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Staatsepidemiologe Anders Tegnell steht im Fokus.
© Jonathan Nackstrand/AFP
Update

„Es gibt ganz klar Verbesserungspotenzial“: Schwedens Chef-Epidemiologe räumt Fehler in Coronakrise ein

Regierungsberater Tegnell sagt, Schweden hätte mehr Maßnahmen ergreifen sollen. Später aber relativiert er: Die Gesamtstrategie sei richtig.

Angesichts der im internationalen Vergleich hohen Zahl der Todesfälle in Folge einer Covid-19-Erkrankung zeigt sich der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell von der staatlichen Gesundheitsbehörde nun klar selbstkritisch. Nachdem er bereits in den vergangenen Wochen wiederholt Zweifel am schwedischen Umgang mit der Coronavirus-Pandemie angedeutet hatte, sagte Tegnell nun in einem Interview mit Sveriges Radio, es wäre besser gewesen, von Beginn an mehr Maßnahmen zu ergreifen: „Würden wir auf die gleiche Krankheit treffen, mit dem, was wir heute über sie wissen, denke ich, wir würden irgendwo in der Mitte landen zwischen dem, was Schweden getan hat und was der Rest der Welt gemacht hat.“

Weiter sagte Tegnell, der die rot-grüne Minderheitsregierung von Ministerpräsident Stefan Löfven berät, dem Sender SVT online zufolge: „Ich denke, es gibt Verbesserungspotenzial bei dem, was wir in Schweden gemacht haben, ganz klar. Und es wäre gut, genauer zu wissen, was man schließen sollte, um Infektionen besser zu verhindern.“

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Was genau man in Schweden hätte anders machen sollen, dazu wollte sich Tegnell in dem Interview nicht äußern. Er hoffe, dass man nun aus der Entwicklung in anderen Ländern, wo die Beschränkungen des Alltags gelockert werden, Rückschlüsse ziehen kann. „Alle andere Länder haben auf ein Mal sehr viele Maßnahmen ergriffen“, sagte der 64-Jährige mit Blick auf den Lockdown, für den sich unter anderem auch die Nachbarstaaten Dänemark, Norwegen und Finnland entschieden hatten.

„Das Problem ist, dass man eigentlich nicht weiß, welche von all den Maßnahmen den besten Effekt haben.“ Möglicherweise erfahre man es nun, da in anderen Ländern eine Beschränkung nach der nächsten aufgehoben werde. „Und dann können wir vielleicht eine Art Lehre ziehen über das, was wir noch hätten tun sollen, abgesehen von dem was wir gemacht haben, ohne in den totalen Lockdown zu gehen“, sagte Tegnell.

In einem Interview mit der Zeitung „Dagens Nyheter“ (DN) relativierte Tegnell seine Aussagen später. Es wäre sehr viel besser gewesen, wenn man in Alten- und Pflegeheimen besser vorbereitet gewesen, aus denen mehr weit als die Hälfte aller Todesfälle gemeldet werden. Dort hätte man auch mit dem Testen schneller sein müssen. Es gebe Dinge, die Schweden hätte besser machen können. „Aber ich denke, die grundsätzliche Strategie hat gut funktioniert“, sagte Tegnell dem Blatt. „Ich sehe nicht, wie wir es auf eine ganz andere Art hätten machen sollen.“

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Viele der Länder, die sich für einen Lockdown entschieden hätten, sollten vernünftigerweise überlegen, ob dies nötig gewesen sei. „Hätte man nicht mehr fokussiert sein können und trotzdem die gleichen Effekte erzielt? Man macht ja nicht die gesamte Gesellschaft dicht, wenn man nicht muss.“ Das Schweden den Kurs ändere, sehe er nicht, sagte Tegnell.

Das mit seinen rund 10,3 Millionen Einwohnern verzeichnet aktuell 4542 Todesfälle, die meisten mit 2099 davon in der Region der Hauptstadt Stockholm. Schweden steht aktuell bei etwa 55 Toten pro Tag im Sieben-Tage-Mittel. Das ist etwa die Hälfte des Maximalwerts von 107, der Ende April erreicht wurde. Deutschland, das achtmal so viele Einwohner hat, liegt aktuell bei 40 Toten pro Tag – ein Fünftel des Höchstwerts von 250 Toten vom 21. April.

Anzahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner (Stand Dienstag, 2. Juni, 14 Uhr; Quelle Sveriges Television/Johns Hopkins Universität/Worldometer)

  • Schweden 439
  • Norwegen 45
  • Dänemark 100
  • Finnland 58
  • Island 28
  • Deutschland 103
  • USA 325
  • Brasilien 149
  • Italien 555
  • Spanien 581
  • Belgien 832
  • Frankreich 432
  • Großbritannien 593
  • Japan 7
  • Südkorea 5

Insgesamt wurden in Schweden bisher rund 38.600 bestätigte Infektionen registriert. Allerdings wird eine hohe Dunkelziffer vermutet, da im Land nach wie vor vergleichsweise wenig getestet wird. Zunächst nicht aufgegangen ist auch die Hoffnung, dass viele Menschen Antikörper entwickelt haben. Die ersten Testergebnisse aus Schweden zeigten, dass in der am schlimmsten von der Pandemie betroffenen schwedischen Hauptstadt Stockholm Ende April 7,3 Prozent der Bewohner über Antikörper verfügten. Nicht wenige Experten sind der Ansicht, dass sich das wahre Ausmaß der Pandemie in Schweden nicht wirklich überblicken lasse.

