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Der Horror von Newtown: Trauer und Selbstkritik nach dem Amoklauf in den USA

Mit "gnadenloser Effizienz" tötete der 20-jährige Adam Lanza 20 Kinder und sechs Erwachsene. Die Waffen besaß er ganz legal. Augenzeugen berichten von dem Horror auf dem Schulgelände in Newtown. Im Land der Waffennarren tauchen nun gewisse Fragen auf - und sie werden drängender gestellt als je zuvor.

Joseph Wasik war auf Montageeinsatz und zunächst nicht allzu besorgt, als seine Frau auf seinem Handy anrief. Die Grundschule, auf der ihre Tochter Alexis in die dritte Klasse geht, habe einen Warnhinweis an alle Eltern verschickt, dass das Gelände abgeriegelt worden sei, sagte sie. Solche Alarmmeldungen haben die Wasiks immer mal wieder bekommen, bisher war es stets Fehlalarm. Überall in Amerika hat man die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, nachdem es mehrere Massaker in Schulen, Kinos und Einkaufszentren gegeben hat. Auch in einem friedlichen Provinzstädtchen wie Newtown, Connecticut, in das Menschen der guten Bildung wegen ziehen und weil sie sich dort sicher fühlen, wurde ein Schutzsystem eingeführt. Nach Unterrichtsbeginn ist die Eingangstür zum Schulgebäude verschlossen. Wer hinein will, muss klingeln.

Doch als der 42-jährige Elektriker seinen Laptop öffnet und die Schlagzeile „Schulschießerei in Connecticut“ sieht, schießt ihm die Angst um sein Kind durch die Adern. „Ich bin zu meinem Auto gerannt und losgerast“, erzählt er später Reportern der „Washington Post“. Als er in die Nähe der Schule kommt, herrscht Chaos. „Kreuz und quer sind Autos abgestellt, dazwischen die Wagen der SWAT-Spezialteams der Polizei. Eltern rufen verzweifelt die Namen ihrer Kinder.“

Wasik macht sich ebenfalls auf die Suche nach seiner Tochter. Der Rotorenlärm der über der Schule kreisenden Helikopter füllt die Luft. Erwachsene rennen wild durcheinander, vielen stehen Tränen in den Augen. Andere haben einen Blick, als könnten sie kaum fassen, was sich um sie herum abspielt.

Von Zeit zu Zeiten führen Lehrer oder Polizisten Kinder im Gänsemarsch aus der Schule. Um sie vor dem Anblick der Toten zu schützen, hat man ihnen gesagt, sie sollten die Augen schließen und beide Hände auf die Schultern des Kindes vor ihnen legen. Manche Kinder haben Blutflecken auf der Kleidung, viele weinen so hemmungslos, dass die kleinen Körper zittern. Feuerwehrleute hüllen sie in Decken, um sie vor der Dezemberkälte zu schützen, und bringen sie in die nahe Feuerwache. Dort tragen Polizisten die Namen der Neuankömmlinge in eine Liste geretteter Kinder ein.

Am Anfang gab es viel Verwirrung und widersprüchliche Informationen.

Wasik hört, wie Eltern sich gegenseitig auf diese Liste aufmerksam machen und verzweifelt sind, wenn ihr Kind dort nicht zu finden ist. Manche lassen sich in einen Nebenraum der Feuerwache führen, um dort abzuwarten, ob ihr Kind auftauchen wird – oder ob der herbeigeeilte Gouverneur von Connecticut, Dan Malloy, sie diskret beiseite nimmt, um ihnen die schreckliche Nachricht nahe zu bringen, die alle so fürchten: dass ihr Kind nie mehr nach Hause kommen wird.

