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In der Nähe des zentralen Taksim-Platzes in Istanbul schwenken Erdogan-Anhänger türkische Nationalflaggen unter einem Porträt des Präsidenten.
© REUTERS/Kemal Aslan

Machtkampf in der Türkei: Präsident Erdogan ist stärker denn je

Recep Tayyip Erdogan spielt seine liebste Rolle: Als Mann des Volkes, aufrecht, tapfer, von bösen Mächten verfolgt. Der Präsident ist zum Gegenangriff übergegangen. Und das Tempo finden im Land viele verdächtig.

Der Präsident ist jetzt einer von ihnen. Die Menschen schubsen, tasten, drängen, wollen ihrem Führer und dem Sarg mit der türkischen Fahne so nah wie möglich kommen. Träger Recep Tayyip Erdogan läuft vorne links, er hält die Hände über dem Kopf, doch neben und unter dem Sarg helfen so viele Männer, dass auf den Fingern des Präsidenten kein Gewicht mehr lastet.Im Istanbuler Bezirk Fatih trägt Erdogan am Sonntag die Opfer des Putschversuchs zu Grabe. Und er weiß diesen Auftritt zu nutzen. In der Fatih-Moschee redet Erdogan im offenen karierten Hemd, umringt von grimmig dreinblickenden Leibwächtern, über die Stärke der türkischen Demokratie – und über seinen Erzfeind, den islamischen Prediger Fethullah Gülen. In allen Behörden des Staates werde der Säuberungsprozess fortgesetzt. „Wir werden schriftlich seine Auslieferung verlangen“, sagt Erdogan über den in den USA lebenden Chef einer islamischen Bewegung, deren Mitglieder laut Regierung hinter dem Staatsstreich gesteckt haben. „Wie ein Krebsgeschwür haben sie alle Teile des Staates befallen.“

Nie zuvor war es so gefährlich für Erdogan

Im Laufe seiner langen Karriere hat Erdogan schon viele Herausforderungen gemeistert, doch keine war gefährlicher als die vom vergangenen Wochenende. Teile der Armee hatten sich bei einem Putsch gegen den Oberkommandierenden erhoben, und einige Stunden schien es so, als könnten sie Erfolg haben. Erdogan und seine Leute wurden überrascht – niemand hätte mit einem Putsch gegen den mächtigsten Mann im Land gerechnet.

Doch innerhalb weniger Stunden drehte Erdogan die Sache zu seinen Gunsten. Am Flughafen von Istanbul, der kurz vor seiner Ankunft noch in den Händen der Putschisten war, erklärte er am Samstagmorgen, der Aufstand sei eine Gelegenheit, die Streitkräfte von Verrätern zu säubern. Bis Sonntag werden rund 6000 mutmaßliche Anhänger der Verschwörer festgenommen. Erdogan sitzt fester im Sattel denn je.

Vor der Moschee fordern Erdogans Zuhörer die Wiedereinführung der vor 15 Jahren abgeschafften Todesstrafe für die Putschisten. Ganz der Volkstribun, betont Erdogan, die Wünsche der Menschen könnten von der Politik nicht ignoriert werden. Aber versprechen will er auch nichts. Es ist ein warmer, sonniger Morgen. Und im asiatischen Teil der Millionenmetropole scheint der Putschversuch schon ganz weit weg zu sein. Rennradfahrer strampeln im Pulk die Uferstraße von Bostanci nach Pendik hinunter, Rentner bringen auf der Uferpromenade ihren Powerwalk hinter sich, zwei Stadtbedienstete mähen den akkurat gepflegten Mittelstreifen des Boulevards. Nur die Anzeigen über den Fahrbahnen, die vergangene Nacht noch vor Staus warnten, erinnern an die Gewalt. „Danke Türkei“, leuchtet da auf – und: „Die Demokratie hat gewonnen“.

Burak, der Hauswart, ist zufrieden

Burak, der Hauswart, ist zufrieden, er fühlt sich auf der Seite der Sieger. „Die ganze Türkei hat zusammengestanden“, sagt Burak und hakt die Finger seiner beiden Hände ineinander, damit es aussieht wie eine Kette. „Wir sind wie eine Familie, wenn es darauf ankommt“, sagt er. 161 Menschen starben auf der Regierungsseite, so steht am Sonntag in den türkischen Zeitungen. Die meisten der Toten, 114, waren Zivilisten. 104 Putschisten kamen ums Leben, manche sollen in einem Exzess von Selbstjustiz totgeprügelt worden sein. 1440 Menschen sind bei den Schusswechseln und Bombardierungen in Istanbul und Ankara verletzt worden. Nur Erdogan sei es zu verdanken, dass das Militär die Macht nicht an sich reißen konnte, sagt Burak. „Ein großer Führer! Mit ihm haben wir den Putsch kaputt gemacht!“

