Die Türkei und die EU: „Manche Dinge müssen sich in der Türkei ändern“
Die Mehrheit der Türken ist für einen EU-Beitritt. Aber mit den politischen Rückschritten im Land ist daran nicht zu denken.
Am 7. Mai 1995 wurden in der angesehenen Zeitung Hürriyet diese Worte der damaligen Ministerpräsidentin der Türkei, Tansu Çiller, veröffentlicht: „Die Türkei ist spätestens im Jahr 1998 Vollmitglied der EU“. Jedoch wurden die Vollmitgliedschaftsverhandlungen erst 2004 begonnen. Wenn die Ministerpräsidentin mit ihrer Voraussage Recht gehabt hätte, hätten die Türken jetzt bei der Europawahl wählen können. Aber in Wirklichkeit ist weder für die Türkei noch für die EU die Mitgliedschaft noch ein aktuelles Thema.
Kati Piri, die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, hat in ihrem Report im März 2019 vorgeschlagen, die Vollmitgliedschaftsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu stoppen. Hauptgrund seien Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Das Europäische Parlament hat dem Report zugestimmt, 370 Mitglieder des Parlamentes waren dafür, 109 dagegen. 143 enthielten sich. Nun liegt die Entscheidung beim Europäischen Rat: Die Verhandlungen können nur mit seiner Zustimmung gestoppt werden.
Was denken die Menschen in der Türkei?
Doch die Mitgliedschaftsverhandlungen sind sowieso schon zum Stillstand gekommen. Im Jahr 2011 wurde in der Türkei das EU-Ministerium gegründet, das nicht lange bestand. Nach dem Putschversuch wurde das EU-Ministerium während des Ausnahmezustandes per Dekret aufgehoben und dessen Befugnisse wurden dem Außenministerium übergeben.
Was denken Menschen, die aus der Türkei kommen, über die Mitgliedschaft in der EU?
Görkem Erdem ist 25 Jahre alt und studiert gerade an der Technischen Universität Berlin. Er sagt, der wichtigste Vorteil der EU sei die Freizügigkeit in den Europäischen Ländern. Er glaubt aber nicht, dass die Türkei in Kürze in die EU eintritt. “Die EU ist viel fortschrittlicher bei den Menschenrechten als die Türkei”, sagt Erdem, aber trotz seines Zweifels unterstütze er die Mitgliedschaft der Türkei. Nach seiner Ansicht ist die größte Einschränkung für die Türk*innen das Visum, das sie benötigen, um in die EU einzureisen.
"Früher oder später wird die Türkei ein Mitglied"
Es gibt auch Türk*innen, die schon EU-Bürger*innen sind und ein Wahlrecht für die EU-Wahl haben. Eine von ihnen ist Saniye Açıkel. Sie hat einen alevitisch-kurdischen Migrationshintergrund und ist mit ihrer Familie nach Deutschland eingewandert, als sie 15 Jahre alt war. Sie ist seit 1993 EU-Bürgerin und leitet ein Familienzentrum in Berlin.
Açıkel ist nicht pessimistisch über die Mitgliedschaft der Türkei. Sie glaubt, dass die Türkei irgendwann in die EU eintreten wird. Sie unterstütze diese Entwicklung und fügt hinzu: “Manche Dinge müssen sich in der Türkei ändern."
Açıkel ist sehr froh, dass es die EU gibt. „Dank der EU gibt es eine gemeinsame Kultur in Europa”, sagt Açıkel. „Zwar gibt es auch lokale Kulturen und sie bewahren ihre Existenz, aber ich denke wegen dieser europäischen Kultur sind die Menschen näher zusammengerückt.” Eine Gefahr für die EU durch Rechtspopulisten sieht sie nicht. „Ich glaube nicht, dass die EU auseinanderbricht. Es gibt mehr Personen, die Menschenrechte und Demokratie verteidigen, als die Rechtsradikalen.”
Saniye Açıkel hat bis jetzt niemals bei einer EU-Wahl eine Stimme abgegeben, obwohl sie eine politisch interessierte Person ist. Der Grund sei, dass die Parteien nicht so große Wahlkampagnen machen wie für die Bundestagswahl. „Man vergisst es im Laufe des Tages“, sagt sie. Bei der EU-Wahl im Jahr 2014 haben nur 42,6 Prozent der EU-Bürger ihre Stimme abgegeben. Allerdings sei ihr bekannt, dass die Entscheidungen des Europäischen Parlamentes ihr Leben in Deutschland beeinflussen. Daher hat sie vor, an dieser Wahl teilzunehmen.
Kati Piri wird in türkischen Medien als Islamfeindin bezeichnet
Die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri, ist aus den Niederlanden. Sie ist Mitglied der Arbeiterpartei Pvda (Partei van de Arbeid). Sie ist schon lange im Visier der türkischen Regierung und deren Presse. Mehrmals wurde sie in türkischen Medien als Türkei- und Islamfeindin bezeichnet. Sie spricht bei jedem Anlass über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und über die politischen Gefangenen, vor allem über den Ex-Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, und den renommierten türkischen Bürgerrechtler Osman Kavala.