Andere Eltern suchen auf eigene Faust weiter. Wasik stößt auf seinen Freund Steve, der nach seinem Sohn fahndet, einem Erstklässler. „Hast du ihn gesehen?“ – „Nein.“ Viele Stunden später wird er erfahren, dass Steves Sohn unter den Toten ist. Wasik läuft um das abgesperrte Schuldgelände, während die Panik in ihm wächst. Dann, nach unendlich langen 20 Minuten, sieht er seine Tochter, schließt sie in die Arme, versucht sie zu trösten. Doch die Erleichterung währt nicht lange, macht bald den nächsten Sorgen Platz. Die kleine Alexis ist unter Schock. „Sie hat schlimme Dinge gesehen“, sagt Wasik.

Die Familie will möglichst schnell wegfahren, Abstand gewinnen und einen Weg finden, wie sie dem kleinen Mädchen das Unfassbare fassbar machen kann.

Vielen Familien in Newtown geht es wie den Wasiks. Die Kleinstadt mit 27500 Einwohnern ist jäh aus der vorweihnachtlichen Freude gerissen worden. Auch am Samstag waren viele auf der Suche nach verlässlichen Nachrichten über das Geschehen. Die genauen Abläufe des Massakers klären sich erst nach und nach. Viele Informationen aus den ersten Stunden haben sich als falsch erwiesen.

Für die Ermittler ist das eine übliche Erfahrung. In solchen Ausnahmesituationen funktionieren die menschlichen Sinne nicht präzise. Augenzeugen versuchen ihre Eindrücke zu ordnen. Die Polizei ist deshalb sehr zurückhaltend, unbestätigte Informationen herauszugeben. Zunächst wurden, zum Beispiel, unrealistische Angaben über die Menge der abgegebenen Schüsse gemacht. Der Todesschütze Adam Lanza wurde mit seinem älteren Bruder Ryan verwechselt. Und lange hieß es, er habe seine Mutter, die in der Schule unterrichtet, in ihrem Klassenraum erschossen. Mittlerweile weiß man, dass die Frau gar nicht zum Schulpersonal gehörte.

Als sicher gilt inzwischen, dass der 20-jährige Täter Adam Lanza seine Mutter in dem Haus tötete, in dem sie gemeinsam wohnten. Er nahm drei Waffen an sich, die ganz legal auf ihren Namen angemeldet sind: zwei Pistolen der Marken Glock und Sig Sauer sowie ein halbautomatisches Gewehr vom Typ „.223 Bushmaster“. Mit dem Auto der Mutter fuhr Lanza zur Schule. Dort traf er gegen 9 Uhr 30 ein.

Mitmenschen beschreiben den Täter als Einzelgänger.

Der genaue Zeitpunkt ist wichtig, denn an diesem Punkt gehen die Darstellungen erneut auseinander. Das neue Sicherheitssystem der Schule soll die Eingangstür exakt um 9 Uhr 30 automatisch verriegeln. Einerseits wird berichtet, die Scheiben neben der Eingangstür seien zerschossen worden, Lanza habe sich also gewaltsam Zutritt verschafft. Andererseits verlautet aus Polizeikreisen, wahrscheinlich habe er geklingelt und die Direktorin Dawn Hochsprung habe ihm aufgemacht, weil sie ihn als Sohn einer Lehrerin kannte. Die 47-Jährige und eine Schulpsychologin sind unter den sechs erwachsenen Opfern des Massakers. Wahrscheinlich eilten sie herbei, als sie die ersten Schüsse hörten, und Lanza erschoss sie.

Über die Motive für den Amoklauf herrscht weitgehend Unklarheit. Der Täter gilt als Jugendlicher mit psychischen Problemen, die aber offenbar nie richtig benannte worden seien, so eine Psychologin vor Ort. Mitschüler aus Lanzas Highschool berichten den Reportern von einem Einzelgänger, der mit Vorliebe schwarze Kleidung trug, sich abschottete und deshalb nicht sonderlich auffiel. Seine Tat trägt ersten Erkenntnissen nach deutliche Züge des Columbine-Massakers.

