Nelson Mandela: Tod einer Legende
Eine ganze Nation bangte monatelang um seine Genesung, aber am Donnerstag starb Südafrikas großer Freiheitskämpfer: Nelson Mandela. Er wurde 95 Jahre alt - und war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Ein Nachruf.
Sechs Meter. So hoch ist die Statue auf dem Nelson-Mandela-Platz in Johannesburg – ein Versuch der Südafrikaner, ihrem Nationalhelden schon zu Lebzeiten ein angemessenes Denkmal zu setzen. Sechs Meter Bronze, die alles zu überragen scheinen, selbst die nahe gelegenen „Michelangelo Towers“.
Ein paar Minuten. So lange währte die Begegnung eines jungen Fotografen mit dem alten Mann. Sein Auftrag: ein Porträt, doch die Blitzanlage machte Probleme. Ob der Fotograf eine Tasse Tee trinken wolle, fragte eine Assistentin mit Blick auf ein vor Aufregung aschfahles Gesicht. Da leuchtete Mandela, der schon in einem Sessel Platz genommen hatte und wie so oft eines seiner schillernden Hemden trug, den Raum mit seinem Lächeln aus: „Oder darf es vielleicht etwas Stärkeres sein?“
Nelson Rolihlahla Mandela schrieb Weltgeschichte. Der Größte aber war er, weil er sich eine zärtliche Aufmerksamkeit für solche Kleinigkeiten leistete – der 1,90-Mann stand stets auf, wenn er begrüßt wurde. Jeder, dem Mandela begegnete, kann eine Geschichte darüber erzählen, wie menschlich er gewesen ist. Für manche war es bequemer, ihn zu vergöttern. Doch anders als andere Staatsmänner war er stets darauf bedacht, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen.
Nur eine Schrecksekunde – und schon zog Mandela den Reporter aus dem Brunnen im Kapstädter Parlamentsgarten. Helmut Kohl, der 1995 auf Staatsbesuch in Südafrika, stand grinsend daneben: Warum musste der Mann auch rückwärts gehen? Doch für den Präsidenten war der stolpernde Reporter nur noch „mein privater Poolfotograf“.
Nelson Mandela: "Teil der DNA unserer Nation"
Als Madiba – so sein Clanname – Anfang 2011 ins Krankenhaus gebracht wurde und alle Welt mit dem Schlimmsten rechnen musste, beschrieb Nic Dawes von der Johannesburger Wochenzeitung „Mail & Guardian“ den früheren Präsidenten als Teil des südafrikanischen Erbguts: „Was wir für Madiba empfinden, ist nicht einfach Zuneigung oder Respekt. Sogar das Wort Liebe reicht nicht aus. Seine Präsenz ist vielmehr Teil der DNA unserer Nation. Wir fürchten, dass wir ohne ihn nicht mehr wir selbst sind.“
„Nelson“, so hieß Mandela erst seit seinem ersten Schultag. Seine Lehrerin nannte den Jungen so. „Weiße waren nicht fähig oder nicht gewillt, einen afrikanischen Namen auszusprechen, und hielten es für unzivilisiert, überhaupt einen zu haben“, schrieb Mandela in seiner millionenfach verkauften Autobiographie „Der lange Weg zur Freiheit“. Sein mittlerer Name bedeutet wörtlich „am Ast eines Baumes ziehen“, im übertragenen Sinn „Unruhestifter“.
Seine Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf auf dem Land, in der einst von grünen Hügeln geprägten Provinz Transkei. Dass Mandela Zugang zu Bildung gewährt wurde, war eine Ausnahme. Niemand in seiner Familie hatte zuvor eine Schule besucht: Während sein früh verstorbener Vater an den uralten Bräuchen der Volksgruppe Thembe festhielt, wechselte die Mutter nach dessen Tod zum christlichen Glauben und ließ ihren Sohn von den Methodisten taufen. Ein Eintrag in das Kirchenregister aus dem Jahr 1929 ist das erste Dokument, das es über Mandela gibt. Von der Dorfschule kam er wie damals üblich in die Obhut eines Onkels der Familie, der den Jungen an den Königssitz der Thembe holte. Für Mandela waren es prägende Jahre. Er besuchte die Clarksbury School, die älteste Methodisten-Schule der Region, später das Healtdown College, wo sich ihm die Welt öffnete: Zum ersten Mal lernte er Mitschüler kennen, die nicht aus seinem engeren Clan stammten. Er schloss Freundschaft mit Jungs aus dem 1000 Kilometer entfernten Johannesburg.
