Straßenkämpfe halten offenbar an: Ukrainischer Gouverneur spricht von „Panzerschlachten“ in Mariupol
Russland hat für die Hafenstadt Mariupol eine Feuerpause angekündigt. Nach ukrainischen Angaben gehen die Kämpfe aber weiter.
Im seit Wochen von der russischen Armee belagerten Mariupol halten die Straßenkämpfe nach Angaben der ukrainischen Behörden weiter an. "In Mariupol wird gekämpft", sagte der ukrainische Gouverneur der Region Donezk, Pawlo Kyrylenko, am Dienstag im US-Sender CNN. "Es finden Straßenkämpfe statt, und dies nicht nur mit Kleinwaffen, sondern es gibt auch Panzerschlachten auf den Straßen der Stadt."
Stadtviertel, in denen viele ukrainische Kämpfer seien, stünden unter "schwerem Beschuss, doch die Verteidigung hält stand", sagte Kyrylenko. "In einigen Stadtteilen gehen die Straßenkämpfe weiter." Man könne "nicht sagen", dass diese von der russischen Armee kontrolliert würden. Die Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht verifiziert werden.
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Die russischen Streitkräfte hingegen hatten in Mariupol am Dienstag eine einseitige Feuerpause verkündet. Zugleich öffneten sie nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau einen „humanitären Korridor“ für ukrainische Kämpfer, die sich dort im Stahlwerk Asovtal verschanzt haben. Generaloberst Michail Misinzew appellierte an die Kämpfer, sich freiwillig in russische Gefangenschaft zu begeben. Die Ukrainer lehnen dies bislang strikt ab.
„Ich möchte besonders betonen, dass die russische Führung allen, die ihre Waffen niederlegen, das Leben, die völlige Sicherheit und medizinische Versorgung garantiert“, sagte der Generaloberst. Die ukrainischen Einheiten bekräftigten allerdings im Nachrichtenkanal Telegram mit, dass sie die Waffen nicht niederlegen, sondern weiter für die Verteidigung der Stadt kämpfen würden.
Zuvor hatte Russland hat wegen der „katastrophalen Lage“ in der umkämpften Stadt Mariupol den im Stahlwerk Asowstal eingeschlossenen ukrainischen Kämpfern ein weiteres Ultimatum gestellt.
Die nationalistischen Kämpfer und ausländischen Söldner hätten mit Beginn 12.00 Uhr (11.00 Uhr MESZ) die Gelegenheit, die Gefechte einzustellen und ihre Waffen niederzulegen. Dann werde ihr Leben gerettet, hieß es. Zuvor hatten prorussische Separatisten mitgeteilt, dass die Erstürmung des Werks mit russischer Hilfe begonnen habe.
Die Ukraine hatte kritisiert, dass Russland Bitten ausgeschlagen habe, dort einen humanitären Korridor einzurichten, damit sich Zivilisten, die in dem Stahlwerk Zuflucht gesucht hatten, in Sicherheit bringen können. Das russische Verteidigungsministerium wies Berichte zurück, dass es dort Frauen, Kinder und andere Zivilisten gebe. Wenig später teilte die Behörde in Moskau mit, aus „rein humanen Prinzipien“ noch eine Chance zur Kapitulation zu geben.
Die Regierung in Kiew wurde aufgerufen, „Vernunft walten zu lassen und den Kämpfern entsprechende Anweisungen zu geben, diese sinnlose Konfrontation zu beenden“. Wenn der Befehl aus Kiew ausbleibe, sollten die Soldaten und Söldner von sich aus aufgeben. Wie andere Kämpfer in Mariupol, die aufgegeben hätten, sollten sie sich in russische Gefangenschaft begeben, hieß es.
Demnach sollte von 13.00 Uhr (12.00 Uhr MESZ) an eine Standleitung für die Kommunikation zwischen der russischen und ukrainischen Seite eingerichtet werden. Danach sollte eine Feuerpause von beiden Seiten in Kraft treten. Dazu sollten von ukrainischer Seite an dem Stahlwerk weiße Flaggen angebracht werden. Von 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr (13.00 Uhr bis 15.00 Uhr MESZ) hätten die Kämpfer und Söldner Zeit, das Werk ohne Waffen zu verlassen.
Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, kündigte die Eroberung des umkämpften Stahlwerks noch für den Tagesverlauf an. Heute werde Asowstal vollständig eingenommen, sagt der Vertraute des russischen Präsidenten Wladimir Putin in einer Audio-Nachricht auf der Plattform Telegram.
Nach rund 50 Tagen Belagerung durch russische Truppen gilt Mariupol als das „Herz des Krieges“ in der Ukraine. Wenn Mariupol fällt, dann fällt die Ukraine, warnen seit Wochen die ukrainischen Kämpfer, die sich nun in dem Stahlwerk verschanzt haben - für die wohl letzte und entscheidende Schlacht.
Rund 2500 Kämpfer haben sich in dem für die Region symbolträchtigen Betrieb zurückgezogen, darunter 400 Söldner, wie das russische Verteidigungsministerium mitteilt. Nach ukrainischen Medienberichten sollen dort aber auch 1000 Zivilisten, darunter viele Kinder, Zuflucht gesucht haben.