Die Voraussage Tansu Çillers von 1995 findet sie unrealistisch. “Wir haben ja erst im Jahr 2004 mit den Vollmitgliedschaftsverhandlungen angefangen“, sagt Piri. Dass diese Verhandlungen jetzt stoppen sollen, ist eigentlich nicht von ihr gewollt. „Aber nachdem die Türkei eine neue Verfassung eingeführt hat, mussten wir den Vorschlag machen, die Verhandlungen zu stoppen“, sagt Piri. Die Rückschritte in der Türkei hätten mit der Niederschlagung der Gezi Park Proteste 2013 begonnen. Nach der neuen Verfassung habe Erdogan die ganze Macht, auch offiziell. In Europa hat Piri keinen Widerstand gegen ihren Vorschlag bekommen. Die Antwort der türkischen Regierung auf die Zustimmung des EU-Parlaments zu dem Vorschlag war: Wir wissen nichts davon. „Dabei ist das nicht mehr nur mein Vorschlag, sondern das ist im Parlament abgestimmt worden. Das heißt, es ist eine Entscheidung aller EU-Staaten. Egal ob die Türkei das akzeptiert oder nicht, es spielt keine Rolle für unsere Position.”
"Wenn sie einem Klub beitreten wollen, müssen Sie die Vorschriften beachten"
Die Berichterstatterin findet den angeblichen Willen der türkischen Regierung, in die EU einzutreten, nicht ehrlich. In den letzten vier Jahren habe die türkische Regierung sich keinerlei Mühe gegeben. “Wenn Sie einem Klub beitreten wollen, müssen Sie die Vorschriften beachten. Wenn Sie das nicht tun, können sie nicht beitreten”, sagt Piri über diese Situation und fügt hinzu: “Sowohl die Türkei als auch die EU-Chefs verhalten sich, als ob Sie diese Mitgliedschaft wollten. Aus meiner Sicht haben in Wirklichkeit beide Seiten keine Lust.”
Hätte denn die Türkei eventuell eine Chance irgendwann in die EU einzutreten? Unabhängig von der Regierung Erdogans und der neuen Verfassung: Die türkische Bevölkerung glaubt seit Jahren nicht mehr daran, dass das geschehen wird. Laut einer Umfrage der Stiftung für wirtschaftliche Entwicklung (İktisadi Kalkınma Vakfı) vom November 2017 unterstützt zwar die türkische Bevölkerung zu 78.9 Prozent den Beitritt in die EU, aber 68.8 Prozent hat keine Hoffnung darin. Die Türk*innen wollen also in die EU, aber gleichzeitig glauben sie nicht daran.
„Meiner persönlichen Meinung nach ist die demokratische Türkei ein Teil Europas. Aber offensichtlich nicht die jetzige”, sagt Kati Piri. Sie wolle nicht, dass die Kontakte zwischen der EU und der Türkei auseinanderbrechen. Mitarbeiter- und Studierendenaustausche, visumfreies Reisen seien wichtige Themen. „Wir wollen nicht, dass die Menschen unter den Auswirkungen der Politik leiden.“
Rückschritte in der Demokratie: Ist die Türkei das einzige Land?
Die Türkei ist nicht der einzige Mitgliedskandidat der EU und auch nicht der Einzige, dessen Demokratie problematisch ist. Neben der Türkei gibt es zwei weitere Beitrittskandidaten: Montenegro und Serbien.
In Serbien und auch in Westeuropa gibt es große Demonstrationen gegen den serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic. Piri sagt, sie sei zwar keine Berichterstatterin für Serbien, aber sie erwarte von ihren Kolleg*innen die gleichen Reaktionen wie die ihrige in Bezug auf die Türkei. Der serbische Präsident Vucic ist aus Piris Sicht genauso weit entfernt von der Demokratie. ”Wir dürfen auch ein anderes wichtiges Problem in der EU nicht vergessen: Ungarn. Das Europäische Parlament hat Sanktionen gegen Ungarn zugestimmt. Wir können nicht mit zweierlei Maß messen. Wo es Menschenrechtsverletzungen gibt, sollten wir dagegen vorgehen.”
Die EU-Unterstützer werden zur Wahl gehen
Einerseits die Rückschritte von der Demokratie, andererseits der Aufstieg des Rechtpopulismus in Europa. Die rechtpopulistischen Parteien haben nationalistische Forderungen. Daher wollen manche rechtpopulistischen Fraktionen, dass die EU auseinanderbricht, für manche ist es akzeptabel, dass es eine EU gibt, aber sie sind offensichtlich gegen ein Europäisches Parlament. Es ist klar, dass sie in dieser Wahl mehr Stimmen gewinnen werden.
In diesem Punkt ist Kati Piri nicht pessimistisch. Sie ist der Meinung, die EU-Unterstützer*innen seien bis jetzt nicht zur Wahl gegangen, weil sie es nicht für nötig hielten. Das sei jetzt anders. „Die Europäer*innen sehen Beispiele wie Trump und Brexit und daher werden die Demokratieunterstützer zur Wahl gehen“, sagt Piri.
Dieser Text ist im Rahmen des Exiljournalistenprojekts #jetztschreibenwir entstanden. Das mehrfach preisgekrönte Tagesspiegel-Projekt, das von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird, begann im Herbst 2016 mit einer ganzen Tagesspiegel-Ausgabe mit Texten von Exiljournalisten. Nach "Wir wählen die Freiheit" (September 2017) und "Heimaten" (Juni 2018) erscheint mit "Wir in Europa" (Mai 2019) die dritte Beilage, die von Exiljournalisten gestaltet wurde.