zu einem „extrem repressiven Werkzeug geworden“.