Säuberungen nach dem Putschversuch: Und die Türkei diskutiert die Todesstrafe
Verhaftungen, Entmachtungen, Todesstrafe. Die Säuberungen in der Türkei gehen weiter. Wer hinter dem Putsch steckt, bleibt nach wie vor unklar.
Hulusi Akar kam ohne Krawatte. Rote Striemen sind an seiner Kehle sichtbar. Man habe ihm mit einem Gürtel gewürgt, erzählt der Stabschef der Armee der Türkei in einem Briefing nach dem Putsch. Sein eigener Privatsekretär wollte ihn zwingen, die Erklärung der Putschisten über die Machtübernahme im Land zu unterschreiben und zu verlesen. „Kommandant, unterzeichnen Sie. Sie werden sehen, sehr gute Dinge werden geschehen“, soll Akars Sekretär gesagt haben.
Zwei Tage nach dem Coup in der Türkei werden immer mehr Details bekannt. Sie zeigen einerseits den recht beträchtlichen Umfang dieses Umsturzversuchs, an dem sich Führungsebenen der türkischen Armee beteiligten. Doch andererseits tauchen auch neue Fragen auf.
Akar wurde am späten Freitagabend in seinem Büro im Generalstab in Ankara erst gefesselt und auf den Boden geworfen, als er sich weigerte, die Putscherklärung zu unterschreiben. Später brachten ihn die Umstürzler auf eine Luftwaffenbasis außerhalb der Hauptstadt. Dort wurde er am Samstagmorgen dann befreit. Der Angriff konzentrierte sich auf Ankara und Istanbul, doch die Putschisten hatten sich in vielen Militärstützpunkten in Anatolien und im Südwesten des Landes in Bewegung gesetzt. Noch am Montag waren Operationen im Gang, um die letzten Aufständischen zu finden.
Nach dem angeblichen Rädelsführer des Aufstands, dem früheren Befehlshaber der Luftstreitkäfte Akin Öztürk, wurde am Montag auch der Kommandeur der Zweiten Armee, Adem Huduti verhaftet. Die Verschwörer sollen bis in den engeren Kreis um Staatschef Recep Tayyip Erdogan reichen. So wurde auch der Militärberater des Präsidenten festgenommen. Er soll einen Anschlag auf die Präsidentenmaschine koordiniert haben. Zwei Maschinen der Putschisten sollen das Flugzeug mit Erdogan an Bord schon ins Zielradar genommen, dann aber doch nicht angegriffen haben.
Der Putsch sollte offenbar erst im August stattfinden
Verbreitet wird auch die These, wonach die Putschisten eigentlich erst im August losschlagen wollten. Aus Angst vor der Entdeckung ihrer Pläne hätten sie den Coup aber vorzeitig und nicht ausreichend vorbereitet gestartet. Viele Beobachter halten das für ein realistisches Szenario. Der Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Günter Seufert, hält es dagegen für wenig plausibel, dass der Putsch von Gewährsleuten des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen initiiert wurde. „Diese Leute standen unter Beobachtung und konnten einen Putsch unmöglich vorbereiten“, sagte Seufert dem Tagesspiegel. Belege für die Anschuldigungen gegen die Gülen-Bewegung sei die Regierung bisher schuldig geblieben. Die Putschisten hätten sich zudem ausdrücklich auf Atatürk berufen, so Seufert weiter. „Sie hatten also säkulare Motive.“ Gülen hingegen ist Oberhaupt einer islamischen Bewegung. Einst ein Verbündeter Erdogans hat ihn der Staatspräsident inzwischen aber als Erzrivalen ausgemacht. „Die Regierung nutzt die Situation nun, um bereits lang gehegte Pläne gegen Gülen umzusetzen.“
Die laufenden Säuberungen in Justiz und Armee richten sich in vielen Fällen ganz gezielt gegen Gülen-Anhänger. Die Gülen-Bewegung sei lange die größte Zivilbewegung in der Türkei gewesen, sagt Experte Seufert. Gülen sei es gelungen, ein breites Netzwerk aufzubauen. „Aber diese Parallelstrukturen waren schon vor dem Putsch sehr geschwächt, weil es bereits früher Säuberungswellen gegeben hat.“ In den vergangenen zwei Jahren sind laut Seufert insgesamt 4000 Staatsbeamte ihres Postens enthoben worden, 800 Polizisten verhaftet worden. In der Polizei seien die Gülen-Strukturen damit zerschlagen worden. „Weil Amtsenthebungen in der Justiz nicht so einfach sind, hat die Regierung dort unter anderem neue Abteilungen geschaffen und sie mit eigenen Gewährsleuten besetzt.“ Dem Parlament liege zudem ein Gesetzentwurf zur Reform des Kassationsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs vor. Hier sollten Richter durch die Reduzierung der Kammern entmachtet werden.
Die türkische Regierung hat die USA eindringlich aufgefordert, Gülen auszuliefern. Dafür muss sie aber belastende Beweise gegen ihn vorlegen. Seufert: „Das ist die große Chance, die Sache aufzuklären. Man darf darauf gespannt sein, wie weit das Militär und die Regierung die Karten offen legen werden.“
Rufe nach Todesstrafe schon am Tag nach dem Umsturzversuch
Erdogans Anhänger wollen jedenfalls Köpfe rollen sehen. Vor dem Privathaus des Staatschefs in Üsküdar wurden schon am Tag nach dem Putschversuch aus der dort versammelten Menge Rufe nach der Todesstrafe laut. Auch bei einer Trauerfeier für Opfer des gescheiterten Militärcoups in Istanbul, an der der türkische Präsident teilnahm, riefen AKP-Anhänger immer wieder: „Intikam!“, „Rache“, und „idam isteriz“, „Wir wollen die Todesstrafe“. Der türkische Staatschef nimmt den Wunsch seiner Wähler – „meine Brüder“ – nach der Wiedereinführung der Todesstrafe offenbar ernst. „Unsere Regierung wird das mit der Opposition beraten“, versprach er.
2002 hatte das türkische Parlament die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten in erster Lesung beschlossen. Damals regierte eine Koalitionsregierung, die von dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit geführt wurde. Sein Koalitionspartner war der rechtsgerichtete Nationalist Devlet Bahceli, der heute noch seine Partei, die MHP, führt. Bahceli und seine Gefolgsleute waren strikt gegen die Abschaffung der Todesstrafe, die damals Abdullah Öcalan treffen sollte, den inhaftierten Gründer der kurdischen Untergrundarmee PKK. Doch um der Kandidatur zum EU-Beitritt willen, gaben auch die Nationalisten nach.
Erdogans konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gewann nur Monate später, im November 2002, die Wahlen und ist seither an der Macht. Sie schaffte 2006, nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen, auch die Todesstrafe in Kriegszeiten ab. Doch die Debatte um die Wiedereinführung begann bald wieder in der Türkei. Fünf Jahre später, während eines Hungerstreiks kurdischer Aktivisten in den Gefängnissen, der die Regierung unter Druck brachte, trat Erdogan erneut eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe los: „Wir sollten das überdenken.“ Geschehen ist dann nichts. Eine Gesetzesänderung würde nun – anders als es sich Erdogans Volk wünscht – auch nicht rückwirkend auf die verhafteten angeblichen Putschisten angewandt werden können.