In Moda, wo Burak als kapici, also als Hauswart arbeitet, ging in der Nacht niemand auf die Straße. Zumindest nicht, um sich den putschenden Soldaten entgegenzustellen, wie es der Staatschef verlangt hatte. Moda ist immer noch so etwas wie eine Hochburg der alten Kemalisten, der Anhänger des säkularen Staatsgründers Kemal Atatürk, hier lebt auch die besser verdienende Mittelschicht.

Wer als Staatspräsident - auch nach einem so genannten Putsch-Versuch - jegliche demokratische Handlungsweisen missachtet und die Todesstrafe wieder zur Einführung prüfen lässt, hat ab sofort nichts mehr in der NATO zu suchen!

schreibt NutzerIn Alclarence

Im Viertel gibt es nur zwei Moscheen, aber einen großen Teegarten an einem Hang über der Uferpromenade. Ein angenehm leichter Wind weht vom Marmarameer herauf. An den Tischen des Teegartens gibt es heute nur ein Thema, den Putsch, und alle scheinen sich einig zu sein. „Das war alles gestellt“, sagt eine junge Türkin. „Dieser Putsch war inszeniert, Erdogan hat es getan.“ Es sei doch verdächtig, dass der Präsident wieder einmal seine Gegner besiegt habe und umgehend zum Gegenangriff übergegangen sei. Fast 3000 Richter hatte die Regierung wenige Stunden nach dem gescheiterten Staatsstreich vom Dienst suspendiert, einige von ihnen, darunter ein Verfassungsrichter, festgenommen. Außerdem sei der Putsch verdächtig dilettantisch ausgeführt worden. „Es war so verschieden vom Staatsstreich 1980, wie ihn mir meine Eltern erzählt haben“, sagt die 22-jährige Frau. „Wir haben eine so starke Armee, und das war innerhalb von vier Stunden vorbei.“

Blitzschnell schalteten sie auf Triumph um

Erdogans Anhänger haben am Samstagmorgen tatsächlich blitzschnell von Verteidigung auf Triumph umgeschaltet. Einen „Segen Gottes“ nannnte Erdogan den Putsch bei seiner Siegesrede auf dem Istanbuler Flughafen. Im ganzen Land gibt es seitdem Demonstrationen gegen den Putsch, an der Fassade des Atatürk-Kulturzentrums am zentralen Taksim-Platz hängen riesige Erdogan-Bilder. Unterdessen verbreiten die Medien Bilder von internierten Soldaten, denen eine Beteiligung am Putsch vorgeworfen wird, und die halbnackt und mit Handschellen gefesselt auf dem Boden knien müssen. Die Demütigung der Armee ist perfekt.

Verschwörungstheorien machen die Runde – nicht nur im Teegarten von Moda. Einige der angeblichen Putschsoldaten seien in Wirklichkeit Erdogan-treue Polizeibeamte gewesen, die in Militäruniformen gesteckt worden seien, berichten Oppositionelle. Einige Beobachter weisen darauf hin, dass Erdogan wegen anhaltender Korruptionsvorwürfe gegen seine Familie ganz persönliche Gründe für eine erneute Säuberungswelle in der Justiz habe.

Zudem kommt Erdogans Projekt der Errichtung eines Präsidialsystems in der Türkei nicht so recht von der Stelle. Hat der Staatschef vielleicht ein wenig nachgeholfen, um seine Beliebtheit bei den Wählern zu steigern?

Da ist etwas dran, sagt der Kurdenpolitiker Ertugrul Kürkcü. Die halbgare Aktion der Soldaten vom Freitag sei keineswegs ein ausgewachsener Putsch gewesen, sondern eher ein Aufstand einer Gruppe unzufriedener Militärs, der jetzt von Erdogan und seiner Regierungspartei AKP zum Staatsstreich erhoben und instrumentalisiert werde. „Die Niederschlagung des Aufstands wird gezielt als Hebel benutzt, um Gegner auszuschalten und Erdogans Ein-Mann-Plan voranzubringen“, sagt Kürkcü.