Der Student übte sich nicht nur im Dauerlauf, er stiftete auch erste politische Unruhe
1938 wurde Mandela in Fort Hare aufgenommen, der damals einzigen Universität für Schwarze am Kap. Dort benutzte er zum ersten Mal eine Zahnbürste. Bislang hatte er sich die Zähne mit Asche geputzt. Ebenso wichtig wie sein Studium war ihm der Sport. „Beim Laufen war das Training wichtiger als die eigentliche Veranlagung, und so konnte ich einen Mangel an natürlicher Fähigkeit durch Fleiß und Disziplin kompensieren. Diese Lektion half mir bei allem, was ich tat“, schrieb Mandela.
Mandela stiftet erste politische Unruhe
Doch der Student übte sich nicht nur im Dauerlauf, er stiftete auch erste politische Unruhe: Er nahm seine Wahl ins Studentenparlament nicht an, weil wegen eines Boykotts zu wenige Studenten zur Abstimmung gingen. Konsequenzen hatte sein Handeln allemal. Der Rektor schmiss ihn von der prestigeträchtigen Universität, nachdem Mandela ein Ultimatum ungenutzt hatte verstreichen lassen. So unbeugsam der junge Mann auch gewesen sein mag – seine Abreise nach Johannesburg glich eher einer Nacht-und-Nebel-Aktion, sollte er doch auf Geheiß des altersschwachen Clan-Regenten mit der Tochter eines Thembe-Priesters verheiratet werden. Mandela stahl zwei der priesterlichen Preisochsen und verkaufte sie, um sich ein Taxi zum nächsten Bahnhof leisten zu können. Erst Monate später – der Jura-Student hatte sich vom Nachtwächter zur Aushilfe einer kleinen Anwaltskanzlei hochgearbeitet – traf er den Regenten wieder, dessen Zorn inzwischen längst verraucht war.
Wie konnte es dazu kommen, dass aus dem smarten Township-Dandy, ein weltweit gefeierter Freiheitskämpfer wurde?
Anders als bei Mandela: Er entdeckte die Wut langsam für sich als Motor. Diese Wut über einen Haufen vermeintlicher Kleinigkeiten.Wie konnte es dazu kommen, dass aus dem smarten Township-Dandy, der gerne boxte und tanzte, ein weltweit gefeierter Freiheitskämpfer wurde? „Ich hatte keine Erleuchtung, keine einzigartige Offenbarung, keinen Augenblick der Wahrheit“, schrieb Mandela in seinem in 20 Sprachen übersetzten Buch. „Es war eine ständige Anhäufung von tausend verschiedenen Dingen, tausend Kränkungen, tausend unerinnerten Momenten, die Wut in mir erzeugten, rebellische Haltung, das Verlangen, das System zu bekämpfen, das mein Volk einkerkerte.“
Zusammen mit seinem Studienfreund Oliver Tambo leitete er bald darauf die einzige afrikanische Anwaltskanzlei in Johannesburg – täglich belagerten unzählige Mandanten ihr Büro. Ein ideales Duo: Während Mandela die Theatralik bei Gericht liebte, bestach der eher schüchterne Tambo, der später den ANC aus dem Exil führte, durch Wissen und Zurückhaltung. 1944 gründete Mandela mit seinem Freund und Mentor Walter Sisulu sowie Oliver Tambo die Jugendorganisation des ANC, dem African National Congress.
