Ex-"Cumhuriyet"-Chef Can Dündar: "Türkei steuert auf ein Gestapo-Regime zu"
Der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, spricht im Interview über Erdogans Vorgehen gegen Kritiker, die Zukunft der Türkei und die Fehler Europas.
Nach den Festnahmen bei der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ wurden in der vergangenen Woche nun auch mehrere Politiker der prokurdischen HDP festgenommen. Was passiert gerade in der Türkei?
Das ist ein Putsch, der dort gerade stattfindet. Erdogans Putsch. Wie schon beim Putschversuch am 15. Juli wurde das türkische Parlament erneut bombardiert – dieses Mal allerdings durch Erdogans Haftbefehle. Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Vorfall im Juli und dem, was gerade stattfindet. Es sind weitere Maßnahmen, um das Land in einen Ein-Mann-Staat zu verwandeln.
Überrascht es Sie überhaupt noch, was gerade in der Türkei passiert?
Nein, denn wir wissen ja: Erdogan sieht sich als Staatschef, der auf dem Weg zu einem totalitären Regime keine kritischen Stimmen zulassen wird. Dass er sich auf die "Cumhuriyet" als eine der wichtigsten Widerstands-Bastionen stürzen würde, war uns klar. Wir haben uns darauf eingestellt und sehen ja, dass trotz der verhafteten Journalisten, die Zeitung "Cumhuriyet" weiter erscheint. Offene Stellen haben wir mit neuen Journalisten besetzt.
Können Sie sich erklären, wie es soweit kommen konnte?
Wir sind schon sehr lange über die Lage in der Türkei und vor allem über die Arbeitsbedingungen von Journalisten besorgt. Trotzdem ist es uns leider nicht gelungen, eine demokratische Front gegen die Regierung zu bilden. Wir haben es auch nicht geschafft, Europa unsere dramatische Lage zu erklären.
Den festgenommenen und inzwischen auch zum Teil in U-Haft sitzenden Journalisten der "Cumhuriyet" wird die Unterstützung der Gülen-Bewegung und der verbotenen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. Was sagen Sie dazu?
Die "Cumhuriyet" hat in den vergangenen 40 Jahren immer wieder kritisch über die Bewegung von Fethullah Gülen berichtet. Als wir auf die Gefahren hinwiesen, stand Erdogan noch Seite an Seite mit der Bewegung. Wenn wir von Fethullah Gülens größtem Unterstützer reden, dann ist das Recep Tayyip Erdogan.
Wie viel regierungskritische Presse gibt es überhaupt noch?
Nicht mehr als zwei bis drei Zeitungen und einen TV-Sender. Die werden jetzt das nächste Ziel der Regierung sein.
Das harte Vorgehen gegen die "Cumhuriyet" überrascht aber dahingehend, dass sie bisher von der AKP-Regierung gerne als Beispiel benutzt wurde, um auf die freie Presse in der Türkei hinzuweisen.
Erdogan hat wohl keinen Grund mehr, die Welt überzeugen zu müssen. Er glaubt, dass er genügend Rückhalt in Europa bekommen hat, sodass er sich vor niemanden mehr erklären muss.
Wohin steuert die Türkei gerade?
Ich will es so ausdrücken, dass jeder Deutsche es versteht: Die Türkei steuert gerade auf ein Gestapo-Regime zu. Morgens werden Häuser von Andersdenkenden, Intellektuellen und Politikern gestürmt, ohne dass das türkische Parlament eingebunden wird. Wissenschaftler werden aus Universitäten verbannt, Künstler verhaftet. Ihnen wird immer derselbe Vorwurf gemacht, am Ende ist es nur noch eine Hexenjagd. Das deutsche Volk muss nur in seiner eigenen Geschichte blättern, um zu verstehen, wohin die Türkei gerade steuert.
Könnten auch Mitglieder der Oppositionspartei CHP ins Visier der Staatsanwälte geraten?
Natürlich. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein unterdrückendes Regime jegliche Opposition ausschalten möchte. Es könnten auch Festnahmen innerhalb der AKP geben, sobald sich da jemand nicht mehr hinter die Regierung stellt. Vielleicht wird es ein ehemaliger Minister, vielleicht ein Staatspräsident.
Staatspräsident Erdogan will die Todesstrafe zulassen, wenn das Parlament dies bewilligt. Was steckt hinter dem Vorhaben?
Jedes autoritäre Regime träumt von der Todesstrafe. Es geht darum, Angst zu verbreiten. Erdogan nimmt jetzt keine Rücksicht mehr auf die EU, mit der Todesstrafe will er seine autoritäre Stellung festigen.
Glauben Sie, dass das Parlament für die Todesstrafe stimmen wird?
Die Massen werden derzeit darauf eingestimmt. Wenn die im Parlament vertretene MHP das Vorhaben auch noch unterstützt, könnte die Todesstrafe tatsächlich wiederkommen. Wundern würde es mich nicht mehr.
Die Einführung der Todesstrafe würde das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bedeuten. Will die türkische Regierung das wirklich?
Wir haben von Anfang an gesagt, dass sich Erdogan nicht um die EU schert. Er wollte nie Mitglied dieser Familie werden. Dennoch stand traurigerweise die Europäische Union bisher auf der falschen Seite. In Europa hat sich kein Leader ernsthaft hinter die Front der demokratischen Kräfte in der Türkei gestellt, niemand hat das Vorgehen dieses unterdrückenden Regimes verurteilt. Damit sind gleichzeitig auch die Träume vieler Türken zunichtegemacht worden, die sich wirklich viel von den EU-Beitrittsverhandlungen erhofft hatten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Vorgehen gegen die „Cumhuriyet“ als alarmierend bezeichnet. Wie viel können Sie damit anfangen?
Ich bedanke mich sehr dafür, aber leider ist das Haus bereits abgebrannt. Hätte man beim ersten Funken schon , Alarm‘ geschlagen, hätte es für die Feuerwehr noch gereicht. Was bringt es jetzt noch von ,alarmierend‘ zu sprechen, wenn das Haus nur noch Asche ist? Wir haben Monate lange auf diese Reaktion der Bundeskanzlerin gewartet. Ich schrieb der Bundesregierung sogar einen Brief. Das war vor einem Jahr, als ich in der Türkei inhaftiert war.
Politiker fürchten, dass öffentlich Kritik an der Türkei das Flüchtlingsabkommen in Gefahr bringen wird. Wie sehen Sie das?
Ob das Flüchtlingsabkommen im Müll landet oder die EU sich weiter auf die Seite von Erdogan stellt, das spielt jetzt für mich keine Rolle mehr. Mir geht es nur noch darum, mein Land vom Faschismus zu befreien. Dafür werde ich bis zum Ende weiterkämpfen. Wenn sich Europa dabei uns in den Weg stellt, dann werden wir uns auch gegen Europa wenden müssen. Wir haben keine andere Wahl.
Herr Dündar, Sie werden am Montag Bundespräsident Joachim Gauck im Schloss Bellevue treffen. Was werden Sie ihm sagen?
Ich habe eine Einladung erhalten und komme dieser gerne nach. Ich werde auch Herrn Gauck erklären, in welcher Gefahr die Pressefreiheit und die Demokratie in der Türkei ist. Ich kann nur hoffen, dass auch er mir etwas zu sagen haben wird.
Can Dündar (55) ist Ex-Chefredakteur der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. Im Mai wurde er wegen Spionage zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Im Juli floh er ins Ausland.
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