Wahlen in der Türkei: Anhänger der pro-kurdischen HDP feiern Einzug ins Parlament
Die AKP muss Verluste einstecken und verliert wohl das erste Mal nach zwölf Jahren die absolute Mehrheit. Die Kurdenpartei HDP zieht ins Parlament ein. Möglicherweise kommt es jetzt zu einer Minderheitsregierung und baldigen Neuwahlen.
Bei der Parlamentswahl in der Türkei droht der islamisch-konservativen AKP erstmals seit mehr als zwölf Jahren der Verlust der absoluten Mehrheit. Nach Auszählung von rund 80 Prozent der Stimmen gewann die AKP 42,4 Prozent, wie der Sender CNN Türk am Sonntag berichtete. Die pro-kurdische HDP kommt demnach mit 11,5 Prozent erstmals knapp über die Zehn-Prozent-Hürde. Damit dürfte sie die Pläne der AKP vereiteln, alleine ein Präsidialsystem mit Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Spitze einzuführen. Die ersten Ergebnisse der Parlamentswahl am Sonntag in der Türkei lassen nach den Worten eines ranghohen Vertreters der AK-Partei darauf schließen, dass die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan zunächst eine Minderheitsregierung bilden müsse. Dann würden wohl baldige Neuwahlen ausgerufen, sagte der Politiker, der namentlich nicht genannt werden wollte.
Das Ergebnis ist eine Niederlage für Erdogan, der die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen hatte, obwohl der Präsident nach der Verfassung zur Neutralität verpflichtet ist. Die HDP war mit dem Ziel in den Wahlkampf gezogen, Erdogans Präsidialsystem zu verhindern, und hatte vor einer „Diktatur“ gewarnt. Nach den Teilergebnissen verfehlte die AKP mit 261 Sitzen die absolute Mehrheit im Parlament, die bei 276 Sitzen liegt. Als Ziel hatte die von Erdogan mitgegründete Partei 330 Sitze angegeben. Das ist die erforderliche Mehrheit, um ein Referendum über eine Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems abzuhalten.
Wahlkampfende von Gewalt überschattet
Die Wahlbeteiligung lag bei 85,3 Prozent. An zweiter Stelle liegt den Teilergebnissen zufolge die Mitte-Links Partei CHP (24,9 Prozent/128 Sitze), die ultrarechte MHP kommt mit 16,9 Prozent (84 Sitze) auf den dritten Rang. Die HDP - die bislang nur mit nominell unabhängigen Kandidaten im Parlament vertreten war - kommt auf 77 Sitze. Bei der Parlamentswahl 2011 hatte die damals noch von Erdogan geführte AKP 49,8 Prozent (327 Sitze) gewonnen. Weder die AKP noch Erdogan haben erklärt, wie ein Präsidialsystem aussehen sollte. Bislang ist der Ministerpräsident Regierungschef. Die Parlamentswahl ist die erste seit dem Amtsantritt von Präsident Erdogan im vergangenen August. Erdogan war davor Ministerpräsident. Anhänger und Gegner der HDP warfen sich am Sonntag über soziale Medien gegenseitig Wahlmanipulationen vor. In der südosttürkischen Stadt Sanliurfa wurden bei Zusammenstößen von Anhängern verschiedener Parteien 15 Menschen verletzt, wie die Nachrichtenagentur DHA meldete. Der Menschenrechtsverein IHD beklagte nach einem Bericht der Online-Zeitung „Radikal“ Unregelmäßigkeiten an verschiedenen Orten. Das Wahlkampfende war von schwerer Gewalt überschattet worden. Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine HDP-Veranstaltung in der Kurden-Metropole Diyarbakir wurden am Freitagabend nach Angaben von Polizei und Ärzten mindestens 3 Menschen getötet und 220 verletzt. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu sagte nach seiner Stimmabgabe laut DHA, ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Der Hintergrund der Tat blieb weiter unklar. Im Wahlkampf war die HDP immer wieder zum Ziel von Anschlägen und Übergriffen geworden. Nach Angaben des Innenministeriums schützten am Sonntag mehr als 400 000 Sicherheitskräfte die Wahl. Zehntausende Wahlbeobachter waren im Einsatz. 56,6 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen: 53,7 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Bis Ende Mai konnten Auslandstürken in türkischen Botschaften und Konsulaten wählen. Von den 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland gaben gut 480 000 ihre Stimme in der Bundesrepublik ab.
Kurden feiern
Im südtürkischen Diyarbakir haben die Menschen den erstmaligen Einzug der pro-kurdischen Partei HDP ins Parlament gefeiert. Tausende Menschen versammelten sich am Sonntagabend in der Kurdenmetropole, tanzten und feuerten Feuerwerkskörper ab, wie ein dpa-Reporter berichtete. Die HDP-Anhänger waren euphorisch angesichts des Erfolgs ihrer Partei: „Ich glaube, dass heute die Diktatur endet und die Demokratie beginnt“, sagte der 38-jährige Ferid Kanzary. Die 53-jährige Pervin Ayle sagte: „Ich bin sehr glücklich. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.“ Die HDP war das erste Mal als Partei bei den türkischen Parlamentswahlen angetreten. Zuvor war sie nur mit unabhängigen Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten (mit dpa, Reuters).
Absolute Mehrheit für AKP in Deutschland
Anders als in der Türkei hat die islamisch-konservative AKP bei den Türken in Deutschland eine absolute Mehrheit gewonnen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu von Sonntag stimmten rund 53 Prozent der in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken für die AKP. Die pro-kurdische Partei HDP bekam rund 18,7 Prozent. Drittstärkste Kraft wurde die CHP mit 15, 8 Prozent der Stimmen. Die meisten in der Schweiz lebenden türkischen Wahlberechtigten stimmten nach Angaben von Anadolu für die HDP (rund 49 Prozent), gefolgt von der AKP (rund 24 Prozent). In Österreich erreichte die AKP rund 64 Prozent und die HDP rund 14 Prozent. Fast die Hälfte der rund 2,9 Millionen Türken, die im Ausland ihre Stimme abgeben durften, leben in Deutschland. Nach Angaben von Anadolu lag deren Wahlbeteiligung bei rund 44 Prozent