1948 gewann dann die Nationale Partei die Wahlen. Bis 1994 sollte eine kleine Minderheit Südafrika regieren, und mit ihr die institutionalisierte „Rassentrennung“, die Apartheid. Schwarze durften nicht wählen, kein Land besitzen, sie durften weder gute Schulen besuchen, noch ohne Pass auf die Straße gehen. Jede „Rasse“ sollte ihr eigenes Wohnviertel bekommen. So wurden die Schwarzen systematisch aus den Innenstädten verdrängt. Es war eine Politik, unter deren Folgen heute noch Hunderttausende leiden. Als Chef der ANC Youth League organisierte Mandela um 1950 so genannte Missachtungskampagnen im ganzen Land. Schwarze provozierten gezielt ihre Verhaftung, indem sie beispielsweise zu Hunderten einen Eingang benutzten, der den Weißen vorbehalten war. Die Gefängnisse liefen schnell über, die Kapazitäten reichten nicht, man musste die Aufständischen wieder entlassen.
Die südafrikanische Anti-Apartheid-Bewegung radikalisierte sich.
Mandela schrieb darüber: „Die Kampagne befreite mich von allen vagen Zweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen, die ich noch verspürt haben mochte; sie befreite mich von dem Gefühl, von der Macht und der scheinbaren Unbesiegbarkeit des weißen Mannes und seiner Institutionen überwältigt zu werden. Denn jetzt hatte der weiße Mann die Kraft meiner Schläge zu spüren bekommen, und jetzt konnte ich aufrecht gehen wie ein Mann und jedem ins Auge blicken mit der Würde dessen, der sich der Unterdrückung und der Angst nicht ergeben hat.“ Den Widerstand ließ das Apartheid-Regime nicht ungestraft und stellte Mandela unter Bann, zwang ihn damit zu einem Rückzug ins Private. 1956 folgte der Haftbefehl wegen Landesverrats gegen ihn und seine Mitstreiter, der Prozess endete 1961 mit einem Freispruch.
Mandela gab seine Vorstellung von einem friedlichen Kampf auf
Die südafrikanische Anti-Apartheid-Bewegung radikalisierte sich: Nach einem Massaker an Demonstranten in Sharpeville gab Mandela seine Vorstellung von einem friedlichen Kampf auf. Von nun an akzeptierte er Gewalt als Mittel zum Zweck und ging als Führer des bewaffneten Arms des ANC in den Untergrund, sein Deckname: David Motsamayi. Dass er es sich nicht leichtgemacht hat mit der Hinwendung zur Gewalt, illustriert er in seiner Autobiographie mit einer etwas rührseligen Anekdote: Bei einer Schießübung auf Vögel, so erinnerte sich Mandela an die prägende Begebenheit, sah auch der kleine Sohn eines Mitstreiters zu. Nachdem es Mandela endlich gelungen war, das Tier tödlich zu treffen sagte der Junge: „Seine Mutter wird jetzt traurig sein.“
Über seine Zeit im Untergrund schrieb er: „Ich wurde ein Wesen der Nacht. Tagsüber blieb ich in meinem Unterschlupf, und wenn es dunkel wurde, tauchte ich daraus hervor, um meine Arbeit zu tun. (...) Ich hielt mich in leeren Wohnungen auf, in Wohnhäusern, überall wo ich allein sein konnte und nicht auffiel. Obwohl ich ein geselliger Mensch bin, liebe ich die Einsamkeit noch mehr. (...) Ich begrüße die Gelegenheit, allein zu sein, um zu denken, zu überlegen, zu planen. Doch allzu viel Einsamkeit tut nicht gut. Ich sehnte mich schrecklich nach meiner Frau und der Familie.“ Mit seiner ersten Frau Evelyn hatte er vier Kinder, von denen heute nur noch eines am Leben ist. Sie hatte das Engagement Mandelas mit Argwohn betrachtet – als Zeugin Jehovas war es ihr nicht erlaubt, Politik zu machen. Mit Winnie, einer Sozialarbeiterin, hatte Mandela später zwei Töchter.
Mandela reiste undercover ins afrikanische Ausland, besuchte dort Konferenzen, strategische Treffen des Panafrikanischen Kongresses und militärische Ausbildungslager. Er sammelte Geld für den Widerstand, auch Waffen. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sich in relativer Freiheit bewegen.
