Neuanfang zwischen Liberalen und Grünen: Über das Ende von Feindbildern
FDP und Grüne entdecken gerade fasziniert, wie sie sich ergänzen. Die Klientel hat ohnehin viele Gemeinsamkeiten. Ein Kommentar.
Was ist bloß passiert? In das Selfie der vier ökoliberalen Sondierer wurde viel hinein geheimnist. Vier zufriedene Gesichter, mit sich und der Welt im Reinen, einander herzlich zugewandt. Annalena Baerbock und Robert Habeck von den Grünen, Christian Lindner und Volker Wissing von der FDP. Vor allem fiel auf, wie sehr sie sich ähneln. Auch jetzt wieder, da sie flugs in Richtung Ampel schreiten wollen.
Mit ziemlicher Sicherheit werden beide Parteien der neuen Bundesregierung angehören. Das verpflichtet. Oder ist es mehr? Unter Erstwählern sind FDP und Grüne am beliebtesten. Das deute auf eine Spaltung der Jugend hin, heißt es.
Dabei ist es anders: Die Jugendlichen haben schnell verstanden, dass die Ergänzungspotenziale von Liberalen und Grünen größer sind als die Abgrenzungshürden.
Vorbei ist längst die Zeit, als ein Cem Özdemir, damals Grünen-Chef, seinen Anhängern zurief, mit den Liberalen gehe gar nichts, weder im Land noch im Bund. Die „genetischen Unterschiede“ seien einfach zu groß. Das war vor elf Jahren. Die Gene als Metapher für einen unveränderbaren Identitätskern. Zum Atomausstieg sagte Özdemir, der sei für die Grünen unverhandelbar. „Das ist quasi genetisch bedingt.“
Eine Liaison schien vor Jahren noch ausgeschlossen
Für die Grünen waren die Liberalen anzugtragende Ehrgeizlinge, moralisch charakterlos, technikbesessen, innovationsgläubig. Für die Liberalen waren die Grünen vollbarttragende Naivlinge, hypermoralisch, Bäume umarmend, apokalyptisch. Dass aus einer Liaison dieser Parteien jemals etwas Gutes entstehen könnte, schien ausgeschlossen.
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Das Selfie und der gemeinsame Gang zu Ampel-Gesprächen schärfen nun den Blick für Gemeinsamkeiten. Die Klientel etwa, um das Grüne und FDP werben, weist in sozialer Hinsicht viele Schnittmengen auf. Sie ist wohlhabend, akademisch, städtisch, bürgerlich, global orientiert, in kultureller Hinsicht modern – für die „Ehe für alle“, die Legalisierung von Haschisch, ein Wahlrecht mit 16 Jahren.
Lediglich im Bereich der Biomedizin, Stichwort Stammzellforschung, und der Sterbehilfe knirscht es ein wenig zwischen den religiös affinen Grünen und den eher agnostisch gesinnten Liberalen.
Seit langem schließlich wechseln sich Grüne und FDP beim Tragen des Titels ab, die „Partei der Besserverdienenden“ zu sein. Zurzeit liegen die Liberalen knapp vorn. Beide Parteien werden von gut versorgten Postmaterialisten gewählt, die sich teure Bioprodukte, Kerosinpreisaufschläge, Benzinpreiserhöhungen, höhere Strompreise und höhere Parkgebühren in Innenstädten leisten können.
Die Grünen haben gelernt, dass ohne Technik und Innovation kein Klimaschutz möglich ist, siehe Tesla, Photovoltaik, Windkraft. Die Liberalen haben gelernt, dass Klimaschutz wachstumsfördernd sein kann, siehe Glühbirnen, Kühlschränke, E-Autos und vieles mehr, was aus ökologischen Gründen ständig neu gekauft oder umgerüstet werden muss.
In der pragmatischen, entideologisierten Betrachtung der Probleme wirken Grüne und Liberale wie Zwillinge, die bei ihrer Geburt getrennt wurden und jetzt, nach einer langen Phase der Adoleszenz, zueinander finden. Fürs Soziale und die Gerechtigkeit wäre in einer Ampel ja zum Glück die SPD noch da.