Es heißt, der Täter habe 20 Kinder in zwei Klassenräumen erschossen und sich dann selbst gerichtet. Er habe „mit gnadenloser Effizienz“ gemordet, schreibt die „New York Times“. Es gab kaum Verletzte. Er tötete mit gezielten Schüssen aus nächster Nähe. Die beiden Pistolen wurden neben seiner Leiche gefunden, das Gewehr habe er im Auto gelassen. Die Schüsse und die Angstschreie der Opfer waren nach Zeugenberichten im ganzen Gebäude zu hören. 600 Kinder vom Kindergartenalter bis zur vierten Klasse besuchen die Sandy Hook Grundschule. Überall in Amerika sind die Lehrer darauf trainiert, im Falle einer Schießerei die Türen zum Unterrichtszimmer abzuschließen und mit Tischen und Stühlen zu verbarrikadieren. Die Kinder sollen sich in einer Ecke versammeln, die von der Tür aus nicht einsehbar ist oder unter ihren Pulten Schutz suchen. In der Schule in Newtown schlossen Lehrer auch Kinder in Wandschränken ein, um sie zu retten. Von einer Lehrerin wird berichtet, dass sie ihren eigenen Körper gegen die Tür gestemmt und dabei Schussverletzungen davongetragen habe. Viele suchen jetzt in Newtown den Zusammenhalt. Sie stehen in der Winterkälte. Noch am Freitag Abend hat die katholische Gemeinde „Saint Rose of Lima“ zu einem Trauergottesdienst eingeladen. Nicht alle passen hinein, viele verfolgen die Andacht vor der Kirche. Eine Botschaft Papst Benedikts XVI. wird verlesen.

Vor dem Weißen Haus in Washington versammelten sich Menschen zur selben Zeit zu einer Mahnwache. Sie forderten eine Änderung des Waffenrechts. Auch Präsident Barack Obama scheint eine Debatte darüber anzustreben.

Obama findet erstmals deutliche Worte.

In einer sehr emotionalen ersten Fernsehansprache verlangte er: Die politischen Lager müssten sich zusammensetzen und „bedeutsame Schritte“ unternehmen, um weitere solche Tragödien zu vermeiden. Mehrfach musste Obama innehalten und Tränen aus den Augen wischen, ehe er weitersprechen konnte. Nach anderen Massakern in diesem Jahr – in einem Kino in Colorado im Juli und in einem Sikh-Tempel in Wisconsin im August – hatte er noch nicht so deutlich gesprochen. Damals sei das Land mitten im Wahlkampf gewesen, kommentieren amerikanische Kolumnisten, da nehmen alle Rücksicht auf den gefürchteten Einfluss der Waffenlobby.

Für den New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg, einen vehementen Befürworter der Verschärfung des Waffenrechts, war Obamas Wortwahl auch jetzt zu zahm. „Es reicht nicht, bedeutsame Schritte zu fordern. Wir müssen sofort handeln“, sagte er. „Rhetorik haben wir genug gehört. Was wir dagegen nicht gesehen haben, ist politische Führung – weder im Weißen Haus noch im Kongress.“

Am Tag nach dem Massaker ist es in den USA eine offene Frage, ob das Entsetzen über die Tragödie in Connecticut ein Umdenken bewirkt. Amerika habe für solche Situationen Trauerrituale eingeübt, kritisieren manche Medien. Die Nation gehe aber der Frage aus dem Weg, warum solche Massaker in den USA öfter geschehen als anderswo und ob da vielleicht ein überzogenes Freiheitsverständnis eine Rolle spiele, weshalb es für gestörte Charaktere zu leicht sei, an Waffen zu kommen.

Wie sehr die Tragödie mit Amerika zu tun hat, sagt der Name des Ortes, an dem sie passiert ist. Newtown – das trägt den Geist Amerikas in sich. Seit die Pilgrim Fathers aus Europa über den Ozean gefahren sind, um noch einmal von vorne anzufangen, treibt das Land eine Sehnsucht nach dem Neuen an. Es neu und besser zu machen als zuvor – dieses Versprechen geben sich die Amerikaner immer wieder. Freiheit hat auch eine Kehrseite. Amerika muss seine Kinder davor schützen.

Lars Halter, Christoph von Marschall

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