Erneute Verhaftung Mandelas
Die erneute Verhaftung ließ nicht lange auf sich warten. Am 5. August 1962, kurz nach seiner Einreise nach Südafrika, wurde Mandela während einer Autofahrt von Durban nach Johannesburg festgenommen. Am 12. Juni 1964 verurteilte ihn der Richter Quartus de Wet im Rivonia-Prozess (benannt nach dem Vorort von Johannesburg, wo der bewaffnete Flügel des ANC sein geheimes Hauptquartier hatte) wegen Sabotage und Planung des bewaffneten Kampfes zu lebenslanger Haft. Dennis Goldberg, als Chef-Techniker der Umkhonto we Sizwe („Speer der Nation“) Mitangeklagter, erklärte dem Tagesspiegel 2010 in Kapstadt: „Wir hatten alle mit dem Tod gerechnet, doch wir bekamen das Leben.“
Vier Stunden. So lange dauerte das Plädoyer, das Mandela selbst hielt und so beendet hatte: „Doch wenn es sein muss, bin ich für dieses Ideal (einer freien Gesellschaft) auch zu sterben bereit.“ Nachdem Mandela sich gesetzt hatte, war es totenstill im Gerichtssaal. Um die Wirkung seiner Worte zu mildern, wurde sofort der nächste Zeuge aufgerufen – vergeblich. Mandela hatte soeben Geschichte geschrieben: Die Rede verbreitete sich auf der ganzen Welt. Sogar Zeitungen in Südafrika druckten sie, obwohl er nicht zitiert werden durfte.
Es folgen 27 Jahre Gefängnis
27 Jahre. So lange blieb er Gefangener eines zutiefst ungerechten, brutalen Systems. Getrennt von Winnie und den Kindern, zunächst abgeschnitten von allen Informationen. Vom Plateau des Tafelbergs kann jeder den grauen Klecks im Atlantik sehen: Robben Island, die Gefängnisinsel. Dort war Mandela bis 1982 unter der Nummer 466/64 inhaftiert. Tief hingen die Wolken über dem Meer, ein eisiger Wind fegte über den Südatlantik. Kurz nach seiner Ankunft erhielt er eine kurze Hose, ein dünnes Unterhemd und eine Drillichjacke – die Shorts sollten die Schwarzen daran erinnern, dass sie ja nur „Boys“ waren. Mandela wurde eine Einzelzelle zugewiesen, drei Schritte lang, anderthalb Meter breit. Zusammen mit den anderen politischen Gefangenen zwangen ihn die weißen, Afrikaans sprechenden Aufseher wochenlang zum Steine klopfen auf dem Gefängnishof, später zur Arbeit im Kalksteinbruch, wo das grelle Licht seine Tränendrüsen zerstörte.
Mandela, damals in den Vierzigern, protestierte bei der Gefängnisleitung gegen die kurzen Hosen – und fand dann tatsächlich in seiner Zelle eine lange Khakihose. Doch als er erfuhr, dass nur er dieses Privileg erhalten hatte, gab er sie ungetragen zurück. Zum Gefängnisalltag schrieb Mandela: „Routine ist wie eine bequeme Geliebte, der zu widerstehen schwerfällt, denn Routine lässt die Zeit schneller vergehen (...) Der Verlust des Zeitgefühls ist eine bequeme Methode, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.“
Alle sechs Monate ein Besuch und ein Brief
Einen Besuch und einen Brief, der einer strengen Zensur unterlag, durfte er alle sechs Monate erhalten. Zu essen gab es Mais- und Haferbrei, drei Mal täglich. Doch eines erlaubte das Apartheid-Regime seinen politischen Gefangenen nach einiger Zeit – das Abendstudium. Bücher konnten sie in Bibliotheken vom Festland bestellen. Robben Island trug unter den Freiheitskämpfern auch den Beinamen „Die Universität“, weil die Gefangenen sich gegenseitig unterrichteten. Mandela leitete einen Kurs in politischer Ökonomie. „Wenn man im Gefängnis überleben will, muss man Wege finden, um sich im täglichen Leben Zufriedenheit zu verschaffen. Man kann sich ausgefüllt fühlen, wenn man seine Kleidung so wäscht, dass sie besonders sauber ist (...). Den gleichen Stolz, den man außerhalb des Gefängnisses bei folgenreicheren Tätigkeiten empfindet, kann man sich drinnen auch verschaffen, indem man kleine Dinge tut.“ Robben Island – das ist die Geschichte von Streichholzschachteln mit doppeltem Boden, heimlichen Nachrichten unter Bergen schmutzigen Geschirrs oder in Plastik verpackt unter dem Rand der Kloschüssel. Es ist die Geschichte von einzelnen freundlichen und vielen tyrannischen Wärtern, von folgenlosen Visiten des Roten Kreuzes.
