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Truppenaufmarsch an der syrischen Grenze: Die Türkei will nun massiv gegen den IS vorgehen.
© Deniz Toprak/dpa

Kampf gegen den "Islamischen Staat": Türkische Kehrtwende

Lange Zeit ließ die Türkei den "Islamischen Staat" gewähren. Jetzt greift Ankara aktiv in den Kampf gegen die Miliz ein. Die Taktik des Stillhaltens hat keinen Schutz vor Terror gebracht.

Kampfjets greifen gezielt Stellungen der Dschihadisten auf der syrischen Seite der Grenze an. Die Regierung in Ankara gibt den USA nach langem Zögern die Erlaubnis, die Luftwaffenbasis Incirlik für Schläge gegen die Extremisten zu nutzen. Fast über Nacht hat sich die Syrien-Politik der Türkei grundlegend gewandelt: Nun wird der "Islamische Staat" als Bedrohung bekämpft.

Welche Taktik verfolgte die Türkei bislang?

Lange sträubte sich Ankara dagegen, am militärischen Kampf gegen die Terrormiliz teilzunehmen. In den ersten Jahren des syrischen Bürgerkrieges hatte die türkische Regierung gehofft, Extremistengruppen wie der IS könnten den Sturz des verhassten syrischen Staatschefs Baschar al Assad beschleunigen. Der Verdacht steht im Raum, dass die Türkei diese Gruppen sogar unter der Hand unterstützte. Dass sich die Türkei als direkte Nachbarin Syriens und des IS-"Kalifats" aus der Kampagne gegen die Dschihadisten heraushielt, verärgerte die westlichen Verbündeten. Ankara konterte diese Kritik unter anderem mit der Sorge vor Vergeltungsschlägen der Extremisten auf türkischem Boden.

Warum vollzieht Ankara die politische Kehrtwende gerade jetzt?

Das hat in erster Linie mit dem verheerenden Anschlag von Suruc zu tun. 32 Menschen wurden am Montag durch einen Selbstmordattentäter getötet. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu macht dafür den "Islamischen Staat" verantwortlich. Wenn das stimmt, hat dieTerrormiliz damit gezeigt, dass sie ungeachtet der Haltung Ankaras auf türkischem Territorium zuschlägt, wenn sie es für geboten hält. In Suruc wollten die Extremisten ein blutiges Signal an die Kurden senden, die im Norden Syriens erfolgreich gegen die Dschihadisten kämpfen und dem IS in Kobane eine schmerzliche Niederlage beigebracht hatten

Das zeigt: Mit der Stillhalte-Politik kann sich die Türkei keinen Schutz vor Terror erkaufen. Ab sofort setzt die Regierung darauf, den "Islamischen Staat" mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Dazu gehört die Befestigung der 900 Kilometer langen Grenze zu Syrien. Nach offiziellen Angaben wird an sicherheitsrelevanten Punkten eine Mauer errichtet. Diese könne je nach Bedarf an anderer Stelle wiederaufgebaut werden. Die Streitkräfte sollen zudem einen 365 Kilometer langen Graben ausheben. Und: 90 Prozent aller Aufklärungsflugzeuge und Drohnen wurden mittlerweile in den Süden des Landes verlegt.

Was bedeutet das für den Kampf gegen die Islamisten?

Die westliche Allianz gegen den IS gewinnt einen wichtigen Bundesgenossen. Wie die USA zielt nun auch die Türkei auf eine effiziente Schwächung der "Gotteskrieger". Der Kampf gegen das "Kalifat" wird intensiviert, der Druck auf den IS zunehmen. Das sieht Soli Özel ebenfalls so. "Mit den direkten Angriffen auf IS-Stellungen macht Ankara deutlich, dass man die sunnitischen Islamisten jetzt als große Bedrohung für die Sicherheit des Landes betrachtet", sagt der Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität und derzeit Fellow der Robert-Bosch-Akademie in Berlin

Präsident Recep Tayyip Erdogan stimmt sein Volk sogar auf einen längeren Kampf ein. Die Luftangriffe seien ein "erster Schritt" gewesen, sagte der Staatschef. Weitere würden folgen. Das gelte auch für kurdische oder linke Extremisten. Alle militanten Gruppen müssten ihre Waffen niederlegen oder mit Konsequenzen rechnen. Und Premier Davutoglu ergänzte, man werde auch auf die kleinste bedrohliche Bewegung "aufs Härteste" reagieren.

