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Der Sonntag war der Tag der Begräbnisse nach dem Umsturzversuch.
© AFP/Ilyas Akengin

Nach dem Putschversuch: "Die Demokratie ist stark in der Türkei"

Die Professorin Lea Nocera lobt die Haltung der türkischen Parteien. Dem Chef des Europarats missfällt die Diskussion über die Todesstrafe. Kurden in Deutschland sehen eine starke Polarisierung.

Lea Noceras Freunde und Bekannte in der Türkei waren "ziemlich überrascht" vom Putschversuch in der Nacht zum Samstag. Innerhalb von vier Stunden habe sich alles entschieden. Auch das hat Lea Nocera verblüfft. Sie ist Professorin für Türkeistudien an der Universität Neapel. Einen Putsch habe niemand erwartet, sagte sie dem Tagesspiegel. Der Verlauf des Umsturzversuches, und die schnelle Reaktion der Regierung hat viele misstrauisch gemacht, berichtet sie. "Dennoch haben alle Parteien, auch die Opposition, den Militärcoup geschlossen verurteilt. Die Demokratie ist stark in der Türkei", sagte sie.

In der Nacht seien vor allem die Anhänger der Regierungspartei AKP auf die Straße gegangen. Aber trotz der tiefen Spaltung der Bevölkerung seit den beiden Wahlen im vergangenen Jahr hätten die Türken in ihrer großen Mehrheit die Demokratie verteidigen wollen. Aber nicht alle wollten auch die Herrschaft der Regierungspartei verteidigen, stellt Nocera fest.

Dass Präsident Recep Tayyip Erdogan sofort die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen verdächtig hat, hinter dem Umsturzplan zu stecken, hat Nocera weniger überrascht. Seit Jahren habe Erdogan über Umsturzpläne gesprochen. Und er habe auch schon lange die Gülen-Bewegung verdächtigt, hinter den Schwierigkeiten der Türkei zu stecken. Dass am Tag danach bereits rund 3000 Richter und Staatsanwälte gefeuert und teilweise verhaftet worden sind, sieht Nocera als Zeichen dafür an, dass die Regierungspartei vorbereitet war. Allerdings sei es schwer, herauszufinden, ob die beschuldigten Richter tatsächlich irgendetwas mit der Gülen-Bewegung zu tun gehabt hätten.

Der Einfluss der Gülen-Bewegung

Da Gülen und Erdogan lange Zeit Verbündete gewesen seien, sei es den Gülen-Anhängern tatsächlich gelungen, "auf allen Ebenen des Staates" Einfluss zu gewinnen und Posten zu besetzen. Wo die Gülen-Leute überall Fuß gefasst hatten, sei bei den Ermittlungen eines für die Regierungspartei peinlichen Korruptionsskandals herausgekommen, sagt Nocera. Diese Ermittlungen im Jahr 2013 haben dann auch zum Bruch zwischen Erdogan und Gülen geführt. Erdogan wirft dem Justizapparat vor, von Gülen-Leuten übernommen worden zu sein.

Gülen, der am Samstag wenige internationale Journalisten in seinem Exil in den USA empfing, hat sich dazu 2014 in einem seiner raren Interviews bei der BBC geäußert. Er scherzte, die Staatsanwälte in der Türkei hätten womöglich nicht mitbekommen, dass "Korruption nicht mehr strafbar ist". Seit dem Bruch seien bereits viele Gülen-Anhänger wieder aus ihren Positionen herausgedrängt worden, berichtet Nocera. Seit 2014 gibt es einen türkischen Haftbefehl für den 75-jährigen Gülen. Die Organisation sei als Terrororganisation gelistet worden. Erst vor wenigen Wochen sei eine hohe Zahl von Polizisten festgenommen worden, die verdächtigt worden seien, der Gülen-Bewegung anzugehören.

Wird die Todesstrafe wieder eingeführt?

Die Sondersitzung des Parlaments am Samstag hat Lea Nocera aber sehr beunruhigt. Mehrere Abgeordnete hätten die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, berichtet Nocera. Am Sonntag deutete auch Erdogan selbst an, dass gegen die Putschisten die Todesstrafe angewendet werden könnte. Der Generalsekretär des Europarates Thorbjørn Jagland kritisierte das scharf. Dem Tagesspiegel sagte er: "Kein Mitgliedsstaat des Europarates darf die Todesstrafe anwenden. Das ist eine Verpflichtung unter dem Statut des Europarats. Die Türkei hat beide Protokolle, Nummer 6 und 13, ratifiziert, mit der die Todesstrafe unter allen Umständen abgelehnt wird." Die 47 Mitgliedsstaaten des Europarates hatten 1983 entschieden, die Todesstrafe abzuschaffen und dieses Bekenntnis 2002 um den Zusatz "unter allen Umständen" ergänzt.

Die Regierung in Ankara selbst sprach am Samstag von 104 während der Auseinandersetzungen bereits getöteten Putschisten. Es soll auch Fälle von Lynchjustiz gegeben haben. Demonstranten haben offenbar mehrere Soldaten zu Tode geprügelt.

Kurden in Deutschland kritisieren Staatsverträge mit Ditib

Einer von ihnen soll Kurde gewesen sein, berichtet Mehmet Tanriverdi, der stellvertretende Vorsitzende der kurdischen Gemeinde Deutschlands. Tanriverdi macht sich wegen der aufgeheizten Stimmung auch in Deutschland Sorgen. In der kurdischen Gemeinde werde der Putschversuch so kontrovers diskutiert wie in der Türkei, sagte er dem Tagesspiegel. Aber es sei offensichtlich, dass Erdogan das Ereignis "nutzt, um seine Macht zu festigen und den Staat womöglich noch weiter zu islamisieren", sagt er. Besonders beunruhigt ihn, dass Erdogan die kurdische PKK in einem Atemzug mit der Gülen-Bewegung als verantwortlich beschuldigt hatte. "Das soll den Staatsterror gegen die Kurden rechtfertigen", ist Tanriverdi überzeugt.

Die Demonstrationen vor den Moscheen in den Ruhrgebietsstädten und vor der türkischen Botschaft in Berlin machen Tanriverdi etwas unruhig. Er bezeichnete die AKP-Anhänger in Deutschland als "Teil der berühmten Parallelgesellschaft". Deshalb sei es auch ein großer Fehler gewesen, dass einige SPD-geführte Landesregierungen Staatsverträge mit Ditib, den Dachverband türkischer Gemeinden. Er hofft, dass diese Landesregierungen ihre Zusammenarbeit mit Ditib "nun überdenken", sagte er dem Tagesspiegel.

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