Sport: In den Straßen von Johannesburg
Zwei Jahre vor Anpfiff der Fußball-WM erschüttern Unruhen die Stadt des Finales. Wie lebt es sich in Johannesburg? Fragen an den südafrikanischen Schriftsteller Ivan Vladislavic. „Ich habe keine große epische Vision. Die Details interessieren mich mehr“
Herr Vladislavic, seit über einer Woche gibt es in Johannesburg eine tödliche Jagd auf Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder aus Ihrer Heimatstadt sehen?
Das ist eine furchtbare Angelegenheit. Polizei und Militär sollten hart durchgreifen. Es ist ihre Pflicht, die Verbrecher zu fassen. Dann muss ihnen ein Prozess gemacht werden, sie gehören bestraft. Das Wichtigste ist, dass die Menschen begreifen, dass der Staat weder Morde, Vergewaltigungen noch Hetzjagden auf Ausländer oder sonst wen toleriert. Sobald ein anderer Eindruck entsteht, bringt das nur weiteres Unheil.
In Südafrika werden im Schnitt täglich 50 Menschen ermordet und 150 Vergewaltigungen registriert. Die südafrikanische Währung Rand verliert zusehends an Wert – und jetzt fällt auch noch dauernd der Strom aus. Was ist los?
Die Stimmung ist im Moment wirklich deprimierend. Die Stromausfälle sind sozusagen eine Kulisse für diese Depression: Wenn plötzlich ohne Vorankündigung keiner mehr aus der Steckdose kommt, hat man eben schnell das Gefühl, dass grundsätzlich gar nichts mehr funktioniert. Neulich habe ich mit meinem Bäcker geredet. Wenn er gerade Brötchen im Ofen hat, während der Strom ausfällt, kann er alles wegwerfen. Auch in vielen Restaurants verderben die Waren. Diejenigen, die es sich leisten können, kaufen sich Generatoren. Dann fallen die Ampeln aus, abends versinken ganze Stadtteile im Dunkeln, weil die Straßenbeleuchtung ausfällt. Alarmanlagen geben den Geist auf. Die Atmosphäre, die so entsteht, ist viel bedrohlicher als das, was tatsächlich passiert. Es wirkt, als würde alles auseinanderfallen.
Besitzen Sie denn einen Generator?
Nein. Für meine Arbeit brauche ich nur Strom für meinen Laptop. Neuerdings gibt es sogar angekündigte Stromausfälle, so dass man sich darauf einstellen kann. Und die privatisierte Stromgesellschaft Eskom hat immerhin zugegeben, dass es ein Problem gibt. Das ist schon mal ein großer Fortschritt.
Auch das politische Klima ist von Unsicherheiten geprägt.
Ja. Viele meiner Freunde sorgen sich, dass Jacob Zuma der nächste Präsident wird – ein Mann, der wegen Bestechlichkeit angeklagt wird und eine heiße Dusche als HIV-Prävention empfiehlt.
In Ihrem Buch „Johannesburg. Insel aus Zufall“ schildern Sie anschaulich, was Sie täglich tun, um sich, Ihre Familie und Ihr Eigentum zu schützen. Welchen Einfluss hat es auf Sie, ständig auf der Hut sein zu müssen?
Ich habe mich natürlich oberflächlich betrachtet längst an all die Alarmsysteme und die Wegfahrsperren gewöhnt. Man schützt sich, so gut es geht. Es klingt banal, aber jeden Abend muss ich die Gartenmöbel ins Haus räumen, weil sie sonst geklaut würden. Niemand kann in Johannesburg sein Auto einfach auf der Straße stehen lassen wie in Deutschland. Wie gesagt, daran gewöhnt man sich, aber es hat einen andauernden Effekt auf die Psyche. Es ist nicht gesund, immer hinter abgeschlossenen Türen und hohen Mauern zu leben. Und es ist auch nicht gesund, jeden Menschen, der einem auf der Straße begegnet, als eine potenzielle Gefahr wahrzunehmen.
Das klingt anstrengend und kompliziert.
Das ist es auch. Weil man nicht einfach so aus dem Haus rennen kann, um Milch zu holen. Weil man nicht in Urlaub fahren und das Haus unbeaufsichtigt lassen kann. Also muss ich jemanden einstellen, der sich um das Haus kümmert, aber kann ich dem auch vertrauen?
Sie wohnen in Kensington, dem größten Stadtteil von Johannesburg.
Wir leben dort seit 16 Jahren. Es ist ein traditionelles Mittelklasseviertel, das in den letzten Jahren durch massive Zuwanderung stark verloren hat. Kensington ist bereits seit der Stadtgründung im Jahr 1886 ein Wohnviertel. Während Downtown in die Höhe gebaut ist, stehen bei uns Einfamilienhäuser mit großen Gärten …
… die man von der Straße aus nicht sehen kann, weil sie hinter Mauern sind.
Ja. In letzter Zeit erholt sich Kensington wieder etwas: Anwohner eröffnen Pensionen – die Stadt subventioniert solche Bemühungen, weil wir zur Fußball-WM Unterkünfte brauchen und das Ellis-ParkStadion ganz in der Nähe ist.