Als herzzerreißend beschrieb Mandela die Besuche von Winnie, die ihrerseits unter dem Bann der Regierung stand und mehrfach inhaftiert wurde. Seine Mutter starb, sie ließen ihn nicht zur Beerdigung. Sein ältester Sohn starb bei einem Autounfall, sie ließen ihn nicht zur Beerdigung. Irgendwann kam auch seine 15-jährige Tochter Zindzi, die er seit ihrem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, zu Besuch. Er musste sie durch eine Glasscheibe betrachten.
Robben Island ist auch die Geschichte von endlosen Schach- und Tennisturnieren, Laientheater (Mandelas Rolle: der Thebanerkönig Kreon in „Antigone“ von Sophokles). Von heimlich gesammelten und gekochten Muscheln, Langusten und Meerohren, einer Schneckenart. Von handgeschriebenen Memoiren, die in leeren Kakaodosen vergraben und kurze Zeit später von den Wärtern entdeckt wurden. Von einem Gemüsegarten, den Mandela täglich pflegte. Von Film-Abenden: „Der König und ich“ mit Yul Brunner. „Kleopatra“ mit einer für eine Ägypterin sehr hellhäutigen Elizabeth Taylor. Von der Erlaubnis, Zeitung zu lesen, und einer Nacht unter einem weichen Federbett des Kapstädter Krankenhauses. Von seiner Tochter Zeni, die einen Prinzen aus Swasiland geheiratet hatte und daher Diplomatenstatus und häufiges Besuchsrecht bekam. Sie besuchte Mandela mit ihrem Neugeborenen, dem er den Namen Zaziwe gab: Hoffnung.
Erste Umarmung nach 18 Jahren.
„Dieses Kind, davon war ich überzeugt, würde zu einer neuen Generation von Südafrikanern gehören, für die Apartheid nur noch eine entfernte Erinnerung bedeutete.“ Robben Island ist trotz allem die Geschichte von Tauwetter: 1982 verlegten sie ihn aufs Festland, in das Hochsicherheitsgefängnis Pollsmoor bei Kapstadt. Mandela nannte es ein „Fünf-Sterne-Hotel“. Hier konnte er Winnie zum ersten Mal nach über 18 Jahren umarmen. Plötzlich schien sich die Regierung für seine Ansichten zu interessieren: 1985 traf er zum ersten Mal mit dem Justizminister Kobie Coetsee zusammen. Den störte vor allem Mandelas Standpunkt zum Thema Gewalt, auf die zu verzichten er jedoch noch nicht bereit war: „Ich versicherte aber mit den eindeutigsten Worten, Gewalt könne niemals die endgültige Lösung der Situation in Südafrika sein.“ Tochter Zindzi verlas bald darauf Mandelas Nachricht an seine Landsleute im Jubilani-Stadion in Soweto: „Nur freie Menschen können verhandeln. Gefangene können keine Verträge schließen. Ich kann und werde nichts unternehmen, solange ich und ihr, das Volk, nicht frei sind. Eure Freiheit und meine Freiheit sind nicht zu trennen. Ich werde zurückkommen.“ Zu konkreten Ergebnissen führte das erste Treffen nicht, dazu kam es erst zwei Jahre später. Die Regierung, hieß es, wolle ein Komitee bilden, um mit Mandela zu privaten Gesprächen zusammenzukommen. Ein beispielloser Balanceakt hatte begonnen. Das Komitee – bestehend aus hochrangigen Ministern und Generälen - traf sich einige Monat lang fast jede Woche. Mandela konnte seine Bedingungen zum Gewaltverzicht konkretisieren: „Ich erlaubte mir die Aussage, wenn der Staat sich entscheide, friedliche Methoden anzuwenden, werde der ANC ebenfalls friedliche Mittel benutzen.“ Zur Debatte standen außerdem das Bündnis mit der kommunistischen Partei sowie die Frage der Mehrheitsregierung.
