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© Karikatur: Klaus Stuttmann
Update

Im Ausnahmezustand wegen IS und PKK: Türkei beantragt Nato-Treffen - weitere Luftangriffe im Nordirak

Die Türkei geht immer massiver gegen den "IS" und die verbotene PKK vor. Kritiker vermuten, dass die Regierung bewusst auf Instabilität setzt – um Neuwahlen zu erzwingen. Am Dienstag will die Nato auf Antrag der Türkei beraten.

Die Reaktion der Regierung auf die Gewaltaktionen des "Islamischen Staates" (IS) im Grenzgebiet zu Syrien und auf neue Anschläge der PKK-Kurdenrebellen haben die Türkei in eine schwere Krise gestürzt. Die PKK erklärte den seit 2013 geltenden Waffenstillstand für beendet. Türkische Luftangriffe auf den IS in Syrien und auf die PKK im Nordirak, groß angelegte Festnahmewellen im Land selbst sowie Einschränkungen des Internetverkehrs – Kritiker sprechen schon von einem De-facto-Ausnahmezustand.

In der Türkei herrsche offener Kriegszustand, schrieb der Journalist Yavuz Baydar auf Twitter. Der regierungskritische islamische Theologe Ihsan Eliacik kommentierte, die Situation erinnere ihn an den letzten Putsch: "Luftangriffe in den Bergen, Polizeiaktionen in den Städten, Razzien und Festnahmen – der Knüppel ist der gleiche, nur die Hand, die ihn schwingt, ist eine andere." Regierungsanhänger forderten dagegen in sozialen Netzwerken die offizielle Verhängung des Kriegsrechts in Südostanatolien.

Laut Medienberichten griffen türkische Kampfjets seit Freitag in insgesamt 159 Einsätzen rund 400 Ziele des IS und der PKK an. Auch am Sonntagabend starteten Jets von ihrer Basis in Diyarbakir und flogen in Richtung der Kandil-Berge, wo die kurdischen Rebellen mehrere Stellungen unterhalten. Damit reagierte Ankara auf den vermutlich von Dschihadisten verübten Anschlag von Suruc, bei dem mehr als 30 Menschen starben. Aber auch auf Racheakte der verbotenen Kurdenpartei, die dem türkischen Staat eine Mitverantwortung für das Massaker zuweist und mindestens vier Sicherheitskräfte getötet hat. Die Polizei nahm am Wochenende 600 Menschen als mutmaßliche Extremisten fest, darunter viele Kurden.

"Kampf bis zum Ende"

Die Behörden sperrten ebenfalls den Zugang zu einigen linksgerichteten und kurdischen Internetseiten und verboten einen Protestmarsch in Istanbul. Mehrere Proteste von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Bei besonders heftigen Zusammenstößen mit Demonstranten im Istanbul wurde am Sonntag ein Polizist getötet, wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas gegen rund 1000 Demonstranten vor. Die regierungsnahe Zeitung "Takvim" meldete, die Staatsspitze sei entschlossen, den Kampf gegen den IS und die PKK "bis zum Ende" fortzusetzen.

Sondertreffen der 28-Nato-Mitgliedsstaaten am Dienstag

Auf Antrag der Türkei kommen am Dienstag die Botschafter der 28 Nato-Mitgliedstaaten zu Beratungen über die zunehmenden Spannungen Ankaras mit kurdischen Rebellen und der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) zusammen. Die Türkei habe das Treffen wegen der "ernsten Lage nach den abscheulichen terroristischen Anschlägen der letzten Tage und zur Information der Verbündeten über ihre Gegenmaßnahmen" einberufen, teilte das Militärbündnis am Sonntag mit. Die Nato-Verbündeten verfolgten die Entwicklungen genau und seien solidarisch mit der Türkei. Ankara beruft sich auf Artikel 4 des Nato-Vertrags, der es den Mitgliedern ermöglicht, Beratungen einzuberufen, wenn von einer "Bedrohung für die territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit" ausgegangen wird.