Welches ist das größte Problem, mit dem Johannesburg zur WM 2010 zu kämpfen haben wird?
Der öffentliche Nahverkehr ist eine Katastrophe. Besser gesagt, es gibt so gut wie keinen: Johannesburg ist eine reine Autostadt. Jetzt gibt es Experimente mit Bussen, und es wird einen Zug geben, den Gautrain, der den Flughafen mit den wichtigsten Punkten im Stadtzentrum verbindet. Aber der Um- und Ausbau der Stadien Ellis Park im Osten und Soccer City im Westen läuft nach Plan, das findet sogar die Fifa. Südafrika wird das hinkriegen. Wir haben schließlich schon einige große Turniere ausgerichtet – wie die Rugby- Weltmeisterschaft 1995.
Was erhoffen Sie sich persönlich von der WM?
Eine Verbesserung der Infrastruktur. Dass ich das Auto öfter stehen lassen und mit dem Bus fahren kann. Sehen Sie, ich musste das Visum, das ich für meinen Aufenthalt in Deutschland brauchte, in Pretoria abholen. Das sind etwa 65 Kilometer. Dafür habe ich über drei Stunden gebraucht. Hunderttausende quälen sich jeden Morgen über die Autobahn dorthin und abends wieder zurück. Danach ist man fertig mit den Nerven.
Was machen Sie, wenn Sie im Stau stehen?
Ich höre Radio und denke. Manchmal komme ich so auf gute Ideen. Wenn ich so ein geniales Navigationssystem hätte wie meine deutschen Freunde hier, würde ich wahrscheinlich daran herumspielen.
Und was tun Sie, wenn jemand an Ihr Autofenster kommt und Ihnen eine Sonnenbrille verkaufen will?
Ich erwidere freundlich, aber bestimmt, dass ich schon eine habe. Auch wenn es der zehnte Verkäufer am Morgen ist. Ich sage mir immer: Wenn dieser Mann auch nur irgendeine andere Chance im Leben hätte, müsste er jetzt nicht auf der Verkehrsinsel stehen.
Verstehen Sie, dass ein Fünftel der Südafrikaner über das Auswandern nachdenkt?
Ja, natürlich. Aus meinem Freundeskreis sind ja auch viele nach England ausgewandert – vor allem Familien mit kleinen Kindern, die sich mehr Sicherheit wünschen. Wenn man Glück hat und einen Opa, der in England geboren wurde, bekommt man relativ leicht ein Visum.
Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt wegzugehen?
Nicht ernsthaft. Johannesburg ist trotz allem immer noch eine interessante Stadt, auch wenn es unfassbar schwierig ist, dort zu leben. Es sind die Menschen, die mich hierhalten. Nur ein kleiner Prozentsatz der Gesellschaft ist kriminell, aber dieser Teil schafft es, den Rest in Geiselhaft zu nehmen. Alle, mit denen ich mich tagtäglich umgebe, sind definitiv liebenswürdige Zeitgenossen.
Worin liegen die Ursachen für die erschreckende Kriminalität?
Das grundsätzliche Problem ist die Ungleichheit, und die ist natürlich immer noch eine Folge der Apartheid. Das soll die Gewalt keinesfalls rechtfertigen; die ist in jedem Fall unentschuldbar. Armut und Arbeitslosigkeit führen dazu, dass die Betroffenen das eigene Leben nicht wertschätzen – und als Folge davon das Leben der anderen eben auch nicht.
Ihr Buch ist eine Collage aus vielen Versatzstücken, beispielsweise aus Beobachtungen, die Sie während Ihrer Stadtspaziergänge gemacht haben. Spazieren gehen in Johannesburg, wie geht das?
Nun, das ist schon ziemlich ungewöhnlich. Heutzutage bummeln die Menschen ja eher durch die großen Einkaufszentren in Sandton oder Rosebank statt im öffentlichen Raum. Die Malls sind gut bewacht – und gaukeln uns absurderweise mit italienischen Piazzas und Bordstein-Cafés vor, dass wir an der frischen Luft sind. Der Innenraum einer Mall hat überhaupt keinen Bezug zur Stadt mehr. Man fährt in die Tiefgarage, nimmt den Aufzug und landet direkt bei Woolworths in der Feinkostabteilung. Das kommt mir alles sehr künstlich vor.
Solche Einkaufszentren gibt es doch fast überall auf der Welt.
Ja, aber in Johannesburg ist der Kontrast zwischen Innen- und Außenraum besonders groß. Dabei könnte man zum Beispiel ohne weiteres nachts durch Melville spazieren, die 7th Street entlang, die von lauter kleinen Bars und Restaurants gesäumt wird.
Melville ist ein relativ harmloses Amüsierviertel. Sie laufen aber ausgerechnet durch Hillbrow, das für Weiße als absolute No-go-Gegend gilt. Warum?