Anzahl der Tests pro eine Million Einwohner (Stand Dienstag, 2. Juni, Quelle:Worldometer)

  • Schweden: 27,3
  • Dänemark: 111,544/1558
  • Norwegen 46,3
  • Finnland 34,4
  • Island 59
  • Deutschland: 47,2
  • USA: 56,2

Regierung und Gesundheitsbehörde hatten seit Beginn der Pandemie auf die Vernunft der Bürger gesetzt und an die Bürger appelliert, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten. Menschen über 70 sollen zu Hause bleiben. Kindergärten, Schulen für Kinder unter 16 Jahre und Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie. Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt.

Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall zu Hause bleiben. Strikt verboten sind dagegen seit Anfang April Besuche in Alten- und Pflegeheimen.

Der schwedische Ansatz hat von Beginn polarisiert. Während die einen darin einen probaten Weg sahen, um ohne einen Lockdown durch die Pandemie zu kommen und auch die Weltgesundheitsorganisation den Ansatz hervorhob, irritierte der oft als schwedischer Sonderwegbezeichnete Kurs auch international.

Und auch im Land war die Strategie der Regierung längst nicht unumstritten; schon im März forderten zahlreiche Wissenschaftler einen radikalen Kurswechsel. Löfven und Tegnell wird vorgeworfen, das Leben vieler leichtfertig aufs Spiel zu setzen – unter anderem, um die Wirtschaft zu schützen, die wegen ihrer Abhängigkeit vom Export aber auch massiv von der Coronavirus-Krise betroffen ist.

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Der sozialdemokratische Premier Löfven hatte zum zu erwartenden Ausmaß der Pandemie am 3. April der Zeitung DN gesagt, Schweden verfolge die Strategie, den Anstieg der Infektionsfälle zu verzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. „Aber das beinhaltet zugleich, dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen.“

Die Mehrheit der Bürger scheint den Kurs der Regierung nach wie vor zu stützen. In Umfrage steht die rot-grüne Minderheitsregierung so gut da wie nie zuvor.

Tegnell hatte, wie Löfven, zwar von Beginn an in der Krise betont, wie wichtig es sei, ältere Mitbürger besonders zu schützen. Beide gestanden aber inzwischen ein, dass dies gescheitert sei. Tegnell sagte zuletzt: „Es ist eine schreckliche Situation, in der wir gelandet sind, die unsere Gesellschaft wirklich herausfordert.“

Der Umgang mit der Pandemie könnte in Schweden auch ein parlamentarisches Nachspiel haben. Ende Mai hatten die beiden größten Oppositionsparteien eine unabhängige Untersuchung des Vorgehens gefordert. Die Kommission müsse noch vor dem Sommer ihre Arbeit aufnehmen, erklärten die konservative Moderate Partei und die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Die Oppositionsparteien setzen Löfven unter Druck. Er war bisher grundsätzlich offen für die Einsetzung einer unabhängigen Kommission. Diese soll nach seinem Willen aber erst nach Ende der Coronavirus-Pandemie ihre Arbeit aufnehmen.

„In Malmö ist es nah zu allem. Aber jetzt halten wir Abstand", steht auf dem Plakat.“
„In Malmö ist es nah zu allem. Aber jetzt halten wir Abstand", steht auf dem Plakat.“
© imago images/TT/Johan Nilsson

Für die Bürger haben die hohen Todeszahlen und die vermutlich hohen Infektionszahlen bereits jetzt direkte Konsequenzen für ihren Sommerurlaub – Ende nächster Woche Woche beginnen in dem Land die Schulferien. Und etliche Länder zögern derzeit, die geschlossenen Grenzen auch für einreisende Schweden wieder zu öffnen; darunter sind ausgerechnet die Nachbarländer Finnland, Norwegen und Dänemark. Die Regierungen befürchten, dass neue Infektionsfälle importiert werden. Aus demselben Grund hatte auch Zypern gerade erklärt, Direktflüge aus Schweden vorerst nicht zu erlauben.

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Die schwedische Regierung schien von dem Einreiseverbot etwas überrumpelt zu sein. Gesundheitsministerin Lena Hallgren empörte sich: „Schweden war vor und während der Krise eines der Länder mit offenen Grenzen für Waren und Menschen. Wir sind grundsätzlich dafür, dass alle Länder gleich behandelt werden, egal in welchem Zusammenhang.“ Ein TV-Moderator fragte: „Sind wir Schweden mit unserem eigenen Weg durch die Corona-Krise jetzt so etwas wie das Mobbingopfer Europas?“

Die Zeitung DN kommentierte am Dienstag scharf: „Es geht einfach nicht mehr: Wir können nicht Todeszahlen haben, die bei weitem diejenigen unserer Nachbarn übersteigen – und trotzdem behaupten, dass wir den richtigen Weg gewählt haben.“ Und warnte vor unabsehbaren Konsequenzen für das Land: „Wir werden als Europas Aussätziger betrachtet. Das kann auch einen Schlag für unsere Wirtschaft bedeuten: Nicht nur, weil das Risiko besteht, dass sich Touristen ein anderes Ziel suchen, sondern auch, weil ein Misstrauen gegen schwedische Produkte als etwas Unreines entsteht.“

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