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Die Zahl der Coronavirus-Fälle in Deutschland steigt dramatisch schnell an.
© Montage: Tagesspiegel • Foto: Reuters

Coronavirus-Zahlen für Deutschland: Was diese Kurve für das Leben jedes Einzelnen bedeutet

Wissenschaftler, Politiker und Bürger blicken in der Coronavirus-Krise besorgt auf ein simples Diagramm. Was bedeutet der Linienverlauf für uns alle?

Wahrscheinlich jeder hat sie schon gesehen, täglich neu oder sogar in Echtzeit, in bunten Farben mit vielen Zahlen – die Kurve. Auf nichts schauen in diesen Tagen auch Wissenschaftler, Politiker und andere Verantwortliche häufiger. Das simple Diagramm zeigt wie eine Fieberkurve immer neu die Entwicklung der Corona-Krise: Infizierte, Kranke, Tote.

Doch wie die Fiebergrafik zeigt die Corona-Kurve mehr als bloß den Zustand des Patienten Deutschland. Ablesen lässt sich auch, ob die Medizin hilft – oder die Dosis erhöht werden muss, damit aus Pandemie nicht eine Katastrophe wird.

Für Wissenschaftler wie Politiker ist die Kurve damit das wichtigste Anzeigeinstrument. Doch zugleich steckt in ihr ein Riesenproblem im Kampf gegen das Virus.

Die Kurve läuft der Wahrheit sozusagen hinterher. Wer sich heute infiziert, den erfasst sie frühestens nach Tagen. Erst spät zeigt das Corona-Thermometer auch an, ob Schul- und Geschäftsschließungen und Appelle zur Kontaktvermeidung helfen.

Die Kurve untertreibt die Krankheit wie die Wirkung der Therapie. „Die nächsten zehn bis 14 Tage sind schwer“, sagt ein Regierungsvertreter voraus. „Wir ergreifen scharfe Maßnahmen, aber die Effekte sind noch nicht sichtbar.“ Alle trotzdem zum Durchhalten zu bewegen, wird zur zentralen Aufgabe. Fast unlösbar wird sie, wenn Menschen nicht einsehen, warum Durchhalten nötig ist.

Darum ist das Ergreifen von frühen Maßnahmen so wichtig: Hintergrund zur Ausbreitung des Coronavirus - #flattenthecurve
Gelingt es, die Ausbreitung eines Virus zu verlangsamen, würden zwar gleich viele Menschen infiziert, allerdings über einen längeren Zeitraum hinweg. So ließe sich der Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermeiden.
© Tagesspiegel/Katrin Cremer

Wie aussagekräftig ist die Kurve?

Bis eine Corona-Erkrankung ausbricht, dauert es eine knappe Woche, die Testergebnisse lassen zwei bis drei Tage auf sich warten. Die heutige Kurve zeigt den Zustand vor sieben bis zehn Tagen. Das heißt umgekehrt: In den nächsten sieben bis zehn Tagen wird sie unvermeidlich weiter und steiler nach oben gehen. Die Sorge in den Krisenstäben ist groß, dass viele Menschen das falsch verstehen und schulterzuckend wieder unter Leute gehen nach dem Motto: „Hat ja nichts geholfen!“ Aber der Effekt der strengeren Maßnahmen zeigt sich eben auch erst später.

[Covid-19 in den Bundesländern: Die aktuellen Ansteckungszahlen in den Landkreisen finden Sie auf unserer interaktiven Karte]

Völlig ausgeblendet wird in der Kurve die Dunkelziffer. Die Krankheit verläuft oft sehr milde. Viele Infizierte merken gar nichts davon. Zudem wird hierzulande nicht flächendeckend, sondern oft nur bei starken Symptomen getestet.

Experten vermuten, dass auf jeden gemeldeten Infizierten fünf bis zehn Unentdeckte kommen. Die Johns-Hopkins-Universität, die ihre Daten schneller aktualisiert als das auf Dienstwege angewiesene Robert-Koch-Institut (RKI), meldete am Mittwoch über 10 000 Infizierte in Deutschland – es könnten also in Wahrheit schon 100 000 sein. Und das Coronavirus verbreiten weniger die schwer Erkrankten als all die Infizierten, die sich für gesund halten.

Wären mehr Tests nicht sinnvoll?

Die Antwort ist ein klares Ja – aber. Epidemiologen fordern weit mehr Tests. Auch politisch Verantwortliche brauchen Daten. „Sonst stochern wir im Nebel mit unseren Maßnahmen“, sagt einer aus dem Krisenstab der Regierung. Hotspots lassen sich nur abriegeln, wenn man sie früh erkennt. Je genauer die Kurve, desto zuverlässiger zeigt sie auch, ob Maßnahmen greifen.

Medizinisch und systemisch dagegen macht eine Ausweitung wenig Sinn. Leichte Fälle kann jeder selbst auskurieren, ohne zu wissen, ob der Hals von einer Erkältung, der ersten Allergie oder Covid-19 kratzt. Die Labore und Kliniken stoßen schon an ihre Grenzen. Vorrang müssen Menschen in systemrelevanten Berufen haben, – von Ärzten und Pflegern bis zum Finanzminister Olaf Scholz, der seit Mittwoch daheim arbeitet.

Wie verläuft die Kurve im besten Fall weiter?