Na ja. Ich finde, man muss sich selbst in einen Zustand versetzen, in dem man für andere empfänglich und erreichbar bleibt. Konkret bedeutet das: Ich will rausgehen, das Haus verlassen, mich angreifbar machen. Viele Menschen schotten sich lieber ab und würden sich erst gar nicht freiwillig in diese Lage bringen. Sie erfahren nur aus der Zeitung, was in Vierteln wie Hillbrow geschieht. Ich kenne Leute, die seit zehn Jahren in Johannesburg leben und noch nie dort waren.
Weil sie sich nicht unnötig in Gefahr bringen wollen?
Ich will damit nicht sagen, dass man sich leichten Herzens Gefahren aussetzen soll. Aber ein bisschen mehr Offenheit würde ich mir schon wünschen.
Worauf achten Sie besonders, wenn Sie in Hillbrow spazieren gehen?
Das Wichtigste ist, ein Ziel zu haben. Es gibt ein paar Galerien dort, wo ich gerne hingehe. Ich weiß nicht, ich bin einfach vorsichtig und würde dort nicht unbedingt mit einer Kamera um den Hals oder mit viel Geld in der Tasche hingehen. Ich lasse mich einfach nicht davon abhalten, ein Leben zu leben. Bis jetzt hatte ich noch keinerlei Probleme. Aber ich kenne Leute, die welche hatten: Freunde von mir wurden mit Messern bedroht, und ihre Kameras wurden geklaut. In Südafrika kennt jeder jemanden, dem so etwas passiert ist.
Sehen Sie sich als Schriftsteller in der Tradition der großen Flaneure?
Ich bin ja kein „Gentleman of Pleasure“, der mit hinter dem Rücken zusammengelegten Händen herumflaniert. Das Blasierte fehlt mir auch, hoffe ich. Ich finde, der Spaziergang passt ganz gut zu meinem Temperament als Schriftsteller. Ich habe mich schon immer mehr für die Kleinteiligkeiten interessiert, und die sieht man besser, wenn man geht. Ich habe eben keine große epische Vision.
Am Ende Ihres Buches findet der Leser verschiedene Vorschläge, in welcher Reihenfolge er die Episoden alternativ neu lesen könnte.
Ja, denn so ergibt sich immer wieder ein anderes Bild der Stadt. Es ist eine Stadt mit mehr Identitäten, als man zählen kann. Man findet nur schwerlich einen Punkt, an dem man ansetzen kann. Nehmen Sie den Anflug auf den Flughafen O. R. Tambo: Auf der einen Seite sehen Sie viel Grün und das Glitzern der Swimmingpools, auf der anderen Seite die riesigen Flächen der „Informal Settlements“ mit ihren Wellblechhütten.
Welches Gesicht Johannesburgs zeigen Sie Ihren Freunden aus dem Ausland?
Da suche ich dann doch den Überblick: Ich fahre mit ihnen nach Downtown zum Carlton Center, dem höchsten Gebäude Afrikas, und wir nehmen den Aufzug bis zur Aussichtsplattform in 200 Meter Höhe. Dann umkreisen wir die Stadt mit dem Auto und werfen einen Blick auf die Abraumhalden.
Wie bitte, auf die Abraumhalden?
Natürlich, denn die erinnern daran, warum es Johannesburg überhaupt gibt: wegen des Goldrauschs. Die Halden werden jetzt mit neu entwickelten Maschinen noch mal durchgesiebt, um ganz sicher zu sein, dass selbst das letzte Fünkchen Goldstaub sichergestellt werden kann. Aber die Denkmalschutzbehörde ist dagegen, zu Recht, wie ich finde.
Herr Vladislavic, was unternehmen Sie eigentlich, wenn Sie Ferien von der Stadt brauchen?
Ich fahre an die Küste bei Kapstadt. Und ich gehe für mein Leben gern auf Safari. Wirklich! Ich behaupte mal, dass die meisten Südafrikaner für die großen Nationalparks wie den Krüger Park nur noch ein müdes Lächeln übrig haben, weil sie ihn für vollkommen selbstverständlich erachten. Dabei ist es einfach wunderschön dort. Es muss ja auch Vorteile haben, in Afrika zu leben.
Ivan Vladislavic, geboren 1957 in Pretoria, studierte afrikanische und englische Literatur an der University of the Witwatersrand und lebt seit Anfang der 70er Jahre in Johannesburg. Seit 1989 arbeitet er als freier Lektor und Schriftsteller. Er gab Werke zu zeitgenössischer Kunst und Architektur heraus, schrieb Texte für Bücher der Fotografen David Goldblatt und Roger Palmer und verfasste Essays, Romane und Erzählungen. Sein Buch „Portrait with Keys. Joburg & whatwhat“, für das er den Sunday Times Alan Paton Award erhielt, erscheint jetzt auf Deutsch: „Johannesburg. Insel aus Zufall“ (A 1 Verlag). Nach seiner Zeit als Stipendiat in Rantum auf Sylt kehrt Ivan Vladislavic kommende Woche nach Südafrika zurück.
Interview: Esther Kogelboom
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