Ob Inszenierung oder nicht: Fehmi Koru, ein prominenter Journalist und Vordenker des politischen Islam in der Türkei, der lange zu Erdogans Anhängern zählte, inzwischen aber zu den vielen Erdogan-Skeptikern im Land zählt, ist sicher, dass der Präsident alles daransetzen wird, um die Gülen-Bewegung zu zerschlagen. „Dieser ‚Putsch‘ wird sich zum Schlag gegen Gülen und dessen Anhänger wandeln“, schreibt Koru auf seiner Internetseite.

Die Stimme schallt aus den Teestuben: Im Radio werden die Namen der Putschisten verlesen

Ein Geschenk Gottes nannte Präsident Recep Tayyip Erdogan den Putschversuch.
Stärker denn je. Ein Geschenk Gottes nannte Präsident Recep Tayyip Erdogan den Putschversuch. Da war der Aufstand gerade erst niedergeschlagen worden.
© Yagiz Karahan/Reuters

Erdogan sieht das ganz anders. „Wir sind nicht rachsüchtig“, sagt er in seiner Rede in der Fatih-Moschee. Ruhig und mit Augenmaß werde gegen die Feinde des Staates bei der Gülen-Bewegung vorgegangen. Der Putschversuch der Soldaten hat Erdogan in jene Position gebracht, in der er sich am wohlsten fühlt: Es ist die Rolle des Opfers, des aufrechten Mannes aus dem Volk, der sich mit finsteren Kräften herumschlagen muss.

Zu Beginn seiner Karriere sah sich Erdogan – mit einigem Recht – dem Druck der säkularistischen Eliten ausgesetzt. Ende der 90er Jahre saß der heutige Präsident im Gefängnis und wurde mit einem politischen Betätigungsverbot belegt. Erdogan stand vor dem Aus. Nicht einmal Dorfvorsteher könne er noch werden, höhnten seine Kritiker damals.

Doch auch heute sieht sich Erdogan als Opfer ungerechtfertigter Angriffe. Mal sind es die Kurden, mal sind es die USA, mal ist es Israel, mal ist es das westliche Ausland allgemein. Ein Erdogan-Berater behauptete einmal, ausländische Kräfte wollten seinen Chef per Gedankenübertragung töten. Ein anderer beschuldigte Deutschland, die Gezi-Proteste von 2013 angezettelt zu haben. Berlin wolle verhindern, dass der geplante Großflughafen in Istanbul dem Frankfurter Airport den Rang ablaufe.

Seit drei Jahren spielt Gülen die Rolle des Buhmanns

Seit drei Jahren spielt Gülen die Rolle des Buhmanns – dabei vermischen sich Tatsachen und Einbildung. Der Putsch erinnere aus Erdogans Sicht an ein Apercu des Schriftstellers Joseph Heller, schreibt der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat auf Twitter: „Dass man paranoid ist, bedeutet nicht, dass sie nicht hinter einem her sind.“

Diese Weltsicht macht es für Erdogan schwer, nach dem überstandenen Putschversuch auf seine Gegner zuzugehen. Die türkische Gesellschaft bleibe gespalten, schreibt Hugh Pope von der Denkfabrik International Crisis Group im US-Magazin „Politico“. Niemand im Land könne sich wirklich als Sieger bezeichnen. Auch wenn es derzeit so aussehe, als habe Erdogan wieder einmal triumphiert, werde sich zeigen, dass es ein „Phyrrus-Sieg“ gewesen sei: Nach wie vor traue eine Hälfte des Landes dem Präsidenten nicht über den Weg und sorge sich wegen der fortschreitenden Übernahme des ganzen Staates durch Erdogan und die AKP.

Es ist eine lange Liste: 38 Namen

Eine tiefe strenge Männerstimme schallt am Sonntag aus den Teestuben Istanbuls, aus den Taxis und den offenen Küchenfenstern. Im Radio verliest ein Sprecher die Namen der verhafteten mutmaßlichen Putschführer. Es ist eine lange Liste: sieben Generäle, 31 Oberste. Der Kommandeur der Zweiten Armee, Adem Huduti, soll sie angeführt haben.

Selin glaubt der Stimme kein Wort. Die Familie der jungen Frau kommt aus Sinop, einer Halbinsel am Schwarzen Meer. Die dortige Gouverneurin, eine der ganz wenigen Frauen in dieser Position, ist gleich nach dem Putsch entlassen worden. „Da gibt es keinen Zusammenhang mit der Armee“, sagt Selin empört. Jetzt tausche der Präsident eben alle aus, die nicht auf seiner Linie seien. „Die Menschen sind beim Putsch für Erdogan gestorben, nicht für die Demokratie.“

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