Kommt der Schritt zu spät?

Die Erkenntnis, dass Passivität gegenüber dem IS eine schlechte Option ist, hat sich in Ankara sehr spät durchgesetzt, vielleicht zu spät. Die Dschihadisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur in Syrien und im Irak ausbreiten können. Längst hat der IS auch in der Türkei Schläferzellen gebildet – mit Massenfestnahmen wie am Freitag ist das Problem nicht zu lösen. Außerdem hat es die türkische Regierung versäumt, eine konstruktive Position gegenüber den Autonomiebestrebungen der Kurden in Nord-Syrien zu entwickeln.

Nach wie vor stellt Ankara den IS und die türkischen sowie syrischen Kurdenrebellen als Terrorgruppen auf eine Stufe. Der innertürkische Kurdenkonflikt verschärft sich wieder. Wegen der Befürchtung, die Kurden könnten in Syrien einen eigenen Staat bilden, gibt es bisher keinen ernsthaften Versuch der Türkei, gemeinsam mit den syrischen Kurden gegen den IS vorzugehen. Diese Fehlkalkulation rächt sich: Inzwischen beginnen kurdische Extremisten in der Türkei mit blutiger Selbstjustiz gegen mutmaßliche IS-Sympathisanten, was die Gefahr einer weiteren Eskalation birgt.

Was erhofft sich Ankara von der Neuausrichtung seiner IS-Politik?

Die türkische Regierung versucht nun die Flucht nach vorne. Wenn der "Islamische Staat" in eine Dauer-Defensive gedrängt und nachhaltig geschwächt wird, sinkt die Terrorgefahr im Land, und die türkisch-kurdischen Spannungen können abgebaut werden. Doch die sunnitischen Terroristen dürften jetzt erst recht versuchen, den Krieg auf türkisches Gebiet zu tragen. Der Syrien-Konflikt ist in der Türkei angekommen.

Inwiefern betreffen die aktuellen Kämpfe auch die deutschen Patriot-Stellungen?

Fast überhaupt nicht. Das deutsche Luftabwehrkontingent ist nahe der Stadt Kahramanmaras im Hinterland stationiert. Der Ort liegt gut 100 Kilometer Luftlinie von der syrischen Grenze und dem Einflussgebiet des IS entfernt und rund 170 Straßenkilometer vom grenznahen Attentatsort Suruc. In der militärischen Auseinandersetzung spielen die Abwehrsysteme keine Rolle.

Der IS verfügt zwar inzwischen über schwere Waffen vor allem aus eroberten irakischen Arsenalen. Aber dazu gehören keine weitreichenden Raketen, für deren Abwehr die Patriot ausgelegt sind. Ihre Stationierung richtet sich gegen die syrische Regierungsarmee, die solche Waffen besitzt. Sicherheitshalber befolgen die deutschen Soldaten allerdings seit dem Anschlag einige Ausgehregeln für Krisengebiete. Dazu gehört beispielsweise, die Kaserne möglichst nicht zu verlassen und wenn, dann in Zivilfahrzeugen.

Die Türkei ist Nato-Mitglied. Droht womöglich der Bündnisfall?

Theoretisch wäre das denkbar. Die Führung in Ankara könnte sich auf den Präzedenzfall 9/11 berufen – die Anschläge auf das World Trade Center in New York wertete die Nato trotz mancher Bedenken als Angriff im Sinne von Artikel 5 Nordatlantikvertrag. Aber es gibt keine Anzeichen, dass die Türkei ihre Partner zu Hilfe rufen will. Ohnehin wäre fraglich, was sie davon hätte. Der Bündnisfall löst keine automatische Waffenbrüderschaft aus; er verpflichtet die anderen Nato-Mitglieder lediglich, nicht näher bestimmte "Maßnahmen" zu ergreifen, die sie für erforderlich halten, um "die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets" zu garantieren.

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