Was würde im Falle der Legalisierung des ANC und Freilassung Mandelas mit der weißen Minderheit geschehen? Während die Männer verhandelten, stand Südafrika unter Ausnahmezustand. Viele Länder verschärften ihre Sanktionen, immer mehr Unternehmen verließen das Land. An Mandelas 70. Geburtstag, dem 18. Juli 1988, sangen ihm zu Ehren in der Londoner Wembley Arena Tracy Chapman, Whitney Houston, Stevie Wonder, Eric Clapton, Mark Knopfler und viele andere.
Am 11. Februar des selben Jahres entließ man Mandela.
Mandela erkrankte an einem Tuberkulose-Frühstadium und wurde operiert. Wochenlang musste er im Krankenhaus bleiben, was auch seine gute Seite hatte: Hier aß er zum ersten Mal wieder Eier und Speck und ließ sich von aufmerksamen Krankenschwestern gesund pflegen. Nach Pollsmoor ging es nicht mehr zurück: Anfang Dezember brachten ihn die Wärter in sein Haus auf dem Gelände des Gefängnisses Victor Verster. Für Mandela war es der halbe Weg zwischen Gefängnis und Freiheit. An seinem 71. Geburtstag hatte Mandela zum ersten Mal seine gesamte Familie um sich. Den Präsidenten, Pieter Willem Botha, genannt „die Groot Krokodil“, der in der Zwischenzeit einen Schlaganfall erlitten hatte, traf Mandela kurz darauf. Frederik Willem de Klerk wurde im August 1989 Präsident in Südafrika – Anfang 1990 war der ANC wieder eine legale Organisation. Am 11. Februar des selben Jahres entließ man Mandela. „Etwa 30 Meter vor dem Tor begannen die Kameras zu klicken, ein Geräusch, das sich anhörte wie eine riesige Herde metallischer Tiere. Reporter begannen Fragen zu schreien; Fernsehteams strömten herbei; ANC-Anhänger riefen und jubelten.
„Es war ein glückliches, wenn auch etwas verwirrendes Chaos. (...) Als ein Fernsehteam ein langes, dunkles, pelziges Objekt auf mich richtete, wich ich ein wenig zurück und fragte mich, ob das irgendeine neue Waffe sei. (...) Winnie teilte mir mit, es sei ein Mikrofon.“ 27 Jahre Gefängnis hatten nicht vermocht, ihm seinen Humor zu nehmen. Mandela war nicht nur entlassen, er war ein freier Mann, 71 Jahre alt und bereit, seinem Volk zu dienen. Mit Charisma, Selbstdisziplin, Konzentration und Mut verhinderte er, was die Welt fürchtete: dass ein blutiger Bürgerkrieg die zutiefst gespaltene Nation noch mehr in die Isolation führen könnte. Ostern 1993 stand das Land tatsächlich am Abgrund. Als zwei Rechtsextremisten Mandelas Kronprinzen, Chris Hani, vor dessen Haus ermordeten, hielt nur die Autorität Mandelas den Übergangsprozess im Gleis. Seine Fernsehansprache am gleichen Abend verhinderte blutige Vergeltung.
Nelson Mandela wird erster schwarzer Staatspräsident von Südafrika
1994 bekam Südafrika freie Wahlen – der ANC verfehlte knapp die Zweidrittelmehrheit –, eine der modernsten Verfassungen sowie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Beispielhaftes für das gepaltene Land geleistet hat. An einem strahlend klaren Wintertag, wurde Mandela als erster schwarzer Staatspräsident von Südafrika vor dem Regierungsgebäude von Pretoria vereidigt. Das Elitegeschwader der Luftwaffe des Apartheidstaates grüßte seinen neuen Befehlshaber beim Vorbeiflug durch das Wippen der Tragflächen. "Jedem, der das Manöver damals am Himmel über Pretoria verfolgte, war die tiefe symbolische Bedeutung sofort bewusst. Es war der Moment, in dem die weiße Minderheit ihre Macht nach fast 350jähriger Herrschaft friedlich in schwarze Hände legte – in die Hände von Nelson Mandela" sagt Patti Waldmeier, damalige Südafrika-Korrespondentin der "Financial Times" .