Der Bürgermeister der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat zudem erklärt, dass etwa 40.000 Zivilisten nach Russland oder in russisch kontrollierte Regionen der Ukraine zwangsumgesiedelt worden seien. Dies habe man anhand des kommunalen Registers festgestellt, sagt Wadym Boitschenko. Noch seien mehr als 100.000 Zivilisten in Mariupol.
Ein erstes russisches Ultimatum, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben, hatten die ukrainischen Kämpfer bereits verstreichen lassen. Sie räumten am Montag ein, die russischen Soldaten seien deutlich in der Überzahl. Trotzdem werde um die Stadt weiter gekämpft. In Moskau drohte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, derweil damit, dass jeder vernichtet werde, der Gegenwehr leiste.
Schon seit Wochen haben die ukrainischen Soldaten auf Hilfe aus Kiew gesetzt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versichert zwar immer wieder, alles dafür zu tun, um einen Fall von Mariupol zu verhindern. Aber die Kämpfer fordern mehr Einsatz.
Selenskyj fordert daher vom Westen schleunigst schwere Waffen. Und er droht Russland, sollten die Menschen in dem eingekesselten Werk Asovstal sterben, dann bedeute das auch das Ende der Verhandlungen für eine Beendigung des Krieges.
Ukraine bittet um Fluchtkorridor für Zivilisten in Mariupol
Der ukrainische Geheimdienst SBU ließ nun sogar den inhaftierten russlandfreundlichen Abgeordneten Viktor Medwedtschuk per Video um das Leben der Menschen in dem Werk bitten.
Medwedtschuk, der beste Kontakte in den Kreml in Moskau hat, appellierte an den russischen Präsidenten Wladimir Putin und an Selenskyj, sie mögen ihn eintauschen gegen die Kämpfer bei Asowstal. Und auch die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk bat eindringlich, Russland möge für Frauen und Kinder sowie andere Zivilisten in dem Werk einen humanitären Korridor einrichten, um deren Leben zu retten.
Schon jetzt beklagen die Behörden Zehntausende Tote in der weitgehend zerstörten Großstadt. Mariupol ist der letzte Punkt an der Küste des Asowschen Meeres, der noch nicht komplett von den russischen Kräften kontrolliert wird.
Sollten die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek formal eigenständig bleiben, dann hätten sie mit Mariupol den Zugang zu den Weltmeeren. Sie könnten über den gut ausgebauten größten Hafen am Asowschen Meer ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg selbst exportieren.
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Viel diskutiert wird auch der Landweg von Mariupol zu der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. Die Straßenverbindungen dürften jedoch wegen ihres schlechten Zustands für Russland kaum von Interesse sein. Als wichtig auch im militärischen Sinne gelten vielmehr die weiter nördlich verlaufenden Eisenbahnverbindungen über das kürzlich von den russischen Truppen eroberte Wolnowacha in Richtung des bereits seit Ende Februar von Russland kontrollierten Melitopol und von dort zur Krim.
Vor dem Krieg stellte die nach der Separatistenhochburg Donezk zweitgrößte Stadt des Gebietes einen großen Teil des ukrainischen Exports. „Die Werke von Mariupol tragen zu mehr als einem Drittel der Stahlproduktion der Ukraine bei“, sagte der Generaldirektor des Konzerns Metinvest, Jurij Ryschenkow, Ende März. Allein durch die Zerstörungen dürfte der Verlust dieses Devisenbringers sich negativ auf den Kurs der Landeswährung Hrywnja und damit auf das allgemeine Wohlstandsniveau der Ukraine nach dem Krieg auswirken.
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Mariupol hat aber vor allem auch für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment „Asow“ eine große symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von Separatisten kontrollierte Hafenstadt.
Mittlerweile aber hat „Asow“ bereits seine Basis bei der benachbarten Hafenstadt Berdjansk verloren. Sollte Mariupol nun auch noch fallen, wäre das die Niederlage des Kerns der von den russischen Truppen mit besonderer Härte bekämpften Einheit. Russland dürfte das als einen großen Teilsieg in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine feiern.
Ukrainischer Widerstand in Mariupol bindet russische Soldaten
Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen die russische Invasion sorgt bisher dafür, dass nach ukrainischen Angaben eine russische Gruppierung von etwa 14.000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden ist. Mit dem Fall der Hafenstadt würden diese frei werden. Die russischen Soldaten könnten für die seit langem erwartete russische Offensive in Richtung Slowjansk und Kramatorsk das entscheidende Übergewicht bringen.
Der Donezker Separatistenchef Denis Puschilin verspricht unterdessen bereits den Wiederaufbau der Stadt. „Wir sind hier für immer. Russland ist hier für immer“, meint der 40-Jährige bei einem Auftritt am östlichen eroberten Stadtrand vor dort verbliebenen Einwohnern.
Das aktuell von ukrainischen Soldaten gehaltene Stahlwerk Asovstal aber hält er für nicht erhaltenswert - wegen der Luftverschmutzung. „Asovstal gestattete es der Stadt nicht, zu einem Erholungsort zu werden“, meint Puschilin. In der nahezu komplett zerstörten Stadt, in der vor dem Krieg knapp 440.000 Menschen lebten, soll schon bald wieder der Alltag regieren. Wie das gehen soll, erklärte der Donezker Seperatistenchef nicht. (dpa, Reuters)