Psychologie: "Kinder dürfen nicht denken, sie hätten es mit einem Monster zu tun"
Die Ärztin Sibylle Winter über die psychische Verarbeitung von Amokläufen.
Frau Winter, wie erklärt man Kindern einen Amoklauf wie in Connecticut mit so vielen toten Kindern?
Ich plädiere dafür, das den Kindern immer klar und direkt zu sagen. Man sollte erklären, dass der Schütze ein psychisches Problem gehabt haben muss und offenbar krank war, damit die Kinder nicht denken, sie hätten es mit einem Monster zu tun. Wir hatten in Berlin ja auch Kinder, die Traumata erlebt haben. In dem einen Fall im Juni hatte der Vater die Mutter in Kreuzberg getötet. Das Paar hatte sechs Kinder. Danach haben wir mit den Schulen Kontakt aufgenommen. Im Prinzip gehen wir immer gleich vor: Die Schulen müssen die Tat benennen. Man muss die Dinge beim Namen nennen.
Sollten kleine Kinder auch in schlimmen Fällen unverblümt aufgeklärt werden?
Ja, unbedingt. Die meisten Erwachsenen haben Angst, Kindern etwas Schlimmes zu sagen. Es fällt ihnen verständlicherweise sehr schwer. Deshalb unterstützen wir auch Erwachsene.
Haben Erwachsene Angst davor, Kinder dadurch psychisch zu verletzen?
Ja, das ist ein Punkt. Aber viele Erwachsene sind nach so einer Tat selbst sprachlos. Barack Obama war bei seiner Rede ja auch kurz sprachlos und hat geweint. Man ist doch selbst total berührt, wenn man vor seinen Augen 20 Kinderleichen sieht. Das empfinden wir als Erwachsene in unserem Alter sehr ungerecht, wenn die getöteten Kinder in Connecticut nur maximal zehn Jahre alt geworden sind. Und es macht im Übrigen auch keinen Unterschied, ob eine Tat wie diese in der Vorweihnachtszeit passiert. Ich würde auf jeden Fall erwähnen, dass es wohl auch familiäre Probleme gegeben haben muss, da die Mutter ebenfalls von ihrem Sohn offenbar getötet wurde.
Aber kann man das so offen auch vor so kleinen Kindern sagen?
Bei Fünf- bis Zwölfjährigen in der Grundschule soll man schon klar erzählen. Das Problem setzt dann erst ein, wenn die Kinder von so einer Tragödie von anderen und weniger klar erfahren. Sie müssen es von einer Autorität für sie erfahren, die ihnen vermittelt, dass die Realität so oder so aussieht. Sonst wissen die Kinder nicht, wie sie sich orientieren sollen. Man sollte auch Nachrichten über Kriege, die die Kinder womöglich im Fernsehen sehen, nicht unkommentiert lassen.
Bei dem Amoklauf in den USA wurden 20 Kinder getötet. Viele werden Geschwister haben. Wie erklärt man den Geschwistern, dass der Bruder oder die Schwester nicht mehr wiederkommen?
Was soll man anderes sagen als das, was passiert ist? Entscheidend ist, dass sich Geschwisterkinder von ihrer Schwester oder ihrem Bruder verabschieden können. Auf einer Intensivstation zum Beispiel sollten nach einem Todesfall die Geschwisterkinder immer noch die Möglichkeit haben, vielleicht ein Kuscheltier auf das Bett zu legen oder ein schönes Bild zu malen. So können sie ihrer verstorbenen Schwester oder dem verstorbenen Bruder noch etwas mitgeben. Das ist auch wichtig für die Eltern, die ihnen später erzählen können, dass sie sich noch einmal von dem Geschwisterchen verabschieden konnten. Wir raten auch immer dazu, dass die Kinder bei der Beerdigung anwesend sein sollten.
Und wenn ein Kind trotz Verabschiedung auffällig reagiert?
Die Trauma-Ambulanz ist offen für Opfer, aber auch für Zeugen von Straftaten und für Angehörige, die eine schlimme Botschaft übermittelt bekommen. Das ist ja auch wie ein Trauma. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales spricht von einem Schockschaden. Vier Wochen nach einem schlimmen Ereignis ist es normal, dass das Gehirn das Geschehene in Form von Tagträumen, Albträumen oder Schlafstörungen zu verarbeiten versucht. Wenn dieser Zustand darüber hinaus anhält, sollte man psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.
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