Mandela sagte: „Aus der Erfahrung eines außerordentlichen menschlichen Unglücks muss eine neue Gesellschaft entstehen, auf welche alle Menschen stolz sein können.“ Privat liefen die Dinge weniger gut: Seine Frau Winnie musste wegen der Entführung und späteren Ermordung eines jungen Aktivisten durch ihre Leibwächter vor Gericht. Mandela hatte ein Land gerettet, aber seine Ehe zerbrach. Gleichwohl versteckte sich hinter seinem jovialen Gebaren und dem gütigen, ja fast seligen Lächeln bei aller Wärme auch ein Mann, der sehr genau um die Macht wusste, die ihm seine Rolle als Gründervater des neuen Südafrika bescherte hatte", glaubte der Schriftsteller Richard Stengel, der Mandela in den ersten Jahren nach der Freilassung begleitete, schrieb: „Er mochte gegenüber Kellnern und Küchenpersonal die gleiche Höflichkeit wie gegenüber Diplomaten und anderen Würdenträgern offenbaren. Doch die Namen seiner Leibwächter kannte er nicht.“
Seine Person sei viel komplexer, als die vielen Bewunderer glaubten
Mandelas Auftritte in der Öffentlichkeit gerieten nicht selten zu Huldigungen: Stehende Ovationen waren an der Tagesordnung. „Doch gerade gegenüber Nahestehenden, wie der eigenen Familie, konnte Mandela ausgesprochen kalt und hart sein“, beobachtet der Schrifsteller Richard Stengel, der Mandela oft begleitet hatte. Seine Person sei viel komplexer, als die vielen Bewunderer glaubten. Auch Minister aus seinem Kabinett sprechen von einem autokratischen Zug und einem Hang, an einmal getroffenen Entscheidungen unbedingt festzuhalten. Diese Sturheit kann auch seine Nibelungentreue gegenüber Gaddafi oder Castro erklären. Die weißen Südafrikaner, eine Minderheit, waren spätestens nach dem Finale der Rugby Weltmeisterschaft 1995 beruhigt. Die Bilder, wie Mandela unter dem Jubel zehntausender Weißer – früherer Erzfeinde – den Pokal hoch hält, haben sich unauslöschlich eingebrannt ins Gedächtnis der noch so jungen Demokratie.
Und was tat Mandela? Überließ die Tagespolitik seinem späteren Nachfolger Thabo Mbeki. Er selbst reiste um die Welt und tief ins eigene Land. Nahm zusammen mit de Klerk den Friedensnobelpreis entgegen. Lud Frauen der Apartheidsgeneräle und Freiheitskämpfer zum gemeinsamen Abendessen. Trug seinen Sohn Makgatho, der an den Folgen von Aids gestorben war, zu Grabe. Heiratete nach seiner Scheidung von Winnie noch einmal: Graça Machel, die Witwe des früheren Präsidenten von Mosambik. Gründete nach seiner Amtszeit als Präsident den Ältestenrat „The Elders“. Holte die Fußball-Weltmeisterschaft nach Südafrika. Wurde zur Ikone für Freiheit und Versöhnung. Verfolgte schweigend, wie seine Nachfolger sein Erbe in verbitterten Machtkämpfen verspielten – keinem gelang es bisher, Kriminalität und Armut wirksam einzudämmen. Und zog sich mit den Worten „Don’t call me, I call you“ an seinen Geburtsort zurück.
Mandela hat getan, was in seiner Macht stand. Zum Schluss hat er losgelassen, gab sein Land mitsamt den großen Problemen, die es heute hat, in die Hände seiner Nachfolger. Der ANC, als dessen Mitglied er starb, ist von Korruption und Machtmissbrauch geprägt. „Wenn ich in den Himmel komme, werde ich als Erstes nach einer ANC-Geschäftsstelle Ausschau halten“, scherzte er. Aus seiner Enkelin, der er damals auf Robben Island den Xhosa-Namen für „Hoffnung“ gab, ist ein Reality-Soap-Star geworden. Seine Frau sagte einem Johannesburger Fernsehsender: „Es ist schwer, zu sehen, wie sein Funke langsam erlischt.“ Erleuchtet hat er nicht nur eine Nation, sondern die ganze Welt.