Statt steil und steiler aufwärts – weniger steil und flacher (siehe große Grafik). Dann besteht eine gute Chance, dass das Gesundheitssystem standhält und genügend Betten, Ärzte und Pfleger für schwere Fälle bereitstehen. Deutsche Experten sehen durchaus Hoffnung. Die Zahl der Corona-Toten ist nach wie vor vergleichsweise gering. Diese Kurve steigt nicht so steil wie in den Krisenländern China, Iran, Italien und Spanien. Dort konnte sich das Virus offenbar lange unentdeckt verbreiten, die Zahlen sind dann regelrecht explodiert. In Frankreich ist die Situation ähnlich wie in Deutschland. Südkorea liegt seit zwei Wochen relativ stabil auf mittlerem Niveau, Japan und Singapur bei geringem Anstieg. In den nächsten zwei Wochen zeigt sich, ob Deutschlands Kurve einbiegt.

Was passiert im schlimmsten Fall?

Steigt die Kurve weiter steil nach oben, sind die Folgen unabsehbar. RKI-Präsident Lothar Wieler rechnete vor, dass es in diesem Fall in zwei bis drei Monaten schon zehn Millionen Infizierte geben könnte. Ob das Gesundheitssystem dem standhält, selbst mit Notkrankenhäusern wie dem geplanten Berliner 1000-Betten-Haus in der Messe, ist völlig unklar.

Zumal bisher niemand weiß, ob und wann die Pandemie sich irgendwann selbst ausbremst. Im Prinzip ist der Effekt bekannt. Er tritt ein, wenn Menschen nach einer Infektion immun werden. Wenn dann etwa 60 bis 70 Prozent aller Bürger infiziert waren und wieder genesen sind, findet das Virus nicht mehr genug Anfällige, um sich weiter auszubreiten. Mediziner sprechen in so einem Fall von Herdenimmunität.

Allerdings funktioniert das nur schlecht oder gar nicht bei Viren, die wie das Grippe-Virus leicht mutieren und als neuer Erreger wieder ansteckend sind. Erste Studien – etwa die an den ersten deutschen Fällen bei der Firma Webasto – weisen jedoch darauf hin, dass CoVir-19 sich wie das verwandte Sars-Virus nicht so schnell verwandeln kann.

Wie hält sich die Politik über die Kurve auf dem Laufenden?

In der Bundesregierung ist der Corona-Krisenmodus inzwischen fest etabliert; in den Landesregierungen funktioniert er ähnlich. Immer montags und donnerstags steht der Kabinettsausschuss Corona im Terminplan. Das Sondergremium hat die jüngsten Sofortmaßnahmen vorbereitet. Das Kanzleramt wirkt mit, das Gesundheits- und Wirtschaftsministerium, dazu Finanzen, Inneres, Auswärtiges Amt und Verteidigung.

Täglich beraten die Staatssekretäre dieser Häuser die Lage. Das Robert-Koch-Institut ist als wissenschaftlicher Informations- und Ratgeber ständig beteiligt, andere Institutionen nach Bedarf. Jeden Tag schickt die Runde einen dicken Stapel Infomaterial in der Regierung rund: Zahlen, Daten, Maßnahmen, Problembereiche. Die Kurve ist immer mit dabei. Das Material geht auch an Angela Merkel. Die Kanzlerin ist als wissbegierig bekannt. „Sie will es verstehen bis ins Detail“, sagt ein langjähriger Begleiter. Virenforscher, aber auch Ökonomen und Firmenchefs müssen dieser Tage immer mal mit einem Anruf rechnen.

Was so geregelt klingt, ist aber in Wahrheit ein Höllenritt. „Mit der Finanzkrise ist das überhaupt nicht zu vergleichen“, stöhnt einer, der schon 2008 im Krisenstab saß. Allein die wirtschaftlichen Probleme sind dramatisch. „Damals ging es im Kern darum, einige große Banken zu retten“, sagt der Regierungsmann. „Heute haben wir es mit der kompletten Realwirtschaft zu tun.“ Der Beinahe-Stillstand des öffentlichen Lebens trifft fünf Millionen Betriebe vom Weltkonzern bis zur Ein- Mann-Firma. Aber ein Riese wie VW kann sich mit Reserven und Kurzarbeitergeld eine Zeit lang gut alleine halten. Der kleine Buchhändler weiß nicht, woher er die nächste Miete nehmen soll.

Auch in anderen Ministerien türmen sich Probleme und Hilferufe – angefangen bei Anwälten, denen uneinsichtige Gerichte keinen Aufschub für Termine geben, bis zum hoch belasteten Gesundheitswesen.

Und das wird noch lange so weitergehen.

Was folgt für uns alle aus den Kurvenverläufen?

Im besten Fall bleibt der heutige Zustand vorerst bestehen. Und niemand kann heute voraussagen, wann sich das Leben – wenn auch nur stufenweise – normalisieren kann. Aber alle Verantwortlichen gehen davon aus, dass es mindestens Wochen, wenn nicht Monate dauert. Wenn es gelingt, das Virus auszubremsen, ist also weiter Disziplin gefragt. Denn sonst geht nach kurzer Unterbrechung die Pandemie da weiter, wo wir sie zu stoppen versucht haben.

Und wenn die Kurve in zwei Wochen weiter steil aufwärts verläuft?

Dann wird auch in Deutschland unumgänglich, was von China bis Frankreich viele Staaten verhängten: Kontaktverbot, Ausgangssperre, Abriegelung. Noch hoffen alle, dass es nicht so weit kommen muss. Aber sicher ist keiner. Es hängt von der Kurve ab. Jeder Einzelne beeinflusst sie. Wenn „Corona-Partys“ und Treffen im Freundeskreis nicht sofort aufhörten, warnt NRW-Gesundheitsminister Joachim Stamp (FDP), werde man sofort „drastischere Maßnahmen“ brauchen.

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