Kritiker werfen der Regierung vor, Neuwahlen erzwingen zu wollen

Kritiker vermuten, dass es Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht nur um die Verteidigung des Staates geht. Beide setzen demnach alles daran, ihrer Regierungspartei AKP einen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Dreh- und Angelpunkt dieser Haltung ist die Aussicht – manche sagen: die Hoffnung der AKP – auf vorgezogene Neuwahlen im November, falls die derzeitige Suche nach einer neuen Koalition erfolglos bleibt.

Die Opposition sagt Erdogan nach, er wolle einen neuen Urnengang erzwingen und die AKP nach der Wahlschlappe vom Juni zum Erfolg führen, um auf diese Weise doch noch ein Präsidialsystem einführen zu können. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, warf der Regierung vor, alle Aktionen der vergangenen Tage dienten nur dem Zweck, Neuwahlen zu erzwingen und der HDP zu schaden.

Mehr Kontrollen: Ankara lässt inzwischen die Grenzen zum Irak und zu Syrien verstärkt überwachen.
Mehr Kontrollen: Ankara lässt inzwischen die Grenzen zum Irak und zu Syrien verstärkt überwachen.
© Ilyas Akengin/AFP

Instabilität, so lautet demnach die Überlegung der AKP, erschreckt die Wähler – und die würden deshalb womöglich bei Neuwahlen massenweise zur Regierungspartei zurückkehren. Umgekehrt könnte neue Gewalt im Kurdengebiet der HDP schaden, die im Juni mit 13 Prozent der Stimmen überraschend stark abschnitt. Zudem ziele die AKP-Taktik darauf ab, Wähler von der rechtsnationalen Partei MHP für die Regierungspartei zurückzugewinnen, kommentierte der Meinungsforscher Özer Sancar auf Twitter.

Auf Krawall gebürstet

Diese Überlegung ist nicht nur wegen der drohenden Eskalation der Gewalt gefährlich, sondern für Erdogan auch politisch riskant: Einige Umfragen sagen der AKP bei einer Neuwahl eine neue Niederlage statt eines strahlenden Sieges voraus. Erdogan und Davutoglu sehen das offenbar anders. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Präsident und Premier die jüngsten Spannungen im Dienste ihrer Wahlstrategie absichtlich auslösten, wie das einige Verschwörungstheoretiker behaupten. Doch beide Politiker fachen die Lage weiter an, anstatt zu deeskalieren. Die ersten Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak seit Jahren sind das beste Beispiel dafür. Die PKK-Mordanschläge auf die Polizisten sind furchtbare Gewalttaten, aber die Antwort Ankaras gilt als völlig überzogen und zeigt, wie sehr die Regierung auf Krawall gebürstet ist

Die Haltung des kurdischen Lagers ist noch unklar. Einerseits rufen Politiker wie Demirtas zu Ruhe und Besonnenheit auf. Gleichzeitig bekennt sich die PKK zu den Morden an Vertretern des türkischen Staates. Dies sind Zeichen dafür, dass auch bei den Kurden einigen Kräften mehr an Eskalation als an Verständigung gelegen ist.

Größte Oppositionspartei erklärt sich zu Koalition bereit

Der Chef der größten türkischen Oppositionspartei hat sich erstmals zu einer Koalition mit der regierenden islamisch-konservativen AKP von Präsident Erdogan bereit erklärt. Er wisse, dass der Preis für ein Bündnis hoch sein werde, dennoch wolle er sich der Verantwortung für die Zukunft seines Landes stellen, sagte Kemal Kilicdaroglu von der säkularen CHP am Sonntag der Zeitung "Hürriyet". Mit jeder Verzögerung bei der Regierungsbildung steige der Preis, den die Türkei zu zahlen habe, fügte er hinzu. Bei den seit Mitte Juli laufenden Sondierungsgesprächen des amtierenden Ministerpräsidenten Davutoglu haben die nationalistische MHP und die Kurdenpartei HDP ein Bündnis bereits abgelehnt. Sollte bis Ende August aber keine Koalition zustande kommen, stehen im Herbst Neuwahlen an. Kilicdaroglu warf Erdogan vor, bewusst auf Neuwahlen hinzusteuern, in der Hoffnung, dass seine AKP die absolute Mehrheit zurückgewinnt. Erdogan "spielt mit der Zukunft der Türkei", sagte er dem Blatt. (mit AFP)

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